Im Reich der Sinne
Volker Schögler | 19. November 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 118, Fazitportrait
Fast wäre es nach genau 40 Jahren aus gewesen mit dem Reform- und Gewürzhaus Brantner in der Grazer Gleisdorfer Gasse. Neun Jahre nach dem Tod des Gründers haben seine Witwe und ein Sohn nun die Geschicke in die Hand genommen und buchstäblich nur die Straßenseite gewechselt. Ohne derartige Geschäfte wäre die Stadt ein Stück ärmer.
::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK
Der Brantner ist wieder da. Für Kenner genügt diese lapidare Feststellung, um sofort im Bilde zu sein und diese Fazitausgabe zur Seite zu legen. Erstens, weil sie schlagartig Bescheid wissen und keinen langen Artikel benötigen, der an der Aufgabe, den Brantner mit bloßen Worten zu beschreiben, ohnehin nur scheitern kann. Zweitens, weil sie sich sofort auf den Weg in die Gleisdorfer Gasse 10 machen, um zusätzlich zum Sehsinn auch den Geruchs-, den Geschmacks- und den Tastsinn zu verwöhnen. Zumindest werden sie ihren Tagesablaufplan so ändern, dass alles, was diesem Weg entgegensteht, geändert oder verschoben wird. (Weiterlesen zum Beispiel.) Alle anderen Leser können sich vom Versuch, besser zu scheitern, aber auf der Stelle selbst überzeugen.* Die Bezeichnung »Reformhaus & Gewürzstube« wird dem einzigartigen Charakter dieses alteingesessenen Grazer Geschäfts nicht gerecht. Nach Schließung im Juli dieses Jahres wechselte das Geschäftslokal zwecks Neueröffnung im Oktober die Straßenseite, nicht aber sein authentisches wie einfaches, sein attraktives wie appetitliches Erscheinungsbild. Die neue große Auslagenfront lässt dies bereits von außen erkennen: Wie schon die vier Jahrzehnte zuvor wird der Großteil der Ware offen, in großen Papier- und Stoffsäcken präsentiert. Einfachheit ist das Resultat von Reife, sagt Friedrich Schiller. Das ist zwar manchmal ganz unangebracht, aber oft so schön passend – wie auch hier: Wo wird Aug’ und Nas’ noch so geschmeichelt, wo werden Sinne noch so angeregt wie in einem Laden voller in- und ausländischer Gewürze, Kräuter, Trockenfrüchte, Nüsse, Öle, Getreide, Tee und Hülsenfrüchte?
* Bin ich meinem Amte in der Tat nicht gewachsen, so ist der Chef zu tadeln,
der es mir anvertraut. Friedrich Schiller
Immer der Nase nach
Noch entfaltet das neue Geschäft nicht ganz die olfaktorische Reizwolke des alten, das vom Jakomini- wie vom Kaiser-Josef-Platz schon mit dem Hinweis »Immer der Nase nach« leicht zu finden war. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. So einfach und archaisch die Gerüche, so sind auch die optischen Eindrücke in der Gleisdorfer Gasse 10. So wie es die stets delikaten Fotos der talentierten Marija Kanizaj mit dem geschriebenen Text tun, so versuchen auch Zimt und Koriander, mit üppig-eitler Form- und Farbenpracht die eigenen Düfte und Aromen mit optischen Reizen zu übertreffen. Wenn in riesigen, offenen, weißen Säcken dunkelgrüne Linsen, hellrote Linsen und hellgelbe Linsen neben dunkelroten Kidneybohnen, pistaziengrünen Spalterbsen und kaviarschwarzen Belugalinsen zusammen mit hell- und dunkelviolett gescheckten Käferbohnen, weißen Butterbohnen, beigen Wachtelbohnen, cremefarbigem Urid-Dal (Linsenart), gelbem Biopolenta und unzähligen tarnfarbigen Getreide- und Reissorten eine verschwenderisch-bunte Lebensmittellandschaft bilden, ahnt man die Nähe eines Gottes. Sieht man die veganen Wege der Töchter im milden Licht des farbigen Schauspiels der Natur und begreift die Vorliebe der Montessorikindergärten für Spielzeug aus Hülsenfrüchten, Maisstriezeln und Getreidekörnern. Auch der mit Maiskolben aufgefüllte Raum auf der aktuellen Biennale in Venedig scheint auf die Harmonie und Einfachheit der Dinge zu verweisen. Nicht auf das Internet der Dinge. Letzterem werden wir nicht entkommen, Ersteres dürfen wir nicht verlieren. Des Menschen Wille, das ist sein Glück, sagt Schiller.
Ungeplanter Neustart
Wie hier zu beweisen war, sorgt der Brantner offensichtlich auch für geistige Regung. Dabei ist es ein ziemliches Glück, dass es dieses Unternehmen noch gibt. Nachdem der legendäre Gründer Michael Brantner vor neun Jahren plötzlich verstorben ist, wurde das Geschäft von seiner Witwe Gerlinde noch weitergeführt, dann aber verkauft, da die gelernte Krankenschwester in Pension ging und die vier Söhne beruflich andere Wege eingeschlagen haben. Aber der Konkurs des Vorgängers im Sommer rief die Familie Brantner wieder auf den Plan. »So sollte das Lebenswerk meines Mannes nicht zu Ende gehen«, sagt die frischgebackene 69-jährige Jungunternehmerin, die rund 15 Jahre lang, aber eher nebenbei im Geschäft war. – Im Gegensatz zu ihrer heute 93-jährigen Mutter Adele Schwarz, die von Beginn an, ab 1975, die ursprünglich getrennte Gewürzstube geführt hat. »Erst am letzten Abverkaufs-
tag im Juli ist erstmals der Gedanke einer Weiterführung aufgetaucht«, so der zunächst sehr pragmatische Zugang von Martin Brantner. Der 38-Jährige wurde zu seiner eigenen Überraschung in den letzten drei Monaten doch zum Nachfolger seines Vaters Michael. Der gelernte Kfz-Mechaniker war selbstständig im Autohandel tätig und besucht an der Abend-HTL noch ein weiteres Jahr das Kolleg für Maschinenbau und Fahrzeugtechnik. »Das war jetzt schon ein Querschuss«, resümiert er. Aber mehrere günstige Umstände bewirkten eine gute Ausgangsbasis. »Ein Problem war sicher die hohe Miete im alten Geschäftslokal. Da ergab sich die Möglichkeit im schräg gegenüber liegenden Haus, das der Stadt Graz gehört. Die Miete reduziert sich um die Hälfte und es ist hell und modern. Außerdem kommt im Rahmen des Konkurses der Ausgleichsfonds für eine hohe Abfertigung einer Angestellten auf, der Name Brantner bleibt trotz Neugründung erhalten, weil wir ja wirklich so heißen, im neuen Geschäft ist endlich auch ein Lager dabei und eine verkehrstechnische Verbesserung haben wir durch einen Lieferanteneingang mit eigener Zufahrt durch den Hinterhof.«
Speck im Reformhaus
Der kluge Mann baut vor. Das hat Schiller auch gesagt. 110 Quadratmeter, davon 90 als Verkaufsfläche, 4 Mitarbeiter, insgesamt somit zu sechst, ein großer Kundenstock, viele Stammkunden, ein hypnotisierendes Warenangebot – siehe oben und unten dann auch gleich – klingt nach einem guten Businessplan. Ohne Schiller zu befragen. Apropos schräg – auch das war und ist ein zu Brantner gehörendes »Special«, das die Besonderheit erst ausmacht. Zum Brantnerschen Odeur der Gewürze, Kräuter und Früchte gehört eine ganz spezielle Note, die in einem Reformhaus äußerst ungewöhnlich und sicher einzigartig ist. Seit Anbeginn gehört hier Kärntner Speck vom »Schmölzer Bauern« zum Sortiment. Vor 1975 befand sich das Kaufhaus Glawischnig im alten Geschäftslokal und die Specknachfrage von damals hat sich bis heute erhalten. Gerlinde Brantner: »Als wir einmal bei einem anderen Kärntner Bauern Nachschub besorgt haben, hat das die Kundschaft sofort bemerkt. Das ist schon ein besonderer Speck.« Er ist der USP, das Alleinstellungsmerkmal des Hauses Brantner.
Offene Ware schafft Atmosphäre
Eigentlich genügte es ja, das restliche Warenangebot aufzuzählen, weil man als Kunde ohnehin niemals in der Lage sein wird, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen, so groß ist das Angebot. Was zugleich einen zusätzlichen Reiz ausmacht, weil man ständig Neues entdeckt. Aber es scheint schon ein Auftrag fürs halbe Leben, allein die Hundertschaft an handschriftlichen Etiketten zu lesen, angebracht auf schier unendlich vielen durchsichtigen Einweckgläsern für Gewürze und Gewürzmischungen, Kräuter und Kräutermischungen, auf durchsichtigen Zuckerl- vulgo Bonbonbehältnissen für Trockenfrüchte und Blüten oder den ebenfalls durchsichtigen Schütten für Müsli, diverse Flocken, Kakao, Nougat, Marzipan, Sonnenblumenkerne, Leinsamen, Sojaprodukte, Pistazien, Nüsse etc. pp. Ein paar seien trotzdem noch erwähnt, weil sie ebenfalls für die Originalität des Hauses stehen. Als da wären: Mandeln – ganz, gehobelt oder gestiftelt und wie erwähnt als offene Ware und daher auch in Kleinstmengen erwerbbar, sodann Biberwellwurzel oder Hauhechelwurzel, Teufelskralle, Herzgespann, Migränekiller (was immer das ist), Weihrauch, Flohsamen und Flohschalen, Galant, Bertram, Lombok. Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören, nein, Schiller hat damit nichts zu tun. Eines noch: In einem Eck steht ein Riesensack mit Kirschkernen. Was man damit macht? Vielleicht Kinderwärmflaschen? Man könnte hier unendlich viele Fragen stellen. Einige beantwortet das handgeschriebene »Mischbuch«, eine Art Rezept- oder Zauberbuch, das Kräuter- und Gewürzmischungen enthält und als Nachschlagewerk dient. Etwa für die Intelligenzkeks – relativierende Ironie ist beim Brantner also ebenfalls gefragt, zumindest aber sollte man beim Einkauf Schwerpunkte setzen, um sich nicht zu verlieren. Aber Gerlinde Brantner weiß im wahren Sinne des Wortes Rat: »Das ist eben auch der Unterschied zu großen Reformhausketten oder Supermärkten. Bei uns gibt es individuelle und persönliche Bedienung, Gespräch und Informationsaustausch.« Außerdem merkt man ihr an, dass sie lieber im Unruhe- als im Ruhestand ist.
Liebe auf den zweiten Blick
Martin Brantner gibt zu, dass er weder als Kind noch später besonderen Bezug zum Geschäft des Vaters hatte. »Vermutlich weil meine Brüder und ich selbstverständlich mit diesen gesunden Produkten gefüttert worden sind, und das hat nicht wirklich den Geschmack von uns Kindern getroffen.« Das hat sich geändert. »Der erste Ansatz, das Geschäft zu übernehmen beziehungsweise neu zu gründen, war vor allem eine wirtschaftliche Überlegung. Aber jetzt hat sich eine Sympathie und Liebe zu den wirklich guten und hochwertigen Produkten entwickelt.« Die Kunden wissen das sowieso und handeln auch entsprechend: Der Früchtetee »Obstgarten« war von Anfang an ein Selbstläufer; der Jahreszeit entsprechend sind Zitronenschale, Orangenschale und gemahlener Zimt gerade sehr begehrt. Aber warum die Leute zum Beispiel pro Woche an die 20 Kilogramm edelsüßen Paprika nachfragen und natürlich auch kaufen, weiß hier niemand. Hier. Gerlinde Brantner blickt nach oben und hat keine Zweifel; der legendäre Firmengründer Michael Brantner hat etwas damit zu tun.
Reformhaus & Gewürzstube Brantner
8010 Graz, Gleisdorfer Gasse 10
Telefon 0316 822123
reformhaus-brantner.at (In Kürze online.)
Fazitportrait, Fazit 118, (Dezember 2015) – Foto: Marija Kanizaj
Kommentare
Antworten