Dagegen! Portrait einer politischen Haltung
Michael Thurm | 25. Mai 2011 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 72, Fazitthema
Der allseits bejammerte Stillstand hat eine simple Ursache: die Demokratie. Weil wir in einem System leben, in dem möglichst viele gesellschaftliche Gruppen in den politischen Prozess eingebunden werden sollen – Länder und Gemeinden, Parteien, souveränes Volk, kritische Medien, engagierte Sozialpartner und Bünde, sachkundige NGOs/Interessenvertreter/Lobbyisten – weil alle eine Berechtigung haben, am demokratischen Prozess teilzunehmen, gibt es immer jemanden, der sich oder seine Klientel benachteiligt sieht und dann lautstark protestiert. Dagegen!
Dabei wird gern vergessen, dass der Dissens wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie ist. Nur durch ihn ist der „Wettbewerb der Ideen möglich“; erst im Dissens, als Nebeneinander verschiedener Meinungen, zeigen sich die verschiedenen Positionen und Interessen unserer Gesellschaft.
Aber aus dem Ideal von Partizipation und Ideenwettbewerb ist längst eine Realität geworden, in der die Regierungen versuchen, ein Maximum an Reformeifer vorzugaukeln, und dazu ein begleitendes Bündel vertrauensbildender Maßnahmen vollstrecken. Auf der anderen Seite steht eine inner- und außerparlamentarischen Opposition, die nur noch ihr eigenes Bestes will; im Zweifel lieber denn Status quo erhalten, als ein vermeintlich zukünftiges Risiko eingehen. Oder, wenn es der Glaubwürdigkeit der eigenen Person besser entspricht, dann ist man dagegen, weil ein unterbreiteter Vorschlag „nicht ausreichend“ ist. Gut, das mag jetzt in dieser Verallgemeinerung etwas zynisch klingen, aber wenn wir an die Wortmeldungen der Gewerkschaften (zum Bildungsreförmchen), der FPÖ (zu Bettler- und Budgetdebatten) und der Grünen (zu den tapsenden Schritten in Richtung erneuerbare Energien) denken, dann wissen wir ungefähr, was mit „Dagegen-Kultur“ gemeint ist.
Doch wie unterscheidet sich der Protest eines Fritz Neugebauer gegenüber den Demonstranten im Steirischen Landtag? Und wie unterscheiden sie sich von den gelegentlichen Abweichlern innerhalb der Regierungsfraktionen?
Ich bin dagegen, denn ihr seid dafür.
Ich bin dagegen, ich bin nicht so wie ihr.
Ich bin dagegen, egal, worum es geht.
Ich bin dagegen, weil ihr nichts davon versteht.
Ich bin dagegen, ich sage es noch einmal:
Ich bin dagegen, warum ist doch egal.
(Rebell, Die Ärzte, 1998)
1. Dagegen aus Prinzip – Die Fundamentalopposition.
Ihre Anhänger sind die Querulanten in jeder Abstimmung – gleichzeitig ist es die beliebteste Form der Opposition – nicht nur in der Politik –, denn sie ist in einer Gesellschaft, die sich nach klaren Positionen sehnt, am einfachsten zu vermitteln. Als Beispiel dafür müssen oft die Grünen herhalten, die sich gegen Atomkraft, gegen neue Stromtrassen von Nord nach Süd und gegen Großprojekte wie Stuttgart21 oder das Murkraftwerk positionierten; ebenso ein Beispiel sind Rechtspopulisten in allen Ländern, die gegen Ausländer, Bettler und „Islamisierung“ sind. Die beiden so unterschiedlichen Lager haben es geschafft, ihre Botschaften auf jenes Mindestmaß an Glaubwürdigkeit und Deutlichkeit zu reduzieren, das für ihre Wähler nötig ist. Dem gegenüber sehen die altgedienten Volksparteien fast verwirrt aus, die schon allein durch die Breite ihrer Organisation eine differenzierte Meinung haben und durch ihre häufige Regierungsbeteiligung auch gar nicht in der Lage sind, glaubhafte Dagegen-Parolen zu entwickeln. Deshalb geht unter ihnen ein neuer Trend um: gegen das Dagegen-Sein.
Die deutsche CDU führte im letzten Jahr eine groß angelegte Kampagne gegen die „Dagegen-Partei“: die Grünen. Es war der Versuch, deren Verweigerung und Protest gegen den Großbahnhof Stuttgart21 als prinzipielle Verhinderungspolitik, und damit als inhaltlich nicht begründeten Protest, zu diffamieren. Der Erfolg in Deutschland blieb aus – den Wählern war zuletzt egal, warum die Grünen dagegen sind. Die Stimmung gegen Bahnhof und Atomkraft überlagerte das Partei-Hickhack mit Leichtigkeit und so stellen die Grünen den nächsten Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg. In der Steiermark tun sich die beiden Kleinparteien KPÖ und Grüne da wesentlich schwerer. Weil sie allein durch den Protest gegen Regierungsmaßnahmen (Sparpaket, Murkraftwerk, Bettelverbot, …) auffallen können, erliegen sie immer öfter der Versuchung, „dagegen“ zu sein. Aktuell legt zum Beispiel die KPÖ eine Petition vor: „Keine Verschlechterung der Mindestsicherung“. Genau das wird von der KPÖ erwartet und man mag der engagierten Claudia Klimt-Weithaler diese Position auch abnehmen. Aber die Scharmützel zwischen Lechner-Sonnek/Klimt-Weithaler einerseits und Drexler/Kröpfl anderseits enden inzwischen auch immer öfter damit, dass KPÖ und Grüne als „A-priori-Protestler“ abgewatscht werden. Vor allem dann, wenn es Rot-Schwarz an inhaltlichen Argumenten fehlt. Oder am Mut, diese Argumente auszusprechen.
Denn darin besteht das dialektische Probleme der Fundamentalopposition: Wenn den Kleinparteien kein Spielraum für Gestaltung gelassen wird, und sei es dadurch, dass Kritik angenommen wird, dann gilt, in den Worten des alten SPD-Genossen Franz Müntefering: „Opposition ist Mist.“ Denn es bleibt ihr nichts anderes übrig, als immer dagegen zu sein. Sobald die Opposition für etwas ist, interessiert das niemanden. Gleichzeitig opfert eine Regierung jede eventuelle argumentative Überlegenheit zu Gunsten ihre rhetorische Überlegenheit. Übrig, und das ist entscheidend, bleibt ein Bürger, der den Glauben an das ernste Bemühen der Politik verliert und zum Wutbürger mutiert. (siehe Seite 12)
Doch dieser Artikel soll sich nicht gänzlich im Pessimismus verlieren und jenen Politikberatern in die Hände spielen, bei denen jedesmal, wenn das Wort „Politik- oder Politikerverdrossenheit“ fällt, die Kassen klingeln. Diese Pappnasen von Spindoktoren sind nämlich schuld an diesem unglaubwürdigen Positionierungs- und Reformwahn, der alles kennt, nur nicht jene ruhige Minute, in der über Entscheidungen nachgedacht, und eine Entwicklung beobachtet wird.
Wie also kann man noch dagegen sein?
Denn diese Haltung muss erlaubt sein, wenn wir eine diskursive Politik wollen – also die Auseinandersetzung von Argumenten und Positionen, ja in einer besseren Welt sogar von politischen Inhalten. Der französische Philosoph Jacques Rancière stellt in seinem kürzlich auf Deutsch veröffentlichten Büchlein „10 Thesen zur Politik“ fest: „Das Wesentliche der Politik ist der Dissens.“
Und dieser Dissens sollte aus den bereits erwähnten Gründen bewahrt werden, ohne dabei die ausgelutschte Rollenverteilung unseres Parlamentarismus zu bemühen. Ein bemerkenswert positives Beispiel zeigte uns Mitte April der Deutsche Bundestag: In einer Debatte über die PID (Präimplantationsdiagnostik), also darüber, ob die Embryonen bei der künstlichen Befruchtung auf (Erb-)Krankheiten untersucht werden dürfen, wurde uns das längst verloren geglaubte Ideal der Politik vor Augen geführt. Weil die Frage nach dem Leben der Ungeborenen zu ernst ist, um in der üblichen Weise verhandelt zu werden, mussten die Klubchefs den Klubzwang aufgeben – und siehe, die Debatte war sachlich, fair und schien einen viel glaubwürdigeren Prozess der Entscheidungsfindung darzustellen. Alles, was dafür geopfert werden musste, war die Möglichkeit, sich mit einer Parteimeinung zu positionieren. Denn der Dissens zog sich durch alle Parteien – und er wurde von allen respektiert.
Ob das auf Dauer gut gehen kann, solange die Parlamentarier über eine Partei ins Parlament gewählt werden und diese Partei sich irgendwie so zu positionieren hat, dass sie gewählt werden kann, ist fraglich. Aber der Fehler liegt doch wohl eher im Wahlsystem als in der Unabhängigkeit der Mandatare. Eine solche Form der Auseinandersetzung verlangt natürlich Haltung. Etwas, das viele Kommentatoren den österreichischen Politikern gern absprechen. Aber gerade die Haltung ist es, die einem „Dagegen!“ zur Glaubwürdigkeit verhilft.
Zieh deinen Weg
Folg deinen eigenen Regeln
Zieh deinen Weg
Keine Angst vor Richtig und Falsch
Wer die Wahrheit kennt
Ist niemals überlegen
Vertritt deinen Punkt
Aber zeug immer von Respekt
Verrat dich nicht
Beharrlichkeit ist eine Tugend
Verstell dich nicht
Verfolge still dein Ziel
(Zieh deinen Weg, Herbert Grönemeyer, 2007)
2. Widerstand als Haltung
Es ist gleichzeitig jene Form des Protests, die am schwersten vom Protest aus Prinzip zu unterscheiden ist, denn auch Haltung beruht auf Prinzipien. So hat beim Grazer Altbürgermeister Alfred Stingl (SPÖ) niemand Zweifel an dessen aufrechter Haltung gegen das Bettelverbot. Niemand wird ihm politischen Eifer unterstellen. Aber „verdächtigt“ werden, zu Recht oder zu Unrecht, jene jugendlichen Demonstranten, die sich Stingls Protest gegen das Bettelverbot anschließen. Wer kann beantworten, ob sie ebenso sehr durch Solidarität mit den Bettlern motiviert sind, oder nicht doch eher aus Lust am Happening.
Denn es ist eine Frage der Motivation, ob jemand das „Dagegen-Sein“ zur Haltung macht oder aus einer inhaltlichen Überzeugung heraus dagegen ist. Deutlich wurde das während der Betteldebatte auch innerhalb des Landtages: Dem Sozialdemokraten Max Lercher wurde seine Gegenstimme zum Bettelverbot abgenommen – und von den meisten Seiten honoriert. Die Anerkennung gilt umso mehr, weil Lercher zuvor von Lambert Schönleitner (Grüne) und dem ÖH-Vorsitzenden Cengiz Kulac derbe angegriffen wurde. Während sich die Grünen innerhalb ihrer Fraktion der Anerkennung für das Dagegen-Sein sicher waren, musste Lercher seine Haltung gegen das Bettelverbot aufrechterhalten, auch wenn er damit dem „Wunsch“ des politischen Gegners entsprach.
Haltung ist im politischen Alltag wohl die schwierigste Form des Widerspruchs, vor allem wenn man im offenen Parlament abstimmt, anstatt sich aus dem Saal zu verabschieden. Das Problem dahinter ist bekannt und verbirgt sich in der Volksweisheit: Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen, nur seine Feinde. Wenn Lercher als einziger aus der „Reformpartnerschaft“ gegen das Bettelverbot stimmt, bezieht er Stellung gegen seine eigene Partei und findet sich plötzlich mit FPÖ, KPÖ und Grünen gemeinsam auf der Dagegen-Seite. Aus Haltung gegen etwas sein, das heißt vor allem, es unbeeindruckt von der Meinung anderer und politischen Mehrheiten zu tun. Man kann in seiner Haltung auch irren, aber sie bleibt die bessere Alternative zum Opportunismus – denn den gibt es sowohl im Dafür-Sein als auch im Dagegen-Sein.
Es ist doch klar, dass jeder andre schlecht ist,
wenn unsre Sache einzig richtig und gerecht ist.
(Waffenhändler-Tango, Konstantin Wecker, 2002)
3. Die Anti-Opportunisten – immer mit dem Strom. Egal in welche Richtung.
Sie sind nicht gegen den Opportunismus, sie sind aus Opportunismus dagegen. Das ist meist ziemlich einfach. Vor allem dann, wenn man sich in einem kollektiven Dagegen-Sein der sozialen Anerkennung versichert: genmanipulierte Pflanzen, Tierversuche, hohe Steuern, Selektion im Bildungssystem und – auch hier wieder – Atomkraft. Elisabeth Noelle-Neumann hat dieses Phänomen als „Schweigespirale“ bezeichnet: die Mehrheit, die sich immer lauter äußert, weil sie sich ihrer Mehrheit sicher ist, während die vermeintliche Minderheit schweigsam wird. Oder haben Sie schon jemanden für das Sparpaket protestieren gesehen?
Man muss als Anti-Opportunist nicht allzu viel nachdenken, um eine gesellschaftsfähige Meinung zu haben, im Gegenteil, je mehr man nachdenkt, um so schwieriger wird es, die eigene Meinung ohne Einschränkung aufrechtzuerhalten. Denn die Welt ist komplexer, als wir sie manchmal gern hätten: Tierversuche werden eben nicht nur für überflüssige Kosmetikprodukte gebraucht, sondern leisten einen wesentlichen Beitrag für die Entwicklung unserer Medikamente. Unsere Supermarktpreise sind auch nur durch Massenproduktion, Züchtungen und genetische Veränderungen auf diesem Niveau zu halten. Und ein besseres Schulsystem bedeutet eben, dass sich etwas verändert, ohne dass vorher mit 100%iger Sicherheit gesagt werden kann, dass von morgen an alles besser ist. Nein, die Welt ist komplex. Und weil diese Welt so komplex ist, wenden sich immer mehr Menschen dieser Form des Dagegen-Seins zu.
Und der Dichter, der poetisch
protestiert in seinem Lied,
bringt den Herrschenden ein Ständchen
und erhöht ihren (und seinen) Profit.
Und genau das ist nicht richtig,
und genau das ist nicht wichtig.
Protestieren ist bloß Krampf im Klassenkampf.
(Zwischentöne sind bloß Krampf, Franz J. Degenhart, 1968)
4. In dubio: Anti!
Dazu gehören sowohl die Lehrergewerkschafter, die jedem Versuch der immer optimistischen Bildungsministerin Schmied mit Misstrauen begegnen. Ebenso wie die Gymnasiums-Bewahrer, die sich zwar über jede Pisa-Studie beklagen, aber nicht erkennen wollen, dass ein höherer Bildungsstandard, und Standard heißt hier Durchschnitt, nur durch ein egalitäres System, sprich: eine Gesamtschule, erreicht werden kann. Wenig wird aus der Pisa-Studie so deutlich, wie dieser simple Zusammenhang.
Zu dieser Gruppe gehören aber ebenso die zuletzt in der Sonntags-Kleinen-Zeitung G7 geouteten Gegner des Murkraftwerks, noch immer sind es 22 %. Und weil inzwischen 71 % dafür sind, schreibt G7 völlig ironiefrei vom „Super-Gau für die Gegner“ und einem „Atomschub für die Staustufe“. Aber wie würde die Umfrage im investigativen Sonntagsblatt aussehen, wenn morgen der Staudamm in Sichuan (China) bricht? Und übermorgen ein Windrad auf einen vorbeilaufenden Jogger fällt und ihn erschlägt? Also: In dubio: Anti! Im Zweifel: Dagegen!
Gut, dieses Herangehen mag zynisch erscheinen, aber das noch viel investigativere Profil hatte vor einigen Wochen tatsächlich eine Auflistung (*) der Todesfälle je produziertem Gigawatt veröffentlicht. Erkenntnis: Bei einem „maximalen Unfall“ sind die Todesfälle von Wasserkraft und Kernkraft etwa gleich hoch, bei dem Vergleich von Gigawatt/Jahr schneiden die Erneuerbaren Energien (Fotovoltaik, Wind, Geothermie) erwartungsgemäß am besten ab. Auf Platz zwei liegt, welch Überraschung, die Kernkraft! Auf den Plätzen folgen Wasserkraft, Erdgas, Erdöl und zuletzt Kohle. Die gehört mit über 16% Anteil an der Stromerzeugung noch immer zu den wichtigsten Energiequellen in der EU – und verlangt ein (!) Menschenleben pro Gigawatt. So viel zum Kapitel emotionale Politik.
Ja, der Mensch ist ein Eingriff in die Natur, aber wenn wir uns ein vernünftiges Forschungs- und Universitätswesen leisten (würden), dann könnte es uns zumindest gelingen, unsere Eingriffe effizient und verträglich durchzuführen. Ganz egal ob dann Arzneimitteltest ohne Lebend-Versuche, Lösungen für die offenen Fragen der Atomenergie oder neue Möglichkeiten zur Speicherung und Effizienzsteigerung von regenerativen Energien gefunden werden.
Trotz aller Hoffnungen in den Fortschritt ist es natürlich auch in einem Land, in dem die Unschuldsvermutung (In dubio pro reo) zum Witz verkommen ist, noch legitim, aus Zweifel gegen etwas zu sein. Vor allem, wenn man meint, eine bessere Alternative zu kennen, oder man die Folgen eines Dafür-Seins (Atomkraft) nicht abschätzen oder gar verantworten will:
Im Zweifel für Ziellosigkeit
Ihr Menschen, hört mich rufen!
Im Zweifel für Zerwürfnisse
Und für die Zwischenstufen
Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
(Im Zweifel für den Zweifel, Tocotronic, 2010)
5. Das dialektische Dagegen
Es ist die Rolle der Journalisten, Intellektuellen und Künstler, bzw. sollte es ihre Rolle sein, die Dinge auch einmal andersherum zu denken. Die „Was-wäre-wenn-Opposition“ als Kontrolle einer Politik der Ideenlosigkeit mit latenter Neigung zum Schnellschuss.
Kunst und Kritik, das konnte man so lange in einem Atemzug nennen, bis die Kritik zum Mainstream verkommen ist und die Kunst sich nur noch über die Kritik lustig machen konnte. Da landet der deutsche Chef-Zyniker Harald Schmidt inzwischen Lacher, weil er sich als Fan der Deutschen Bahn outet, da marschieren Demonstranten auf der Straße, bei denen völlig egal ist, ob ihre Slogans „Wir sind dein Volk“ und „Raubkopieren ist kein Verbrechen“ für oder gegen den „Plagiator Guttenberg“ gerichtet sind, oder gegen diejenigen, die ihn trotzdem als Minister halten wollten. Hohn ist das neue Dagegen, weil alle dagegen sind. Nur wenigen Intellektuellen gelingt es noch, eine begründete Haltung zu entwickeln, die dem traditionellen Bild von „kritischer Kunst“ gerecht wird, ohne im Mainstream zu landen. Beeindruckendes Beispiel dafür waren zuletzt die von Elfriede Jelinek in Köln aufgeführten „Kontrakte des Kaufmanns“, in denen Gier und Neid als Ursachen der Finanzkrise entlarvt wurden.
Und nicht zuletzt noch die Politiker und -innen die entscheiden was geschieht
verhalten sich in letzter Zeit zunehmend seltsam wie man sieht
sie ziehen sich gerne mal zurück, verwenden oft das Wort privat
lassen den Markt die Arbeit tun, zerstören Stück für Stück den Staat
und auch die Armen und die Kranken soll’n sich bloß nicht viel erwarten,
sie soll’n nur selber auf sich schau’n, zu Gunsten guter Wirtschaftsdaten
(Globalisierungslied, Christoph und Lollo, 2005)
6. Wenn dagegen sein nicht mehr hilft – der Wutbürger.
Doch es gibt eine Gruppe von Protestierenden, die laut der sinkenden Wahlbeteiligung kontinuierlich wächst: die Entfremdeten (zu ihnen gehören Künstler in gewissen Sinne ja auch); aber unter „entfremdet“ verstehen wir hier jene große Gruppe, die vom Misstrauen gegen das politische System geprägt ist und ihm keinerlei Lösungskompetenz mehr zuschreibt. Null. Nada. Nichts.
Es sind diejenigen, die zu viele politische Neustarts und die folgende Fortsetzung des Immer-Gleichen erlebt haben, zu viele Reformen und ihre Wirkungslosigkeit, zu viele Debatten, Erklärungen und Regierungswechsel. Aber im Gegensatz zu Künstlern und Intellektuellen versuchen sie, die Komplexität der Welt, und damit vor allem der Welt, die sich im globalisierten und medial angeheizten Tempo um sie herum dreht, mit einfachen Antworten zu reduzieren.
Sie fordern dann wieder die Todesstrafe für Kinderschänder, weil sie jedes Vertrauen in das demokratische System und seine Apparate verloren haben. Sie fordern Einwanderungsstopp oder ab einer gewissen Stufe der politischen Enthemmung auch mal „Ausländer raus“, ohne zu bedenken, dass sich unser demografisches Problem in Österreich wohl nur durch Einwanderung lösen lässt. (Der neue ÖVP-Chef Spindelegger hatte das vor einiger Zeit festgestellt und Entrüstung geerntet.)
Es sind die „Wutbürger“, die Sarrazin-Fanatiker, die Zurück-zum-Schilling-Träumer. Im besten Falle noch Protest-Wähler, die ihr Kreuz bei der FPÖ machen. Dirk Kurbjuweit hat diesen „Typus“ im SPIEGEL ganz wunderbar als peinliches Pendant zum klassischen Bürger beschrieben:
„Contenance im Angesicht von Schwierigkeiten, das zeichnet ein wohlverstandenes Bürgertum aus. Eifer gegen andere Menschen, Rassen, Volksgruppen, Religionen ist unziemliches Verhalten, ist unanständig. […] Aber der Wutbürger sieht das nicht mehr. Er fühlt sich ausgebeutet, ausgenutzt, bedroht. Ihn ärgert das andere, das Neue, Er will, dass alles so bleibt, wie es war.“ Und so begeistern sich die Wütenden dann auch für die entsprechenden Gegenkandidaten zum Establishment, einen zu Guttenberg, einen Strache, eine Le Pen.
Aber bis jetzt hat niemand einen Ausweg, wie diesen Enttäuschten konstruktiv begegnet werden kann, denn „konstruktiv“ ist auch nur noch ein Modewort des Polit-Jargons. Was bleibt also zu tun?Bedingungsloses Dafür-Sein? Begeisterung und noch mehr Reformeifer? Bitte nicht! Vielleicht sind es aber die bürgerlichen Tugenden, die Kurbjuweit bereits angesprochen hat, und die hin und wieder noch aufblitzen. Meist dann, wenn Politiker ihren Rücktritt bekannt geben oder lange nach dem Ausscheiden noch einmal zu Interviews gebeten werden. Erhard Busek und Caspar Einem sind da beruhigende Beispiele. Oder eben Max Lercher, dem die Parteiräson dann doch nicht wichtiger war, als ein Mindestmaß an Haltung. Und vielleicht bringt auch der Steirische Landtag irgendwann den Mut zu einer tatsächlich offenen Debatte auf. Es würde dem Ansehen der Politik nicht schaden, wenn wieder parlamentarische Debatten und nicht Regierungsbeschlüsse und Ausschüsse hinter verschlossener Tür über die Zukunft entscheiden.
Oder, um angemessen pessimistisch zu schließen, man macht es wie Kurt Flecker: Vor nicht allzu langer Zeit war er noch politisches Schwergewicht in der SPÖ, demonstrierte neben Alfred Stingl gegen das Bettelverbot. Letzte Woche aber ließ er sich im Frühstücksinterview mit dem Grazer dann genüsslich darüber aus, wie er mit seinem Motorrad auch dieses Jahr wieder Richtung Griechenland düsen wird, wo er dann im Übrigen ein Haus gemietet hat, im dem er von Mai bis Oktober residiert. Das ist doch herrlich. Ganz wunderbar bürgerlich. Und ein bisschen entfremdet.
Titelgeschichte Fazit 72 (Mai 2011)
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