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Solidaritätsverbot

| 29. Oktober 2014 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 107

Foto: Wonge BergmannEin Essay von Rainer Hank zur Theorie nationalstaatlicher Souveränität in Europa.

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Dr. Rainer Hank, geboren 1953, hat in Tübingen und Freiburg Literaturwissenschaft, Philosophie und Katholische Theologie studiert und wurde 1983 über die Literatur der Wiener Moderne promoviert. Er arbeitete beim katholischen Cusanuswerk in Bonn und war freier Mitarbeiter bei der »SZ«. Von 1988 bis 1997 war er Mitglied der Wirtschaftsredaktion der »FAZ«. Von 1999 bis 2001 beim Tagesspiegel, kehrte er 2001 zurück nach Frankfurt, um die »FAS« mitaufzubauen.

Mitten in einer Nacht des Jahres 1876 bekommt Seth Bullock, der Sheriff von Lewis and Clark County in Montana, Besuch von einem Mob aufgebrachter Bürger. Sie fordern die Auslieferung des bereits abgeurteilten Pferdediebs Clell Watson, der im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet. Es entwickelt sich ein Streit darum, wer den Delinquenten exekutieren darf: Der Mob sinnt auf Lynchjustiz; der Sheriff auf Staatsvollzug. Von zornigen Männern umzingelt, vollzieht Bullock kurzerhand die Strafe an Ort und Stelle: Er legt dem Kriminellen eine Schlinge um den Hals und lässt ihn auf einen Schemel steigen, den er selbst wegtritt. Den Mob kann Bullock nur mit einem Gewehr in Schach halten – den Rechtsstaat aber hat er gerettet.

Die Geschichte von Seth Bullock ist die Urszene der Souveränität. Der Philosoph Daniel Loick hat sie jüngst nacherzählt in seiner herausragenden Studie zur Kritik der Souveränität.1 Dem Pferdedieb ist ziemlich egal, wer ihn zur Strecke bringt; dem Rechtsstaat aber kann das nicht egal sein. Er und nur er verfügt über das Gewaltmonopol, dessen Kernbereich die Polizei- und Militärgewalt darstellt, das aber zum Beispiel auch das Recht, Steuern einzutreiben (eine Art Zwangsenteignung) umfasst. Nur der Staatsgewalt (einerlei ob durch Gott, Geburt oder das Volk legitimiert) billigen wir dieses Recht zu. Staatssouveränität ist der Preis, den wir zahlen zur Vermeidung des permanenten Bürgerkriegs (Mob!).

Während im Mittelalter ein polykratischer Wettbewerb der Herrschaftsausübung mit konkurrierenden Unterwerfungsansprüchen gang und gäbe war – man denke an den Investiturstreit -, entsteht in der Neuzeit die Idee der Souveränität. Ihr Erfinder ist Ende des 16. Jahrhunderts der französische Staatstheoretiker Jean Bodin. Seine bis heute gültige Definition in den Six Livres de la Republique heißt: »Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen.« In seinem Leviathan (1651) hat Thomas Hobbes daraus abgeleitet, dass der Staat, um den Krieg aller gegen alle zu beenden, für sich absolute Macht beanspruchen muss, der Bürger aber auf Macht verzichtet unter der Voraussetzung, dass seine Mitbürger auch dazu bereit sind. Der (National)Staat schützt die Rechts- und Wettbewerbsordnung und duldet zugleich keinen Wettbewerber neben sich. Er und kein Zweiter soll das Monopol ausüben dürfen.

Damit bekommt die Idee der Souveränität von Anfang an etwas Ironisches, wie Daniel Loick bemerkt. So wie ein Reisender, der wegen seiner Flugangst ein Schiff besteigt und ausgerechnet mit diesem Schiff untergeht, so ist es auch eine Ironie der Souveränität, dass Gewalt nur vermieden werden kann durch die höchste denkbare verfassungsrechtliche Legitimation der Gewalt: might is right. Aber nur für den souveränen Staat. Nicht wer im Besitz der Wahrheit ist, sondern wer die Macht hat, bestimmt die Gesetze und die Verfassung: auctoritas, non veritas, facit legem. Seit Rousseau ist dieser Dezisionismus rückgebunden an den Willen des Volkes: In der Ausübung der Souveränität regiert das Volk sich selbst. Die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber der Staatsgewalt ist somit nicht nur der nackten Autorität des Souveräns geschuldet, sondern quasi moralische Selbst- und Gewissensverpflichtung des Volkes. Aus der absolutistischen wird demokratisch kontrollierte Souveränität, die strikt an das Territorialitätsprinzip gebunden und durch die Teilung der Gewalten als rechtsstaatliches Verfahren legitimiert ist. Nutznießer, Entscheidungsträger und Finanziers (Steuerzahler) innerhalb eines Gemeinwesens sollen deckungsgleich sein. Das gibt dem Dezisionismus von Macht, Souveränität und Hegemonie seine demokratische Legitimation. Etwas Besseres ist der Rechtsgeschichte bis heute nicht eingefallen. Seit Beginn der europäischen Einigung wurde die nationalstaatliche Souveränität vielfältig aufgeweicht. Es blieb freilich zunächst alle Delegation der Macht an transnational-europäische Institutionen rückgekoppelt an eine nationale Letztentscheidung. Wo Kompetenzen auf europäische Institutionen übertragen wurden, hatten diese ihre Macht nur geliehen von der nationalen Souveränität. Insbesondere zur Fiskalverfassung hat das deutsche Verfassungsgericht zuletzt noch in seiner ESM-Entscheidung vom September 2012 insistiert, »dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand als grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat in der Hand des Deutschen Bundestags verbleibt«. Auch in einem System »intergouvernementalen Regierens« müssten die Abgeordneten als gewählte Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über fundamentale haushaltspolitische Entscheidungen behalten. Durch die Blume haben damit die Verfassungsrichter eingestanden, dass die Souveränität des Nationalstaates an den Rändern ausfranst: Intergouvernemental (oder supranational) ist ein feineres Wort für die neue Polykratie, die die Politikwissenschaft vornehm »Mehrebenendemokratie« nennt. Allemal geraten jetzt wieder konkurrierende Souveränitätsansprüche miteinander in Konflikt. Wann ist Brüssel zuständig, wann Berlin? Und was, wenn beide sich zuständig fühlen? Dann weiß man nicht mehr weiter und nennt das »postdemokratisch«.

Souveränitätsverzicht aus Gewohnheit

Zentrales Ereignis dieser Ausfransung war die Geburt der Europäischen Währungsunion, die den Nationalstaaten die Befugnis über die Geldpolitik entzog und sie der Europäischen Zentralbank übertrug. In der Eurozone hat keiner mehr sein eigenes Geld. Die Höhe der Zinsen, zu der die Notenbank ihr Geld verleiht, oder die Entscheidung, eine Währung ab- oder aufzuwerten, ist dem nationalen Souverän entzogen. Die Deutschen fanden diesen im Grunde gravierenden Souveränitätsverzicht erträglich, weil sie aus ihrer Geschichte mit der Deutschen Bundesbank gewohnt waren, dass das Monopol über die Geldschöpfung immer schon dem Machtmonopol des Staates entzogen war. Sie schätzten gerade den Ausnahmecharakter der Bundesbank als Garant der Stabilität ihrer Währung: Denn diese Immunität vor politischer Begehrlichkeit schützte sie über fünfzig Jahre vor Inflation und bewahrte sie vor dem Rückfall in das Trauma des 20. Jahrhunderts. Wenn also die EZB so konstruiert wäre wie die Deutsche Bundesbank, dann wäre der staatliche Verzicht auf die Ausübung von Souveränität in diesem Fall kein Verlust, sondern ganz im Gegenteil ein Gewinn – so ungefähr lautete die rhetorische Akzeptanzformel, die den Deutschen den Abschied von der nationalen Währung schmackhaft machte. Derart fraglos wurde der Souveränitätsverzicht akzeptiert, dass offenbar niemand es für notwendig erachtete, zumindest Austrittsrechte und -wege aus dem Euro-Raum in die Verträge aufzunehmen. Dem Euro eignet eine implizite Ewigkeitsgarantie.

Drei Bedingungen sollten die Gemeinschaftswährung gegen Störungen schützen: Europa sollte erstens keine Defizitgemeinschaft werden. Im Gegenteil: Das Vertrauen war groß, das Verschuldungsverbot werde, ähnlich dem, was man heute »Schuldenbremse« nennt, die Staaten dazu disziplinieren, eine solide Haushaltspolitik einzuleiten. Europa sollte zweitens keine »Haftungsgemeinschaft« sein. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Euro-Urteil vom September 2011 ausdrücklich bestätigt. Demnach dürfe es »keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen« geben, »die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind«. Damit ist bereits der dritte Ausschlussgrundsatz der Verträge angesprochen: Europa ist, weil keine Haftungs-, auch keine Transfergemeinschaft. Jeder haftet für sich und kann nicht auf »Solidarität« der anderen zählen. Es ist, als ob der Schreck über den Souveränitätsverzicht in der Geldpolitik alle Euro-Staaten zu dem Versprechen gezwungen hätte, ansonsten strikt und für immer an der nationalstaatlichen Souveränität festzuhalten. Nicht zuletzt das Scheitern einer Europäischen Verfassung im Jahr 2005 ist Ausdruck der von den Völkern gewünschten Abstinenz gegenüber einer weitergehenden Vergemeinschaftung der Politik. Doch Maastricht, wiewohl bis heute Gesetz, ist faktisch längst außer Kraft gesetzt. Die Rettung des Euro begann mit einem Rechtsbruch. Wie stets seit dem Rechtsbruch Adams und Evas im Paradies zieht eine einzelne Sünde viele weitere nach sich, weshalb die Geschichte der Euro-Rettung inzwischen als »Chronik einer angekündigten Katastrophe« (Paul Krugman) viel mehr ist als nur eine Finanzkrise. Sie ist auch eine Katastrophe für den souveränen Staat. Die Europäische Union wandelt sich, nach einem Wort des Ökonomen Joachim Starbatty, »von einer Rechtsgemeinschaft in eine Hauruck-Gesellschaft mit nicht überschaubaren Kollateralschäden«:(2) Das zersetzt auf Dauer das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen, zumal zur Beschädigung rechtsstaatlicher Grundsätze mittels Vertragsbruch und Institutionendemontage noch, mindestens so gravierend, eine schleichende Aushöhlung der Demokratie hinzukommt.

Solidarität nämlich ist der Feind der Souveränität, zumindest sofern sie nicht rein altruistisch, also verschwenderisch, gelebt, sondern an Bedingungen geknüpft wird (Austeritätsauflagen, Strukturreformen). Sollen diese nicht nur auf dem Papier stehen, bedarf es geeigneter Überprüfungsinstanzen: Eine Troika aus Vertretern fremder Mächte reist durch das Land und überwacht die Einhaltung von Haushaltsauflagen mit gravierenden Auswirkungen etwa auf Gehälter und Renten. Stärker kann das Gewaltmonopol eines Nationalstaates gar nicht demoliert werden. Die Proteste der Bürger sind ihr Einspruch gegen die Zertrümmerung der Volkssouveränität. Diese Beschädigung hat ihr Pendant in der erpresserischen Macht, die der Solidaritätsdruck auf die Parlamente der Geberländer ausübt. Sie können im Grunde die »Hilfe« gar nicht verweigern: Ihr Gewissen unterliegt einem Druck der Zwangsläufigkeit, der die Souveränität nur noch auf dem Papier bestehen lässt. Beide, Geber und Nehmer, sind in Solidarität aneinander gekettet, die die Souveränität morsch werden lässt.

Wie konnte das passieren? Ökonomische, rechtliche und politische Wirkmechanismen spielen auf unselige Weise zusammen. Anstatt zu disziplinieren hat die gemeinsame Währung die Staaten dazu angeregt, sich in besonders hohem Maße zu verschulden. Weil plötzlich die billigen Zinsen nicht mehr das unterschiedliche Risiko der Euro-Länder spiegelten, war eine grosszügige wohlfahrtsstaatliche Politik viel leichter geworden. Wer will, kann schon diesen Prozess wachsender Staatsverschuldung als schleichenden Souveränitätsverlust deuten – gegen die Vorschriften der europäischen Verträge. Denn die Staaten haben ihren Finanzierungsbedarf nicht den Steuerzahlern aufgebürdet, sondern an den Kapitalmarkt delegiert und sich von diesem – den volatilen Zinsen der Gläubiger und den Bewertungen der Ratingagenturen – abhängig gemacht. Falsch ist es indessen, zu behaupten, die »Märkte« hätten den Staaten ihre Souveränität geraubt und sie in den Würgegriff genommen. Kein Staat ist gezwungen, sich sein Geld am internationalen Bond-Markt zu besorgen. Wer sich freilich hoch verschuldet, muss wissen, dass seine Politik dadurch immer mehr von den Gläubigern als von den Bürgern bestimmt wird.

Kosten der Krise können umgewälzt werden

Märkte und Politik haben das Verbot der Solidarität nie ernst genommen. Aus diesem Grund konnten die Gläubiger (die Banken) sich erlauben, exzessiv billige Kredite auszureichen. Denn sie setzten darauf, gegebenenfalls von »solidarischen Staaten« herausgepaukt zu werden. Offenbar war, insbesondere für die früheren »Weichwährungsländer«, unter dem Euro-Regime Maastricht zum Trotz von Anfang an eine hohe Verschuldung attraktiv, sofern eine Chance bestand, im Falle eines Falles die überbordende Verschuldung weg zu inflationieren. In dieser Strategie ist nicht zuletzt Italien gut geübt: Sie wird umso attraktiver, als die Kosten der Krise später auf alle (vor allem aber auf die vermögenderen Schichten Deutschlands) umgewälzt werden können. Erst als nach 2008 die Gefahr europäischer Staatspleiten erkennbar wurde, stiegen die Zinsdifferenzen wieder. Darin spiegelt sich nicht zuletzt das Risiko, dass die Eurozone zerbrechen und einzelne Länder den Euro-Raum verlassen könnten. Die Investoren wollten zur Absicherung gegen eine Währungsumstellung in einem Euro-Land einen Renditeaufschlag haben. Das ist rational und hat, anders als häufig behauptet, nichts mit irrationaler Spekulation zu tun.3
Schließlich fiel auch das Verbot der monetären Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Die EZB kauft europäische Staatsanleihen am Sekundärmarkt auf, um die Nachfrage zu stärken und den Zins zu drücken. Sie akzeptiert als beleihbare Pfänder für Kredite an die Staaten immer risikoreichere Wertpapiere, und sie lässt schließlich zu, dass über die sogenannten Target-II-Salden die Krisenländer mehr oder weniger unbegrenzt Kredit erhalten, was de facto bedeutet, dass die Notenbanken der Südländer selbst die Druckerpresse anwerfen. Damit aber wirft die Europäische Zentralbank ihre eigenen Prinzipien über Bord. Ihr ursprüngliches Ziel, gemäß der Tradition der Bundesbank für stabiles Geld in der Eurozone zu sorgen, wird in der Krise zunehmend verdrängt von der neuen Rolle, zahlungsunwillige Staaten günstig zu finanzieren. Monetäre Staatsfinanzierung aber untersagen die Maastricht-Verträge den Notenbanken ausdrücklich. Dafür ist die nationale Finanzpolitik (und neuerdings auch die Rettungsinstitution ESM) zuständig, denn diese unterliegt der demokratischen Kontrolle durch die Steuerzahler. Geldpolitik in Europa ist, anders als in den Vereinigten Staaten, an Regeln gebunden und nur einem Ziel verpflichtet: der Stabilität der Währung.

Den Schwenk der Europäischen Zentralbank vom Anwalt der Stabilität zum Erfüllungsgehilfen der Fiskalpolitik hat EZB-Chef Mario Draghi eingeleitet, dessen Bedeutung aber als politisch zweitrangig geschickt heruntergespielt. Zur Augenwischerei schickte Draghi hinterher, EZB-Geld gebe es nur, wenn zugleich der europäische Rettungsschirm ESM Hilfen bewillige und seine Zusage an Bedingungen struktureller Reformen in den Krisenländern binde. Das sollte beruhigend klingen. Dabei ist es in Wirklichkeit höchst beunruhigend: Denn die EZB, selbst der demokratischen Kontrolle enthoben, gibt ihre Unabhängigkeit auf, indem sie sich abhängig macht von den Budgetnotlagen einzelner Mitgliedstaaten und ihre Unabhängigkeit für Solidaritätsaktionen missbraucht, nachdem die Regierungen sich nicht mehr an den nationalen Souverän zu wenden wagen. Das deutsche Verfassungsgericht hat in seinem ESM-Urteil vom 12. September 2012 präzise gesehen, dass die EZB sich damit zum europäischen Fiskalsouverän aufschwingt, ohne dafür ein Mandat zu besitzen.

Nicht wenigen in Europa ist dieser Missbrauch des Mandats der EZB als Brückenkopf für weiter reichende Ziele allerdings durchaus recht. Sie nehmen es billigend oder gar wohlwollend in Kauf, dass auf die Teilentmachtung der nationalen Politik in der europäischen Geldpolitik nun deren vollständige Entmündigung durch ein europäisches Regime mit umfassenden fiskalischen Zuständigkeiten folgt. Entmündigung würden sie dies freilich nie nennen. Stattdessen verpacken sie die faktische Aushöhlung nationaler Souveränität als Gebot europäischer Solidarität und notwendiges Moment geschichtsphilosophischer Finalität. Ein teleologisches Prinzip verwandle, gleichsam wie die unsichtbare Hand des Marktes, die Währungs- in eine Fiskalunion und diese dann in eine soziale und politische Union. Nie darf in diesem Zusammenhang das Diktum von Jacques Rueff fehlen, der 1949 bekannt hat, die europäische Integration werde am besten ökonomisch gelingen: »L‘Europe se fera par la monnaie ou ne se fera pas.« Das war schon damals ungedeckte Überrumpelungsrhetorik, getragen von der Hoffnung, es werde schon keiner merken, dass der europäische Diskurs bislang nie als fiskalisches, sondern stets als kulturelles Projekt thematisiert wurde. Zu Beginn der europäischen Einigung in der Nachkriegszeit ging es um Freihandel und Wettbewerbsunion. Erst in den achtziger und neunziger Jahren schob sich die Idee einer gemeinsamen Währung als Integrator in den Vordergrund, motiviert von der Hoffnung Frankreichs, so das aus seiner Sicht hegemoniale Diktat der Bundesbank aushebeln zu können.

Merkwürdig, warum der Euro heute abermals als Integrationstreiber Europas fungieren soll, obwohl die Währungsunion gravierende Konstruktionsfehler aufweist. Wäre es nicht besser, erst über die Gründe der Fehlkonstruktion nachzudenken? »Europe‘s unfinished currency« (Thomas Mayer, Ex-Chefvolkswirt der Deutschen Bank), ein typischer Titel aus der Kiste der Finalität, schreit nach Vollendung. Die Währungsunion gilt als Kindheitsphase und die heutige Krise als eine Art Kinderkrankheit. Jetzt soll der Übertritt ins Erwachsenenalter beginnen. Denn der Euro sei eben Torso, Fragment: Wer ihn retten wolle, müsse für »mehr« Europa sein. Denn nur Krisenzeiten seien Reformzeiten, tönen die Finalisten, ohne darüber Rechenschaft zu geben, dass, solange die Ursachen der Krise nicht geklärt sind, auch über weitere Ziele schwer zu reden ist.

»Gebt Souveränität ab!«

Dabei fällt auf, wie leichtfertig die Finalisten einem Abschied von nationaler Souveränität das Wort reden. »Gebt Souveränität ab!« tönt es von Jürgen Habermas bis Wolfgang Schäuble, gefeiert wie ein Befreiungsakt. Souveränität, jene die Bürger befriedende Errungenschaft der Neuzeit, wird inzwischen behandelt wie ein Klotz am Bein Europas, der den Prozess der weitergehenden Einigung behindert. Im Trilemma, zwischen Souveränität, größerer europäischer Integration und supranationaler Demokratisierung nur zwei Ziele durchsetzen zu können, bleibt stets die nationale Selbstbestimmung auf der Strecke.4 Womöglich schwingt hier bis heute der Verdacht gegen den autoritären Dezisionismus des hobbesschen Konzepts mit. Wenn wir es schaffen würden, mehr Europa mit mehr supranationaler Demokratie (strengere Kontrolle etc.) zu paaren, wen würde es dann kümmern, dass ein paar deutsche Verfassungsrichter ihren Job verlören, so lautet die weitverbreitete Souveränitätsaversion bei den politischen und intellektuellen Eliten, die übersehen, dass sie bei dieser Gelegenheit auch Haushaltsausschüsse, Parlament und nationale Fiskalpolitik entmachten (also zum Teil sich selbst). Als ob nicht längst zu spüren wäre, was die Aushebelung der Souveränität durch die europäischen Hilfs- und Austeritätsprogramme anzurichten in der Lage ist, bei denen die Empfängerregierungen ihre Aufträge nicht mehr vom Parlament, sondern von einer transnationalen Troika erhalten. Während die Südländer sich von den Gebern unterjocht fühlen, herrscht bei den Zahlern der Eindruck, sie würden von fremden Staaten zur Solidarität erpresst. Thomas Hobbes behält wieder einmal Recht: Wo Souveränität fehlt oder erodiert, folgen politische und ökonomische Desintegration auf dem Fuße. Der Bürgerkrieg ist dann nicht mehr fern.

Zu leicht machen es sich die Euromantiker, wenn sie die Abgabe von Souveränität, eine Art Selbstentmachtung, als positiven Akt präsentieren und damit Hobbes und Rousseau einfach vom Tisch fegen. Wohin der Abgebende abgibt, fragt niemand. Es kommt nicht darauf an. Mal ist es ein EU-Währungskommissar (ein Brüsseler Beamter, ein Mann der Administration mithin), der das Recht erhalten soll, »gegen die Budgets der Mitgliedsländer« (verabschiedet von gewählten Parlamenten!) sein Veto einzulegen (Wolfgang Schäuble). Mal ist es ein direkt gewählter europäischer Präsident (zuweilen auch Finanzminister), der quasi autokratisch Fiskalpolitik soll machen dürfen, indem er nationale Rechte außer Kraft setzt. Derart institutionell dürftig zeigt sich der Verfassungsdiskurs in den Zeiten der Krise, dass sogar der Grundsatz der Bostoner Tea Party »No taxation without representation« – schlechthin der Souveränitätsgrundsatz der Finanzautonomie – nichts mehr gilt: Macht doch nichts, solange andere Staaten sich am Geld der Bürger anderer Staaten bedienen können.

Jene Schwärmer, die bereitwillig nationale Souveränität aufgeben wollen (sie lassen sich gerne »leidenschaftliche« oder »glühende« Europäer nennen), begeben sich ohnehin nicht gerne hinab in die Niederungen fiskalischer Selbstbestimmung in der Demokratie. Ihre Manifeste richten sich lieber appelativ an die Leser: »Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben!« (Daniel Cohn-Bendit). Wem davor graut, wer warnt, aus der Fehlkonstruktion des Euro drohe eine noch schlimmere Fehlkonstruktion Europas zu werden, wird alsbald als Nationalist denunziert, der nicht nur Schlagbäume, sondern wahrscheinlich auch andere schlimme Dinge (und Kriege!) in Kauf zu nehmen bereit ist. Wer nicht für »mehr« Europa ist, der kann nur ein Zurück in den Egoismus der Kleinstaaterei und des »monetären Nationalismus« (Jürgen Habermas) wollen. Die »abschirmend-souveränitätsversessene Argumentationslinie« (Habermas) des Bundesverfassungsgerichts gilt folgerichtig als gestrig und wird ausgemustert.5 Solch hohen Ton nennt der Soziologie Hans Joas »Sakralisierung«: Ihn lasse das Tremolo in den Europa-Reden schaudern, sagt er. Denn das Sakrale, ursprünglich das von den Religionen gehütete Heilige, sei seit der religionskritischen Aufklärung ausschließlich der universalen Menschenwürde reserviert: Nur die Person ist unantastbar heilig, nichts anderes.6 Europa zu sakralisieren, idealisiert, romantisiert und immunisiert eine Staatengemeinschaft, deren Geschichte bestenfalls durchwachsen, deren Gegenwart gespalten, deren Währung gescheitert und deren Zukunft mehr als ungewiss ist. Dabei merken die Euromantiker gar nicht, dass sie, bei aller antinationalistischen Rhetorik, deren nationalistische Struktur auf postnationaler, europäischer Ebene nur wiederholen. »Der Verzicht auf die europäische Einigung wäre auch ein Abschied von der Weltgeschichte«, lautet Habermas‘ zentraler Satz, wobei ihm offenbar dessen neoimperiale Größenphantasie verborgen blieb: Welche weltgeschichtlichen Aufgaben Deutschland in einem geeinten Europa übernehmen soll, wird nicht gesagt. Habermas bemüht dasselbe Raunen, das auch Dax-Manager anstimmen, wenn sie sagen, nur mit mehr Europa und der Abgabe nationaler Souveränität könne der Kontinent im Wettbewerb mit Amerika oder Asien Schritt halten. Das wiederholt den imperialen Gestus des späten 19. Jahrhunderts.

Nichts spricht dafür, dass die Euro-Krise durch nachträgliche Initiativen für weitere zentralistische EU-Kompetenzen und bessere politische Legitimation der EU-Organe beendet oder auch nur leichter bewältigt werden kann. »Noch mehr Souveränitätsverzicht kann Europa auch nicht retten«, meint Fritz Scharpf, der Altmeister der politischen Ökonomie in Deutschland.7 Der italienische Staat, darauf macht nicht nur Scharpf aufmerksam, war bekanntlich trotz römischen Souveränitätsmonopols und einheitlicher Fiskalpolitik ebenso wenig in der Lage, die politische und ökonomische Deklassierung des Mezzogiorno zu überwinden, wie die deutsche Politik nach der unter einem falschen Wechselkurs vollzogenen Wiedervereinigung die Deindustrialisierung und Entvölkerung weiter ostdeutscher Regionen aufhalten konnte. »Wenn es um die Eurokrise geht, sollte man sich also von der Forderung nach einer europäischen politischen Union keine Entlastung erhoffen« (Scharpf). Wenn schon Belgien nicht zusammenhält, wenn angesichts der Krise gewichtige Gruppen in Katalonien oder Südtirol los von Madrid oder Rom wollen, woher sollen dann plötzlich die Kohäsionskräfte kommen, die nötig wären für einen neuen zentraleuropäischen Integrationsprozess? Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Eine weitere Integration, die das Europapathos der Neoimperialisten umsetzen will und die Auflösung der nationalstaatlichen Souveränität betreibt, hätte eine größere Desintegration zu gewärtigen.

Nationalen Regierungen geben ihre Aufgaben und Pflichten ab

Wenn die intellektuelle und politische Elite die Macht der Märkte durch eine Stärkung der demokratischen Institutionen auf europäischer Ebene zähmen will, dann überschätzt sie regelmäßig deren Erfolgschancen: Globalregierungen, das zeigt nicht zuletzt die Erfahrung der EU, einigen sich stets auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die nationalen Regierungen geben ihre Aufgaben und Pflichten ab, aber niemand ist da, der sie übernehmen kann. Gerade wer an der Stärkung der Demokratie (gegen die Anonymität von Markt und Globalisierung) interessiert ist, müsste die nationale Souveränität verteidigen. Einen stärkeren Verbündeten gibt es nicht.

Die optimale Größe eines Landes ist genau dann erreicht, wenn sich der Nutzen seiner Größe und die Integrationskosten seiner Heterogenität die Waage halten. Staatliche Administration (mit dem politischen Willen zu zentralistisch-bürokratischer Macht) dringt auf Größe. Kulturelle Milieus und wirtschaftlich unterschiedlich erfolgreiche Provinzen, Milieus oder Klassen dringen auf Regionalisierung und Separation.8 Der Euro hatte von Anfang an keinen optimalen Währungsraum zur Verfügung; die Gegensätze sind auch seit seiner Einführung nicht geschrumpft. Offenbar ist jetzt aber der Punkt erreicht, an dem schon beim Versuch größerer Vereinheitlichung die Integrations- und Zentralisierungskosten höher sind als die Vergemeinschaftungsvorteile.

Was aber dann? Die Krise ist gewiss der schlechteste Moment, Europa eine Finalität aufzuzwingen. Selbst wenn man »glühender Anhänger« eines europäischen Bundesstaates wäre, müsste man es eine schändliche Ironie der Geschichte nennen, dass als sein Motor das eklatante Versagen der Währungsunion im Schuldensumpf fungiert. Und das just in einer Zeit, in der die Europabegeisterung der Menschen auf dem Tiefpunkt angelangt ist, der einstmals blühende kulturelle Europadiskurs (vor allem zwischen Deutschland und Frankreich) zunehmend ausdünnt und sich die politischen und intellektuellen Eliten in einer Vertrauenskrise befinden. Doch selbst wenn das Konzept des Euro aufgegangen wäre, müsste man vor einem Souveränitätsverzicht energisch warnen. Denn mit der Aufgabe von Souveränitätsrechten entmachtet der Bürger sich selbst als Gestalter im nationalen Rahmen:9 Die Distanz zwischen lokalen Wählern und politischen Entscheidern in Brüssel nähme dramatisch zu. Die Möglichkeit der Kontrolle nähme dagegen ab. Eine zentrale Finanzpolitik entfernt sich von den Wählern. Eine zentrale Sozialpolitik, die zwingend die Folge größerer Integration wäre, führte nur dazu, dass jeder danach trachtete, auf Kosten des anderen zu leben. Politikverdrossenheit wüchse noch weiter, die gesellschaftlichen und ökonomischen Ungerechtigkeiten wüchsen mit: Denn die als gerecht empfundenen Konnexe von Risiko und Haftung wie auch der Grundsatz, wer den Nutzen habe, müsse auch für den Schaden aufkommen, wären ein für allemal entkoppelt.

Dezentralisierung statt Zentralisierung heißt das Gebot. Umfragen des »World Values Survey« zeigen, dass in allen Völkern die Bindung an die eigene Nation stärker ist als alle anderen Identitäten. Die Menschen sehen sich in erster Linie als Bürger ihres Landes, in zweiter als Bewohner ihrer Stadt oder ihres Dorfes und erst in letzter Linie als »Bürger Europas« oder »Bürger der Welt« (Rodrik). Niemand hat bis heute das Oates-Theorem (1972) der Dezentralisierung außer Kraft gesetzt. In seiner knappsten Form besagt es, dass der Nutzen öffentlicher Leistungen stets am höchsten ist, wenn diese dezentral/lokal bereitgestellt werden; zugleich sind dann die Kosten für diese Leistungen am niedrigsten.10 Als Grundsatz der Subsidiarität gehört dieses Prinzip von Anfang an zur rhetorischen Grundausstattung des europäischen Institutionendesigns. Doch die Verführungskraft des Zentralismus (»mehr Europa«) war für Politiker aller Schattierungen immer größer.

Viel wäre schon gewonnen, wenn es gelänge, die politische Rhetorik wegzubringen von der Alternative, »mehr Europa« sei der Weg zur Einheit des Bundesstaates, demgegenüber es nur ein »Zurück« in den Egoismus der Kleinstaaterei gäbe. Was zur Entscheidung steht, sind zwei Modelle der europäischen Integration: eines der Zentralisierung durch nationalen Souveränitätsverzicht, fiskalische Gemeinschaftshaftung und Transferzahlungen innerhalb eines Bundesstaates – und eines der Integration durch Wettbewerb und Dezentralisierung. Historisch erwies sich das Modell des Wettbewerbs als überlegen.11 Seine Moral heißt nicht »Solidarität«, sondern »No Bailout« als Prinzip der Selbstverantwortung. Besser als ein europäischer Bundesstaat, auf den die Souveränität (ganz oder teilweise) übertragen wird, ist ein Staatenbund, bei dem die Staaten ihre Souveränität behalten, sie diese sogar nach Möglichkeit an die nächstlokale Ebene nach unten abgeben im Interesse der Dezentralisierung.

»No Bailout«, also das strikte Verbot gegenseitiger Hilfe im Interesse aller, hat die Eigenschaft eines dynamisch sich entwickelnden Vertrauenskapitalguts.12 Wer weiß, dass er im Notfall nicht von den anderen herausgepaukt wird, der wird sein Verhalten prospektiv darauf einrichten und dafür sorgen, nicht über seine Verhältnisse zu leben. Denn ein selbst zu verantwortender Bankrott wäre das Eingeständnis des Scheiterns und das politische Ende jeder Regierung. Wer dagegen (wie im Euro-Raum) erfolgreich darauf wetten kann, die anderen zu Hilfeleistungen erpressen zu können, wenn die Katastrophe eintritt, der braucht auch keine Fiskaldisziplin. Fiskalische Dezentralisierung aber funktioniert am besten, wenn sie mit Steuerautonomie und einem hohem Maß an Direktdemokratie auf lokaler Ebene verbunden ist. Denn dann sind die regionalen Gebietskörperschaften in der Lage, ihren Finanzierungsbedarf den Bürgern zur Abstimmung zu stellen und diesen qua Steuerhoheit auch durchzusetzen.

Ein Europa, das »No Bailout« als Grundprinzip wieder einsetzt (die Maastricht-Verträge gelten bis heute), würde im Grunde die bewährte Ordnung einer liberalen Werte- und Wettbewerbsgemeinschaft restituieren. Hinzukommen müssten freilich zwingend Regeln für den Ausnahmezustand, damit im Falle eines abermaligen Bruchs des Solidariätsverbots, mit dem immer zu rechnen ist, nicht wieder ein zwanghafter, erpresserisch durchgesetzter und zugleich unkontrollierbarer Rettungsmechanismus in Gang gesetzt wird. Souverän ist eben nur, wer auch über den Ausnahmezustand (Carl Schmitt) entscheidet: Es geht um Regeln für den Fall des Regelbruchs. Die Arbeiten für solch ein »Notstandsgesetz« stecken in den Anfängen. Notwendig sind Exit-Regeln für den Austritt eines Mitgliedslandes aus der Eurozone, damit die Kosten für Insider und Outsider überschaubar bleiben und die Ansteckungsgefahr eines Austritts für andere Länder minimiert wird. Damit einhergehen müssten Regeln für die Insolvenz eines Staates, die – analog einer Insolvenzordnung im Privatrecht – bindende Vorgaben umfassen für einen Schuldenschnitt, die Bestimmung der Insolvenzquote und die Mechanismen, in welcher Reihenfolge die Gläubiger bedient werden. Das Solidaritätsverbot schützt gegen die Eingriffe anderer Staaten und wahrt am Ende die Souveränität eines Volkes. Keine Troika darf sich erdreisten, das Macht- und Fiskalmonopol eines souveränen Staates in Frage zu stellen, keine Staatengemeinschaft Parlamente unter Druck setzen, Solidarhilfe zu bewilligen. Der souveräne Staat und seine Bürger müssen ganz und gar Herr ihrer Ausgaben und Einnahmen bleiben. Beider Würde muss geschützt werden. All jene, die das Solidaritätsverbot als hartherzig denunzieren, müssten zumindest anerkennen, dass das Prinzip Selbstverantwortung (Souveränität) den Stolz eines Volkes stärkt.

Dieser Beitrag erschien erstmals im Magazin »Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken«, Ausgabe 1/2013 vom 9. Jänner 2013. online-merkur.de

Essay, Fazit 107, (November 2014) – Foto: Wonge Bergmann

 

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