Aufstehen als Lebensprinzip!
Redaktion | 30. Juli 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 105
Ein Essay von Gerhard Scheucher. Für ein Kind ist es selbstverständlich, immer wieder einen neuen Anlauf zu wagen, um sein Ziel zu erreichen. In späteren Jahren werden wir durch viele Einflüsse verformt: Die Gleichförmigkeit steht im Mittelpunkt.
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Gerhard Scheucher MBA, geboren 1966, ist seit Mitte der Neunzigerjahre als Strategieberater tätig. Zu seinen Klienten zählen Unternehmen im In- und Ausland. In Sachbüchern und Fachbeiträgen, als Vortragender und als Blogger nähert sich Scheucher aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen und beleuchtet die Lebenswelt des Menschen im 21. Jahrhundert aus mitunter kontroversiellen Blickwinkeln. gerhardscheucher.com
Beobachten Sie Kleinkinder und deren Entwicklung bis zum Zeitpunkt, wo diese kleinen Menschen erstmals und ohne fremde Hilfe selbstständig gehen können. Der Weg dorthin ist ein einziger Prozess des Scheiterns. Für ein Kind ist es selbstverständlich, immer wieder einen neuen Anlauf zu wagen, um sein Ziel zu erreichen. In späteren Jahren werden wir durch viele Einflüsse verformt: Die Gleichförmigkeit steht im Mittelpunkt – nur nicht auffallen, nur nichts riskieren und somit keine Fehler machen! Das Gegenteil davon wäre aber richtig, meint Gerhard Scheucher, der Autor dieses Beitrags.
1. Leben kann man nur vorwärts
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard formulierte einstmals: »Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben kann man es nur vorwärts.« Wenn ich diesem Zitat zustimme, dann muss die Gesellschaft den Menschen zugestehen, eigene Stärken zu entfalten und sich weiterzuentwickeln. Zu diesem Prozess gehört es auch, Fehler zu machen. Ich bin heute kurz vor der ersten Halbzeit meines Lebens und treffe trotz meines jungen Alters immer wieder auf Menschen, die mir erzählen, was sie schon alles gerne in ihrem Leben getan hätten. Die Betonung all dieser Gespräche liegt darin, dass immer von der Vergangenheit gesprochen wird, von unrealisierten Ideen, von nicht verwirklichten Träumen. Ich wage zu behaupten, dass viele Menschen deshalb so unzufrieden sind, weil sie irgendwann in einer Lebensphase angelangt sind, in der sie nur mehr darüber sprechen, was es alles an versäumten Hoffnungen, Gelegenheiten und Chancen gegeben hat. Einer der Hauptgründe, Ziele nicht zu erreichen, ist die Angst davor zu scheitern. In der Gesellschaft, im Freundeskreis, in der Familie bedeutet Scheitern, ein Stück weit an Anerkennung zu verlieren. Nachdem diese Form der Wertschätzung als »soziales Bindemittel« verstanden werden kann, damit Beziehungen funktionieren, ist öfter mal das Täuschen und Tarnen sowie Kaschieren von Fehlern angesagt. Doch wie wollen sich Menschen, wie möchte sich eine Gesellschaft weiterentwickeln, wenn der Umgang mit Niederlagen, mit Fehlern nicht geübt wird?
2. Schon mal um die Ecke gedacht?
Stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie sind in einem Zoo, stehen vor einem Affengehege und beobachten unsere Vorfahren. Vor den Affen liegt ganz zufällig eine Röhre auf der Wiese. Die Röhre ist gerade, nicht besonders lang und auch nicht verstopft. Trotzdem sehen die beiden Schimpansen einander nicht. Warum? Sie haben jetzt folgende Antwortmöglichkeiten: Die beiden Affen schauen nicht gleichzeitig durch die Röhre, oder es ist dunkel und die Tiere können einander deshalb nicht sehen. Und als letzte Auswahlmöglichkeit: Die beiden Affen gucken von der gleichen Seite in die Röhre hinein. Welche Antwort ist richtig? Überlegen Sie mal! Haben Sie fertig gedacht? Welche der Varianten wählen Sie? Wenn Sie sich für alle drei Möglichkeiten entschieden haben, dann haben Sie gewonnen!
Der 1933 auf Malta geborene britische Mediziner und Schriftsteller Edward de Bono hat 1967 den Begriff des lateralen Denkens begründet. Im Gegensatz zum vertikalen Denken, das Schritt für Schritt und kontinuierlich verläuft, ist das laterale Denken durch einen wesentlichen Grundsatz charakterisiert: Ja/Nein-Entscheidungen werden vermieden! Abgezielt wird darauf, dass konventionelle Denkmuster in Frage gestellt werden. Auch eine auf den ersten Blick unwahrscheinliche Lösung eines Problems oder einer Aufgabe könnte sich als richtig erweisen. Laterales Denken kann meiner Erfahrung nach geübt werden und ist häufig Teil kreativer Prozesse. Es steht nicht immer eine umsetzbare Lösung im Mittelpunkt der Übung, sondern der Erkenntnisgewinn, dass es eine Reihe von Sichtweisen geben kann. Umgangssprachlich wird dieser Prozess des Denkens auch als »Querdenken« oder »um die Ecke denken« bezeichnet. Warum dieser Hinweis? Wir neigen sehr oft dazu, dass wir in ausgetrampelten Pfaden gedanklich umherirren, statt nach neuen Perspektiven zu suchen. In einer vernetzten und immer komplexer werdenden Welt bedarf es anderer Herangehensweisen, um Ziele zu erreichen oder Scheitern zu verhindern.
3. Der Tod ist definitiv nicht optional
Den eigenen Standpunkt zu hinterfragen würde uns allen öfter mal gut anstehen, finde ich, insbesondere auch dann, wenn wir über die Thematik des Scheiterns sprechen. Wenn Menschen gefestigt sind, wenn sie eine starke Persönlichkeit haben, dann werden sie die eine oder andere Aufgabe mit mehr Selbstbewusstsein und weniger Ängsten in Angriff nehmen. In der heutigen Zeit, in der nahezu alles über Leistung definiert wird, sollten wir uns meines Erachtens viel öfter die Frage stellen, wie man ein wenig mehr Freude und Ausgewogenheit im Leben erreichen kann. Nicht nur mit Spaß in der Freizeit, sondern auch mit Freude an der Arbeit – um Wellen der Belastung besser durchtauchen zu können.
Wenn ich durch die Straßen gehe und in die Gesichter der Menschen schaue, frage ich mich oft: Was ist los? Verbietet es die politische Korrektheit, dass wir alle auch die freudigen, die lustvollen Seiten an uns zeigen? Darf man in Zeiten von Umweltkatastrophen, Kriegen, Wirtschaftskrise und Erderwärmung nicht mehr fröhlich sein? Muss man sein seinen Job abarbeiten, darf seine Kollegen im Büro bestenfalls ignorieren und wartet nur darauf, dass einer von ihnen einen Fehler macht, um ihn in die Pfanne hauen zu können? Sind private Freundschaften oder Beziehungen auch nur mehr davon bestimmt, sich möglichst viel an Freizeitstress abzuverlangen, weil der Genuss des Lebens in einer leistungsorientierten Gesellschaft nicht sein darf? Darf man nie aussprechen, was man sich denkt? Muss man alles runterschlucken, bis das Magengeschwür die Oberhand bekommt? Glauben wir ernsthaft, dass es der Gesellschaft gut tut, wenn eine der wenigen Branchen mit zweistelligen Wachstumszahlen die Burnout-Industrie ist? Sollten wir nicht öfter sprichwörtlich die Sau raus lassen, um uns von all dem geistigen und seelischen Unrat zu befreien? Hand aufs Herz, realistisch betrachtet ist eine Wiederholung des Lebens nicht sehr wahrscheinlich. Und der Tod ist definitiv nicht optional. Was bleibt uns also übrig, als dem Leben ins Gesicht zu lachen, es als Geschenk zu sehen und in vollen Zügen auszukosten? Ich finde es wichtig und richtig, sich in der heutigen Zeit mit der Erfolgskrankheit »Burnout« zu beschäftigen. Viele Menschen aber, die über die vermeintlich »Schwachen« in unserer Gesellschaft lächeln, sollten meines Erachtens öfter einmal daran denken, dass auch sie von den Anforderungen des Alltags überfordert werden können. Wenn man sich ansieht, was in der heutigen Zeit alles technisch möglich ist, dann führt jeder Veränderungsschritt meist zu einem höheren Maß an Lebensgeschwindigkeit, das dem Einzelnen abverlangt wird. Wir dürfen uns also öfter mal die Frage stellen, wie viel Lebensgeschwindigkeit der Mensch verträgt.
4. Am anderen Ende der Welt hat die Zukunft längst begonnen
In Europa kommt meiner Einschätzung nach hinzu, dass viele von uns immer noch nicht wahrgenommen haben, mit welcher Geschwindigkeit andere Volkswirtschaften versuchen, jahrzehntelange Rückstände ihrer Wirtschaftssysteme nicht nur auszugleichen, sondern uns zu überholen. Im Zuge eines Aufenthaltes in Malaysia habe ich einen Ausflug nach Teronoh im Bundesstaat Perak unternommen. Möglicherweise ist manchem Leser, der sich ein wenig mit Architektur auseinandersetzt, der Ort bekannt. Ziel meiner Reise war nämlich die Universiti Teknologi Petronas. Neben Bauwerken wie der London City Hall, dem Neuen Reichstag in Berlin, dem Kongresszentrum in Valencia, dem Flughafen Chek Lap Kok in Hongkong und dem neuen Two World Trade Center in New York hat der britische Stararchitekt Norman Foster dieser Stätte der Innovation seine unverwechselbare Handschrift gegeben. Umringt von grünen Wiesen und Palmen hat der malaysische Mineralölkonzern Petronas hier im Jahr 1995 eine Privatuniversität auf der grünen Wiese errichtet. In unseren Breiten ist dieser staatseigene Konzern eingefleischten Motorsportfans als Hauptsponsor des Mercedes Formel 1 Teams bekannt. Neben dem imageträchtigen Engagement für den Sport hat die Führung des Konzerns vor rund 20 Jahren erkannt, dass es eine lohnende Anlage in die Zukunft sein könnte, in Forschung und Entwicklung und daher in die nachkommende Generation zu investieren. Dieses Selbstbewusstsein, diesen visionären Spirit, hat mich auch der Rektor der Universität, Zainal Abidin Haji Kasim, in einem Gespräch spüren lassen. Beim Rundgang durch die Labors habe ich Dinge gesehen, von denen ich ohne Übertreibung nicht geglaubt hätte, dass es sie gibt: Während in unserer Breiten über die Fertigstellung der nächsten Generation von Hybridfahrzeugen diskutiert wird, kann man dort eine Erfindung bestaunen, die aus jedem gängigen Serienfahrzeug ein Hybridauto machen kann. Ein Nachrüstsatz, der bald Serienreife erlangen soll, macht es möglich. Zu geringsten Kosten und damit leistbar für breite Schichten der Bevölkerung. Ein paar Werkstätten weiter hat eine Forscherin, unterstützt von ihrem Gaststudenten aus Gambia, eine Erfindung gemacht, die in einem durchschnittlichen Krankenhaus den Aufwand an Arbeitszeit um zehntausende Stunden reduziert, wobei die Kosten der Komponenten für die Erfindung um die 20 Dollar liegen. In dieser Tonart ging es nahezu in jedem Labor weiter.
Zurück in Österreich lese ich die hundertste Story über die Bildungsdebatte, ich lese von Uniprofessoren, die sich überfordert fühlen, ich lese von Studentenvertretern, die aus Prinzip gegen alles protestieren und ich lese von zuständigen Ministern, die wie immer nichts entscheiden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein paar statistische Daten der Universiti Teknologi Petronas zu erwähnen: ca. 7.000 Studierende, ca. 300 Professoren, Durchschnittsverdienst eines Professors in Führungsposition ca. 1.500,00 Euro pro Monat, Studiengebühren pro Semester um die 3.000,00 Euro. Verstehen Sie, was ich meine? Wo bitteschön findet bei uns die Debatte um die Innovationskraft unseres Landes statt? Welche Visionen haben wir für die Gestaltung der Zukunft? Und wie binden wir die Universitäten in die Umsetzung dieser Strategien ein? Das Ganze muss irgendwo hinter dicken Mauern passieren, denn mir ist davon nichts aufgefallen, Ihnen vielleicht? Wenn sie mich fragen: Der Zug ist längst abgefahren. Da werden lieber große Energien in den Tanz um das goldene Kalb »Studiengebührenbefreiung« gesteckt und Heerscharen von Schreibtischattentätern doktern an der Bologna-»Reform« herum, dabei reicht der visionäre Geist maximal bis zur nächsten Legislaturperiode. Sorry, wer im Jahr 2014 Bildung noch immer nicht als Chance begreift, in die es sich zu investieren lohnt, hat ohnehin gar nichts begriffen. Denn während die knochentrockenen Technokraten an der Zukunft vorbeidenken, hat sie am anderen Ende der Welt längst begonnen!
5. Schwarze Zahlen am Bildungskonto
»Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen.«, soll Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, in einer seiner Reden einmal gesagt haben. Gute Zinsen? Da spitzt wohl angesichts von Bankenkrise und Finanzcrash auch heute so mancher die Ohren. Und die Überlegung macht Sinn, denn gerade in Krisenzeiten stellen kluge Unternehmen jetzt die Gretchenfragen: Wo haben wir die falschen Entscheidungen getroffen? Und wie können wir das Schiff in Zukunft wieder auf Kurs bekommen? Die logischen Schlüsse: Die Wirtschaft benötigt Menschen, die diesen Innovationsgeist mittragen können. Und: Wer sich jetzt durch Qualifizierungsmaßnahmen fit macht, sollte doch gute Karten im Karrierepoker haben. Ist Weiterbildung also der Weg aus der Baisse? Ist Wissen die Wertanlage des 21. Jahrhunderts? Und ist kontrazyklisches Agieren in Sachen Bildung das Gebot der Stunde?
Mein Verstand schreit: ja! Ob unser Bildungssystem aktuell diesen Anforderungen gewachsen ist, steht auf einem anderen Blatt. Das Szenario unserer Arbeitswelt und die Anforderungen an unser Bildungswesen haben sich heute radikal verändert. Traditionelle Erwerbsbiographien, wie wir sie noch von unseren Eltern kennen, sterben aus. Einmal erworbenes Wissen reicht nicht mehr aus, denn Erkenntnisse, die heute Gültigkeit haben, werden in ein paar Jahren schon Patina angesetzt haben. Permanente Weiterbildung ist gefragt, das Stichwort des lebenslangen Lernens wird dabei oftmals bemüht. Und als Arbeitsuchende bzw. Arbeitnehmer müssen wir heute fachlich up-to-date sein. Soweit bin ich d´accord. Doch was mich an der Debatte irritiert, ist der penetrante Anspruch der Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Bildungsmaßnahmen und deren Output.
Beispiel Bologna-Prozess: Da werden im Namen von Vereinheitlichung und Evaluierbarkeit sture Studienpläne und starre Bildungsziele durchgepeitscht. Die Förderung der Gleichförmigkeit des Wissens, so habe ich den Eindruck, steht über der Förderung von Talenten. Was daraus resultiert, ist ein Heer des Durchschnitts, das das ECTS-Punktesystem ausgespuckt hat. Bildung wird industrialisiert, genormt, standardisiert; Eine Gleichförmigkeit, die einen gewaltigen Haken hat, wie es der Philosoph Konrad Paul Liessmann aus meiner Sicht auf den Punkt bringt: »Überall dort also, wo heute echte Defizite herrschen, in der Innovation, bei neuen Problemlösungen, muss ein solches System versagen. (…) Das ist die Stunde des Fachidioten«.
Dabei scheint es, als orientiere sich das Bildungssystem an der Nachfrage. Denn in den HR-Abteilungen ist der »Employee by Excelsheet« längst Realität. Geht es um die Performanceanalyse von Bewerbern oder darum, schon heute die High Potentials von morgen auszusieben, sind Asessment Center das Instrument der Wahl. Da werden Persönlichkeiten gescreent, Bildungs- und Karrierebiographien in unbestechlichen Zeilen und Spalten abgespeichert und soziale Skills mittels standardisierten Szenarien abgefragt. Für mich ein klarer Fall von Tunnelblick. Wo bleiben bei diesem akkuraten Raster etwa die Arbeitnehmer 50+, deren wertvolle Erfahrungen gerade in Krisenzeiten höchst willkommen sein sollten? Weshalb konzentriert sich jede Form von Bildungspolitik auf die Jungen? Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr? Schwachsinn! sagen Gehirn- und Altersforscher. Es ist eine Frage des Wollens. Ich denke, der Umgang mit Bildung in allen Altersklassen, sozialen Schichten und unabhängig von der Vorbildung sagt vieles über die Statik eines Gesellschaftssystems aus.
In der Bildungspolitik brauchen wir meines Erachtens einen positiven Paradigmenwechsel von der traditionellen Aus- und Weiterbildung, die fast nur den Qualifikationsbedarf für den Arbeitsmarkt im Blick hatte, zu einer weiterführenden lebensbegleitenden Bildung, die Menschen befähigt, ein Leben lang den sozialen Wandel der Gesellschaft aktiv zu gestalten und nicht nur passiv auszuhalten. Das braucht einen Bewusstseinswandel in den Unternehmen, die sich hier ihrer Bringschuld und auch ihrer großen Chance bewusst werden müssen. Es braucht aber auch einen Bewusstseinswandel bei den Arbeitnehmern, die bei der Wahl ihrer Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen nicht nur nach den statistischen Karrierechancen schielen dürfen. Denn auch wenn es banal klingt: Es hilft sehr zu wissen, was man will, was man kann und was einem Freude macht. Oder, wie es in einem meiner Lieblingszitate von William Butler Yeats heißt: »Education is not the filling of a pail, but the lighting of a fire.«
6. Scheitern in Echtzeit
Die Chancen, schnell rasch und höchst effizient zu scheitern, standen noch nie so gut wie heute. Wenn Sie diese Zeilen lesen, denken Sie einmal kurz darüber nach, woran Sie heute schon gescheitert sind. Hat es Dinge gegeben, wo Sie vom bisher Erlebten sagen: »Das hat nicht optimal funktioniert. Das ist nicht gut gelaufen. Das hätte besser sein können.« Wenn Sie mit Ihrem Partner, Ihren Freunden oder Bekannten über Ihre persönlichen Misserfolge des Alltags sprechen, dann werden Sie merken, dass etwas, was Sie als Niederlage empfunden haben, für Ihr Gegenüber das Gegenteil bedeuten kann. Scheitern ist so gesehen immer etwas sehr Individuelles. Scheitern ist auch immer eine Frage der Perspektive. Das, was Sie vielleicht als Niederlage empfinden, kann für Ihr Gegenüber das Gegenteil bedeuten und kann sogar als Erfolg wahrgenommen werden. Scheitern hat so gesehen auch immer etwas mit der persönlichen Sichtweise zu tun. Aufgrund der schon genannten Rahmenbedingungen, die unser Leben maßgeblich beeinflussen, werden wir immer häufiger Phasen des Scheiterns erleben.
Eines der großen Erkenntnisse, die ich in meiner Arbeit zu diesem Thema gewonnen habe, ist, dass die Reflexion dieses Tabuthemas eine der besten Voraussetzungen ist, um in einem zweiten oder dritten Anlauf ein gestecktes Ziel zu erreichen. Fehler nicht zu besprechen und immer die Angst zu haben, Fehler zu machen, wird die Dinge keiner Lösung zuführen. Eine große Unzufriedenheit entsteht bei vielen Menschen dadurch, dass es in ihren Köpfen eine Vielzahl offener Fragen und ungelöster Probleme gibt. Diese offenen Baustellen sind ein guter Nährboden für die nächste Niederlage.
7. Rübe ab, so lautet die Praxis
Einer der Hauptfaktoren, warum Menschen immer wieder von einer Scheiterphase in die nächste tümpeln, ist einfach jener Umstand, dass längst fällige Entscheidungen nicht getroffen werden. Vielleicht ist es manchmal besser, eine falsche Entscheidung zu treffen als gar keine. Aber wer traut sich, Entscheidungen zu treffen? Ist es nicht die latente Angst, dass unsere Entscheidung eine falsche ist, die uns davon abhält ein Ja oder Nein auszusprechen?
Kanadische Forscher haben ein einfaches Rezept gefunden, mit dem sich das Bedauern nach Fehlentscheidungen bekämpfen lässt: Die Menschen sollen sich ganz schlicht mit anderen vergleichen, denen es noch schlechter geht, empfehlen sie. Das klingt zwar hart, scheint aber zu helfen, wie das Team um die Psychologin Isabelle Bauer von der Concordia-Universität im kanadischen Montreal zeigen konnten. Nach falschen Entscheidungen, verpassten Gelegenheiten oder Fehltritten in ihrem Leben können Menschen sehr viel besser mit Gefühlen wie Reue und Bedauern umgehen, wenn sie erkennen, dass sie damit nicht alleine sind, so meinen sie. Der Trost liege darin, dass auch andere solche Fehltritte hinter sich haben, und es denen mitunter noch schlechter gehe, berichten die Forscher. Die auf www.wissenschaft.de nachzulesende Geschichte mag sehr banal klingen, aber Betroffene gehen im Moment ihrer Niederlage immer davon aus, dass sie die einzigen Menschen sind, die es getroffen hat. In einem Internetforum stand folgendes Zitat zu lesen, das keinem Urheber zugeordnet wird: »Wer arbeitet, macht Fehler. Wer wenig arbeitet macht wenig Fehler. Wer nicht arbeitet, macht keine Fehler. Wer keine Fehler macht, wird befördert.«
Dieses Zitat gefällt mir sehr gut und bringt mich zur Frage: Wie steht es um die sogenannte Fehlerkultur in Unternehmen? Ist es nicht so, dass die Fehlerkultur in der Praxis eher ein »Rübe ab« bedeutet ? Hier bedarf es meiner Meinung nach eines großen Umdenkens.
Im 21. Jahrhundert wird der Umgang mit Niederlagen, mit Phasen des Scheiterns eine Schlüsselkompetenz jedes einzelnen von uns werden. Vor einiger Zeit habe ich das neue Buch des englischen Ökonomen Tim Harford (Harford, 2003) gelesen. Eine der zentralen Botschaften lautet: »Erfolge werden wahrscheinlich dort am ehesten erzielt, wo Mitarbeiter, sei es im Team oder alleine, die Möglichkeit haben, Neues auszuprobieren – und dabei auch scheitern können ohne sich oder das gesamte Unternehmen zu gefährden«, so der Deutschlandfunk in einer ersten Rezension. Zu dieser Erkenntnis bin ich auch in meinen Scheiter-Büchern (Die Kraft des Scheiterns, Die Aufwärtsspirale, Ein Irrer schreitet die Parade ab) erstmals schon 2008 gekommen. Auch wenn sich durch die Krise die Stimmungslage gegenüber dem Scheitern ein wenig verändert hat, so ist es noch immer das Tabuthema schlechthin in vielen Unternehmen. Das Management fordert sehr häufig Innovationen, aber möglichst ohne Fehler. Der Terminus »Fehlerkultur« passt zwar gut in die allgemeine Rhetorik und in differenzierte Unternehmensleitbilder, aber die gelebte Praxis sieht anders aus. Und zu diesem Klima gesellt sich dann noch der Umstand, dass mit dieser mangelnden Scheiterkultur eine fehlende Kultur des kritischen Diskurses einhergeht.
8. Sprosse für Sprosse nach oben klettern
Ironisch betrachtet könnte Alfred Nobel der Verdienst zugeschrieben werden, dass er mit der Verleihung des Nobelpreises erstmalig Menschen, die unzählige Male gescheitert sind, eine Bühne gegeben hat, weil sie irgendwann ihr großes Ziel erreichten. Alljährlich blicken viele von uns gespannt nach Stockholm und Oslo, wenn die Nobelpreisträger verkündet werden. Wenn Menschen eine Würdigung für herausragende Leistungen in verschiedensten Disziplinen erhalten, neigen wir dazu, in unserer Beurteilung von Leistungen nur den Moment des Erfolgs zu sehen und die Vorgeschichte, den steinigen Weg dorthin, auszublenden. Fragen Sie beispielsweise einen Forscher, wie viele Ergebnisse er im Laufe seines Forscherlebens hatte, die nicht verwertbar waren, und wie lange es im Normalfall dauert, bis jemand vor dem schwedischen König steht, um den Preis der Preise entgegen zu nehmen …
Auch in anderen Branchen ist es ähnlich. Denken Sie beispielsweise daran, welche mentalen Fähigkeiten ein Sportler entwickeln muss, um realisieren zu können, dass zwischen Sieg und Niederlage Bruchteile von Sekunden entscheiden. Oder fragen Sie einen Musiker, wie viele Anläufe er unternehmen muss, bis er mit seinem Musikstück oder seiner Komposition den Durchbruch erlangt, wie lange jemand braucht, bis er die Spitze erreicht hat. Bei genauer Betrachtung vieler Erfolgsgeschichten wird man feststellen können, dass all diese Menschen auch mit dem Kopf gesiegt haben, um irgendwann ihre persönlichen Ziele zu erreichen. Persönliche Aktivität ist wahrscheinlich der Schlüssel für die Weiterentwicklung, um auf der persönlichen Erfolgsleiter immer wieder eine Sprosse weiter nach oben zu klettern, um irgendwann die Spitze zu erreichen. In diesem Sinne gebe ich Ihnen mit: Stehen Sie einmal öfter auf, als Sie hingefallen sind!
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Essay, Fazit 105, (August 2014) – Foto: Pilo Pichler
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