Pilsen ante portas
Redaktion | 27. Mai 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 113, Fazitreise
Pilsen, open up! Unter diesem Motto begeht man in der tschechischen Stadt Pilsen in diesem Jahr die Feierlichkeiten und kulturellen Höhepunkte zur Wahl der europäischen Kulturhauptstadt. Doch auch abseits des großen Rummels gibt es rund um die westböhmische Industrie- und Biermetropole vieles zu sehen: Von renovierten Häusern im Jugendstil, einer verfallenen Ruhestätte eines großen österreichischen Staatsmannes und stillen, kleinen Dörfern.
::: Text und Foto von Maximilian Tonsern
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Eine fünfstündige Reise mit dem preiswerten tschechischen Busunternehmen »Student Agency« von Wien nach Prag, weiter mit der U-Bahn bis an den westlichsten Rand der tschechischen Hauptstadt, wieder in einen Bus einsteigen und dann, umgeben von Pendlern, ans Ziel kommen: Pilsen, ante portas! Die viertgrößte Stadt Tschechiens liegt im Westen von Böhmen, besitzt ein hässliches lachsfarbenes großes Einkaufszentrum, in das dennoch gerne alle einkaufen gehen, und hat seit Kurzem – da man ja gemeinsam mit der belgischen Stadt Mons den Titel »Europäische Kulturhauptstadt Europas 2015« trägt – gleich daneben ein großes, neues Theater, das bedauerlicherweise in exakt in der gleichen Farbe gehalten ist. Darüber lachen die Pilsner sehr gerne. Ein paar Gehminuten davon entfernt, am Platz der Republik (Náměstí Republiky), befindet sich der »Meeting Point«, eine Informationsstelle für Touristen, die sich unbedingt das ganze Programm der Kulturhauptstadt geben wollen: Stücke im neuen (eben lachsfarbenen) Theater, Sonderausstellungen in Galerien, Film- und Musikaufführungen. Und natürlich geführte Rundgänge in der Stadt. Besonders Mutige unternehmen hingegen gleich einen intuitiven Spaziergang, lassen die Umgebung auf sich wirken – und entdecken so recht rasch und einfach die wirklich schönen Seiten der Stadt.
Sehenswerte Gotteshäuser
In einer Plattenbausiedlung, ein paar Minuten mit der gelben Straßenbahn vom Platz der Republik entfernt. Der Tscheche Jan deutet mit dem glühenden Ende seiner Zigarette vom Balkon seiner Plattenbauwohnung auf die Stadt im Hintergrund. »Von hier aus sehe ich sie.« Jan ist Jude, und er meint die Synagoge, deren zwei Zwiebeltürme sich vom hohen Kirchturm der St.-Bartholomäus-Kathedrale, von den Fabrikschloten der ansässigen Skodawerke und von den wenigen anderen hohen Gebäuden in Pilsen abheben. Jan ist nicht nur stark betrunken und beruflich im Atom- und Urangeschäft tätig, sondern auch noch immer da, noch immer in Pilsen. Wie die große Synagoge. Die ist Europas zweitgrößtes, und der Welt drittgrößtes jüdisches Gotteshaus, überstand die Herrschaft der Nationalsozialisten in Tschechien als Lagerhalle, verfiel während der kommunistischen Zeit zusehend und wurde in den späten 90er Jahren vollständig saniert. Heute kann man sie besichtigen, es finden Konzerte und Veranstaltungen in ihr statt. Auch Jan holt seine Gitarre hervor und beginnt zu spielen. Knock, Knock, Knockin’ on Heaven’s Door. Von der Plattenbausiedlung geht man durch den Pilsner Zoo, in dem Affen Kot auf Glaswände schmieren und von dem kleine Kängurus gerne ausbüchsen, zurück zum Platz der Republik. Dort steht das nächste Gotteshaus, die erwähnte St.-Bartholomäus-Kathedrale. I feel I’m knockin’ on Heaven’s door. Kein Wunder, ist doch der Turm der gotischen Kathedrale 103 Meter hoch, gehört damit – wieder ein Superlativ – zu den höchsten Kirchtürmen Europas. Nach unzähligen Stufen steht man oben, genießt einen weiten Ausblick, der, wie Pilsner gerne erzählen, bei schönem Wetter sogar in den Böhmerwald reicht. Das Bemerkenswerteste an der Kathedrale findet man aber nicht auf der Spitze, sondern am Boden, genauer gesagt an der Rückseite. Dort gibt es ein Gitter mit kleinen Engelsköpfen. Einer davon nicht golden wie die anderen, sondern abgegriffen silbern. Das bringt Glück, glauben die Pilsner, und verharren so wenige Sekunden im Vorübergehen, den Engelskopf fest umklammert. I feel I’m knockin’.
Deftig essen und gut trinken
Weiter von der Kathedrale in eine kleine Gasse namens Riegrova. Dort findet der mittlerweile hungrige Magen das »U šenku“, ein bodenständiges Wirtshaus mit guten Preisen und noch besseren Speisen. Deftig wird gegessen, gut wird dort getrunken. Zum Schnitzel gibt es Essiggurken, rote dünne Vorhänge verhängen die Fenster, das Lächeln der Kellnerin mit den kaputt gefärbten blonden Haaren ist gerade und ehrlich. Hier trifft man Pilsner Originale, Arbeiter aus den Skodawerken und alte Herren, die, unabhängig der Tageszeit, zuerst türkischen Kaffee, und dann doch ein Bier bestellen. Wer es lieber etwas »nobler« mit Touristen und Familien hält, geht gleich gegenüber in das »Svejk“. Das Restaurant, ganz dem braven Soldaten gewidmet, wartet mit gemütlicher Atmosphäre und günstigen Tagesmenüs auf. Statt den üblichen Bier-Untersetzern aus Karton gibt es hier welche aus Porzellan, und Mahlzeiten werden mit einem Lift in die oberen Stockwerke gesendet. Die Küche befindet sich nämlich im Keller und ist, so sagen die Pilsner, für die große Menge an zubereiteten Speisen unglaublich klein. Wer sich nach einem Mahl näher mit der Jahrhunderte alten Brautradition in Pilsen beschäftigen will, dem sei der Besuch des Brauereimuseums in Pilsen (Pivovarské muzeum) angeraten. Es befindet sich wieder nur wenige Gehminuten vom Platz der Republik entfernt, in der Veleslavinovastraße. Dort bekommt man zwar nur 0,3 Liter Bier zur Verköstigung, erfährt dafür vieles rund um die Geschichte der Bierbrauerei. Unter anderem auch, dass der Slogan der Kulturhauptstadt, das englische »Open Up“, soviel wie »Öffne dir ein Bier« bedeutet. Hat man von den gruseligen Puppen in der Dauerausstellung noch nicht genug, so ist ein Besuch im Puppenmuseum ebenfalls angebracht. Die dortige, schon etwas ältere Aufseherin kann gut Deutsch, spricht es auch gerne und schaltet, wenn man ihr aufmerksam zuhört, die mechanische Animation einiger Zirkuspuppen ein.
Jugendstil, alt und schön und verfallen
Endlich weg vom Platz der Republik, an der Synagoge vorbei, kommt man in die Klatovskastraße. Dort schlendert man nicht nur an einem Denkmal vorüber, welches den amerikanischen Befreiern der Stadt 1945 gewidmet ist – für Fans gibt es zudem noch das »General Patton Museum« mit vielen amerikanischen Maschinengewehren und einen originalen Shermanpanzer im Zoo – sondern auch an einer Wohnung, die eine von zwei des österreichischen Architekten Adolf Loos gestalteten Wohnungen in Pilsen darstellt. Die Führungen durch diese Räumlichkeiten macht ein dicker Herr, dessen Frau auch beim aufwendigen Restaurieren einer Wohnung mithalf. Er hat, wie er begeistert erzählt, auch Originaltapetenstücke der Wohnung bei sich zu Hause, und findet Fragen zur Pädophilie von Adolf Loos höchstgradig unangenehm. Nichtsdestotrotz sind die einzigartige Spiegelwand in einem Looszimmer und seine Liebe zum Detail sehenswert. Im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres finden für ein ausgewähltes Publikum – in beide Wohnungen passen höchstens vierzig Menschen – dort auch Konzerte statt. Weiter, an der Looswohnung vorbei führen zahlreiche kleine Straßen zu bekannten Örtlichkeiten, wie das Striplokal »Pamela«, dessen Leuchtreklame in der Nacht verführerisch das Bein hochstreckt und in das Pilsner Nachtschwärmer – Männer wie Frauen – gerne mal gehen, da irgendwann Freitagnacht sämtliche anderen Lokale schließen, und netten Cafés wie das »Inkognito“. Das befindet sich gleich gegenüber von »Pamela«, dort hängen nicht nur gute philosophische Texte an der Tür zum stillen Örtchen – hier trinkt man seinen Kaffee stolz, man befindet sich schließlich im ersten genossenschaftlichen Café in Pilsen. Gleich in der Nähe ist aber auch ein sehenswertes, der Kunst von Friedensreich Hundertwasser nachempfundenes Haus in der Kollarovastraße, zwischen einem Hanfshop, dessen Besitzer sich gerne über ungerechtfertigte Polizeirazzien beschwert, und der zwielichtigen »Lucky Soldier Military Bar«, in der Veteranen griesgrämig in ihre Gläser starren. Die Straßen führen weiters in eine der schönsten Gegenden von Pilsen, in jene rund um den Jižní Předměstí, dem Südbahnhof. Dort erblickt man wundervolle, zierliche Häuser im Jugendstil. Viele mit herrlichen Verzierungen, kleinen netten Details und fantasievollen Wasserspeiern. Einige bereits renoviert, einige noch immer und immer mehr verfallen. Trotzdem unverständlich, dass man das riesige alte Staré Lázně, ein neoklassizistisches und wirklich beeindruckendes Stadtbad aus dem Jahre 1932, verkommen lässt, niemand dem Erhaltungsauftrag nachkommt und so eine private Firma heute darin Paintballschlachten stattfinden lassen darf. Aber: Das ist eben Pilsen. Mal renoviert, mal verfallen.
Pilsen als Ausgangspunkt
Die Stadt Pilsen ist sehenswert. Aber auch ihre unmittelbare Umgebung. So gibt es im Nordosten der Stadt zahlreiche Seen und schöne Waldgebiete. Noch weiter nördlich kommt man in den Ort Plaß (Plasy). Dort befindet sich nicht nur ein nationales Kulturdenkmal, das riesige Zisterzienserkloster, welches auf einem beeindruckenden Wassersystem erbaut wurde – und in dessen Räumlichkeiten es deswegen ausnehmend kalt ist –, sondern auch die letzte Ruhestätte des österreichischen Staatsmannes und Fürsten Klemens Wenzel Lothar von Metternich. Die Grabeskirche ist in einem denkbar schlechten Zustand, die Gräber der Diener, die je nach Rang näher zu Metternich begraben wurden, teilweise verfallen. Vom großen Kloster geht es dann in zirka einer Stunde Autofahrt zur ehemaligen Sommerresidenz der Mönche, zur heutigen Burgruine Krasov an den Talhängen des Flusses Beraun (Berounka), von der sich ein wahrlich toller Ausblick bietet, und in der Jugendliche am Lagerfeuer gebratenen Würsten und »lustigen Zigaretten« frönen. Von Krasov aus fährt man in einem weiten Bogen wieder zurück nach Pilsen und entdeckt während der Fahrt durch Wälder und hügelige Wiesen immer wieder kleine Dörfer, in denen sich Reste der österreichischen Zeit finden lassen, wie etwa Namen auf Gasthäusern und verblichene, in deutsch gehaltene Werbereklamen. Und kehrt dann zurück an die Tore von Pilsen, einer Stadt, in der sich vieles entdecken lässt – Schönes und Vergangenes, eben mal renoviert, mal verfallen, aber auf alle Fälle einen Besuch wert.
Weitere Informationen
Eine gute Übersicht aller Reisemöglichkeiten nach Pilsen finden Sie
auf den Webseiten pilsen.eu und czechtourism.com
Fazitreise, Fazit 113 (Juni 2015); Foto: Maximilian Tonsern
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