Geistreich
Volker Schögler | 29. Oktober 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 107, Fazitportrait
Der Familienbetrieb Franz Bauer ist eine riesige Destillerie mitten in Graz, wo seit 94 Jahren Spirituosen-Spezialitäten hergestellt werden. 1.500 Tonnen Obst verwandeln sich jedes Jahr in hochprozentige Liköre, Wein- und Edelbrände. Star ist dabei das Kultgetränk Jägermeister.
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Für drei Jahre wollte er bleiben. Das war vor mehr als einem Vierteljahrhundert. Hans-Werner Schlichte gefällt es hier. Und das beruht auf Gegenseitigkeit: Insbesondere sind es seine hochgeistigen Produkte, die – nicht nur – bei den Österreichern gut ankommen. Der Westfale betreibt mit seinem Familienunternehmen »Franz Bauer GmbH« die einzige Destillerie in Graz und versorgt In- und Ausland mit hochprozentigem Alkohol: Zahlreiche Brände, Schnäpse, Liköre und Geiste, aber auch das Kultgetränk »Jägermeister« werden auf einem 10.000 Quadratmeter großen Areal in der Prankergasse, mitten im Griesviertel, hergestellt. Auf branchenübliche 0,7-Liter-Einheiten umgerechnet, werden hier mit 92 Mitarbeitern über 3 Millionen Flaschen pro Jahr vertrieben, die für einen Umsatz vom 30 Millionen Euro sorgen. Davon entfällt knapp die Hälfte auf den – seit 1967 in Lizenz hergestellten – Jägermeister aus dem deutschen Wolfenbüttel. »Wir haben es von einem kleineren Betrieb zu einem größeren Betrieb geschafft, das ist schon toll«, erklärt Schlichte freimütig. Aber auch Land und Leute haben es dem Spross einer Spirituosendynastie aus Steinhagen angetan, ihm gefällt es, »in Österreich zu leben, wo andere Urlaub machen.« Den Regen im Osten von Nordrheinwestfalen mit der Sonne zu tauschen, könne so schlecht nicht sein. Aber es ist auch »der Spaß an der Arbeit«, was den 64-Jährigen antreibt. Und: »Die Symbiose aus deutschem Nach-vorne-Schauen und österreichischer Gemütlichkeit.«
Steinhäger
Nach einigen Semestern Volkswirtschaft, »Jura« und Betriebswirtschaft hat Schlichte sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Nach vielen Jahren in fremden Betrieben – darunter auch bei Jägermeister, dessen Aufsichtsratsvorsitzender Günter Mast (Neffe des Getränkeerfinders Curt Mast) ein Freund seines Vaters war, ferner in einer süddeutschen Weinbrennerei und in Schottland, wo er die Geheimnisse des Malt-Whiskys ergründete –, reizte ihn die Grazer Destillerie noch mehr als der väterliche Betrieb, wo er zunächst noch den Vater unterstützte. Ein Betrieb mit langer Tradition als Kornbrennerei, die bis ins Jahr 1776 zurückreicht. Und wo bis heute die älteste »Steinhäger«-Marke hergestellt wird. (»Steinhäger – trinke ihn mäßig, aber regelmäßig«; im Volke bekannt ist auch die »Stein-Pils-Kur«: ein Steinhäger und ein Pils.) Die 1920 gegründete Franz-Bauer-Destillerie, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs durch schwere Bombentreffer fast zerstört, wurde bereits 1961 von der Familie Schlichte übernommen. Als Hans-Werner Schlichte für die vorgeblichen drei Jahre nach Graz kam, schrieb man das Jahr 1987. Und seitdem ist viel geschehen. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich fast verdreifacht, der Umsatz verzehnfacht. Die alten Gemäuer und Gewölbe des seinerzeitigen Stammhauses der späteren Brauerei Puntigam ließ der traditionsbewusste Eigentümer behutsam restaurieren, aber auch zeitgemäß ausbauen, was ihm ein hohes Maß an Vorausschau abverlangte. Im Zuge ständiger Modernisierungen mussten riesige Kessel und Tanks untergebracht werden, bevor alte Decken repariert, umgebaut und geschlossen oder neue eingezogen wurden. Allein die beiden Tanks für das 80-prozentige Destillat fassen jeweils 35.000 Liter, aber auch die fünf Tanks für den Jägermeister sind mit jeweils 9.500 Liter nicht zu knapp bemessen. In einem Stück werden sie den Keller nie mehr verlassen.
Hochtechnologie
Dreh- und Angelpunkt im Stammhaus, Werk I genannt, ist der Innenhof. Von hier gelangt man zu den vier Abfüllbändern, die bis zu 15.000 Flaschen pro Stunde schaffen. Da die Flaschengrößen sehr unterschiedlich sind (von 0,02 Liter bis 2 Liter) gibt es je zwei Linien für große und für kleine Flaschen. Gemäß der Auffassung von Hans-Werner Schlichte, dass man als Privater nur mit modernster Ausrüstung reüssieren kann, finden sich hier hochtechnisierte Reinigungs-, Abfüll- und Multipackgeräte, die besonders kompakt und klein sind und mit dem Hersteller, dem Papier- und Mischkonzern »Smurfit Kappa« aus dem Harzgebirge über 18 Kameras verbunden sind. Hauptlieferant der unterschiedlichen Flaschen ist »Stölzle Oberglas« in Köflach. Vor der Brennerei werden auch die Früchte angeliefert, zum überwiegenden Teil aus der Region, was der Philosophie des Hauses entspricht: kurze Wege, Nachhaltigkeit, Erhalt der Wertschöpfung in der Region. Aus dem sodann gereinigten und zerkleinerten Obst werden im Zwei- oder Dreischichtbetrieb zwischen 10 und 15 Tonnen Maische hergestellt, die wiederum mit Hefe versetzt wird, um den rund zweiwöchigen Prozess der Umwandlung von Zucker in Alkohol zu stabilisieren. Heuer etwa gab es wenig Sonne, daher weniger Zucker, daher weniger Alkohol, so die einfache Rechnung. Schließlich kommt die Maische in drei 450-Liter-Kupferbrennkessel, um in zwei Stufen gebrannt zu werden. Erste Stufe ist der Raubrand, die Trennung in fest und flüssig, bei dem Alkohol mit 30 bis 40 Volumprozent für die Lagerung entsteht. Zweite Stufe ist der Feinbrand, bestehend aus Vorlauf (enthält nichts Gutes), Mittellauf (das sogenannte Herzstück) und Nachlauf (der »Luter«). Verwendet wird nur das Beste: das Herzstück. Genau das zu erwischen, ist nicht mehr Rechenleistung des Computers, sondern möglichst langjährige Erfahrung des Destilleurs. 1.600 Plomben des Zolls sorgen dafür, dass niemand Alkohol abzweigt, denn da ist der Staat empfindlich: Die erst kürzlich von 10 auf 12 Euro pro Liter angehobene Alkoholsteuer sorgt für gewaltige Steuereinnahmen. Gelagert wird das 80-prozentige Destillat dann in den erwähnten 35.000-Liter-Tanks aus Edelstahl im Reifelager. Was vor zwei Jahren wegen des Frosts während der Blütezeit ziemlich hilfreich war. Die »Trinkstärkeneinstellung« schließlich – zum Beispiel auf 35 Prozent – erfolgt weniger aufsehenerregend, nämlich schlicht und einfach mit Wasser.
Idealer Standort Graz
Abhängig vom Getränketypus stehen noch unzählige andere Lagerbehältnisse im Bauer-Keller: riesige Eichenfässer, Glasballons und Tongefäße. Letztere sind schon eine Besonderheit: Die letzten 1.000 und 2.000 Liter fassenden riesigen, glasierten Tonkrüge wurden nur bis kurz vor dem Krieg produziert. Aber in ihnen atmet der Likör besonders gut – sozusagen Geschmackssache. Wovon mehr als 500 Prämierungen der steirischen Edelbrände in zehn Jahren beredtes Zeugnis ablegen. Grundlage für die Qualität ist natürlich das möglichst reife, frische Obst – das vorwiegend aus der Steiermark kommt. Deshalb ist Graz für Schlichte der ideale Standort: »Da sind vor allem Äpfel, Zwetschken und die Williamsbirne. Marillen und Kirschen kommen überwiegend aus dem Burgenland. Bei Bedarf wird aber auch importiert. Marillen aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien, Williamsbirnen aus dem Schweizer Wallis und aus Südtirol, Vogelbeeren aus Tschechien und der Slowakei und schließlich gelbe Enzianwurzeln aus dem französischen Jura.« Pro Jahr werden so in der Franz-Bauer-Destillerie zwischen ein und zwei Millionen Kilogramm Früchte zu Geistreichem verarbeitet.
Jägermeister
Die Rolle der Grazer Destillerie Bauer für Jägermeister ist nicht unbedeutend. Nur hier darf er in Lizenz für den österreichischen Markt hergestellt werden, überall sonst auf der Welt kommt er direkt aus Wolfenbüttel. Der Likör aus 56 Kräutern, Blüten, Wurzeln und Früchten, wovon etliche geheim sind, wird als Konzentrat an Bauer geliefert, hier mit verflüssigtem Zucker zum Grundstoff verarbeitet und durch die Zugabe von Wasser auf 35 Volumprozent gebracht. Dann geht ein Liter zur Überprüfung des Extraktgehalts nach Wolfenbüttel. Mit mehr als 90 Millionen verkauften 0,7-Liter-Einheiten ist Deutschlands beliebtester Kräuterlikör im Aufwind und die siebentstärkste Spirituosenmarke der Welt. 1,2 Millionen davon, knapp zwei Prozent, werden in Graz hergestellt und vertrieben. Als absolutes Unikum gilt, dass in Österreich jährlich mehr Kleinstflaschen (0,02 l) getrunken werden als in allen anderen Ländern weltweit zusammen. Auch ein Grund dafür, dass im Zuge umfangreicher Umbauarbeiten in Graz eine der modernsten Kleinstflaschenabfüllanlagen Europas entstanden ist.
Unter Mithilfe von Ehefrau Christine und den Söhnen Hans-Werner Schlichte (24 Jahre, Trainee) und Oliver Dombrowski (36 Jahre, zweiter Geschäftsführer, Marketingchef) vertreibt der Familienbetrieb heute eine Palette von 360 »geistreichen« Produkten eigener und fremder Produktion. »Was ungefähr 100 verschiedenen Geschmacksrichtungen entspricht«, freut sich Schlichte, der das Erfinden neuer Geschmacksrichtungen als besondere Lust empfindet. Seine Kunden findet er in erster Linie in der Gastronomie, wie auch im Handel. Ein bisschen beliefert er seit Kurzem auch sich selbst: Auf der anderen Straßenseite der Prankergasse locken das hauseigene Bistro HirschBauer und der Shop GeniesserReich mit dem einzigen Jägermeister-Fan-Shop Österreichs. So ein- und aufgestellt, als Naturprodukthersteller auch ein Öko-Profit-Betrieb der Stadt Graz und als einzige Destillerie Österreichs ISO 22000 zertifiziert, ist nach einem Vierteljahrhundert klar: Er ist gekommen, um zu bleiben.
Destillerie Franz Bauer GmbH
8020 Graz, Prankergasse 29-31
Telefon: 0316 7700
bauerspirits.at
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Fazitportrait, Fazit 107, (November 2014) – Foto: Croce & Wir
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