Europa auf dem Scheideweg
Christian Klepej | 28. November 2011 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 77
Michael Fleischhacker hat erst am vorletzten Wochenende in einem gewohnt lesenswerten Leitartikel davon geschrieben, dass weder ein Mehr noch ein Weniger an Europa »das Ende der Welt« bedeuten würde. Verkürzt meint er mit »mehr Europa« eine echte Wandlung der Union hin zum Bundesstaat – eine Entwicklung, die alle Regierungspolitiker der EU rund um die Jahrhundertwende sich und ihren jeweiligen Nationen nicht zugetraut haben – und mit »weniger« das Ende des Euros in seiner heutigen Form. (Nicht aber, zumindest nicht zwingend, ein Ende der Europäischen Union.)
Als noch immer glühender Europäer bin nun der Auffassung, dass ein »Zurück an den Start« dringend angebracht wäre. Die Hilflosigkeit, mit der etwa Binnenmarktkommissar Michel Barnier dem Ratingproblem der europäischen Staaten begegnet, ist himmelschreiend. In einem Vorabentwurf eines Ratingagenturen-Gesetzes schlägt er laut Financial Times Deutschland allen Ernstes vor, Veröffentlichungen von Einschätzungen über die Zahlungsfähigkeit »vorübergehend zu untersagen«. Zu Recht fragt sich da etwa das »Zentralorgan des Neoliberalismus« (Ortneronline.at), »warum nicht auch kritische Zeitungsberichte über den Schuldenstand der EU gleich mitverbieten«.
Und die Tatsache, dass der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble nun bereits den Betrag von 1 Billion Euro in Verbindung mit dem Euroschutzschirm (berichtet ebenfalls die Financial Times Deutschland; durch einen finanzmathematischen Hebelmechanismus) in den Mund nimmt, zeigt deutlich auf, dass es offenbar nur mehr darum geht, den Karren wenigstens erst übermorgen und nicht schon morgen an die Wand fahren zu lassen.
Will Europa, dieses unglaublich erfolgreiche Friedensprojekt und bis vor wenigen Jahren auch wirtschaftlich erfolgreiche Modell wirklich unbeschadet – will heißen: ohne kriegerische oder zumindest kriegsähnliche Zustände (die Vorboten hat es vor einigen Monaten in London und vorvergangene Woche bei »Aktionstagen gegen das diffuse Böse« europaweit bereits gegeben) – durch die nächsten Jahre kommen, muss die gesamte demokratische Struktur – von unten nach oben – neu ausgelegt werden.
Steht dann am Ende ein Staat Europa auf den Landkarten, mit europäischen Staatsbürgern und einer europäischen Regierung, dann soll mir und uns allen das recht sein. Gibt es keinen solchen Prozess, ist mir am Ende ein Schilling in der Tasche lieber als noch so viele Billionen Euro auf wertlosem Papier.
Editorial, Fazit 77 (November 2011)
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