Politicks Dezember 2015
Johannes Tandl | 19. November 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 118, Politicks
EU-Schönwetterpolitik statt Krisenmanagement
Die Europäische Union befindet sich in einem miserablen Zustand. Nach der Eurokrise zeigt sich die Flüchtlingskrise neuerlich, worin das fundamentale Problem der Union liegt. Überforderte Politiker in den Mitgliedsstaaten und der Kommission haben Angst, die persönliche Wohlfühlzone zu verlassen, und weigern sich, die rechtsverbindlichen Verträge, auf denen das supranationale Konstrukt der Union beruht, mit den erforderlichen Konsequenzen durchzusetzen.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sind die Speerspitzen dieser europäischen Schönwetterpolitik: So erklären beide, dass etwa die Defizitregeln der Eurozone von allen Mitgliedsländern einzuhalten seien. Wenn es darum geht, den Worten die vertraglich vereinbarten Taten folgen zu lassen, haben sie jedoch eine Heidenangst davor, etwa den französischen Ministerpräsidenten François Hollande zu brüskieren. Und so kann Frankreich seine abenteuerliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ungehindert fortsetzen, obwohl diese längst die ökonomische Zukunft ganz Europas gefährdet. Dabei sind die französischen Sozialisten ohne Druck aus Brüssel einfach viel zu schwach, um die notwendigen Reformen gegen den Willen von Gewerkschaften und NGOs durchzusetzen. Aber zur europäischen Realverfassung gehört es eben, dass Regeln, die für die kleinen Mitgliedsstaaten gelten, bei den großen keine Anwendung finden.
Orbán wird heftig kritisiert, weil er alle Flüchtlinge registrieren wollte
Das zeigt sich auch bei der Flüchtlingskrise. Heute fordern Frau Merkel und Herr Juncker im Gleichklang den Schutz der EU-Außengrenzen und des Schengenraums. Dabei hat doch erst die deutsche Kanzlerin die Flüchtligslawine losgetreten. Merkels Einladung an die Flüchtlinge, nach Deutschland zu kommen, beruhte auf dem Umstand, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán darauf bestanden hatte, nur Schutzsuchende nach Ungarn ein- oder aus Ungarn ausreisen zu lassen, die zuvor entsprechend den Dublin-Regeln registriert worden waren. Und weil sich die Flüchtlinge weigerten, ist es zur Eskalation auf dem Budapester Bahnhof und zum Marsch Tausender Richtung Wien gekommen. Auch danach hat sich Orbán als Einziger an die Schengenregeln gehalten und die ungarischen Schengen-Außengrenzen zu Serbien und Kroatien vor dem unkontrollierten Ansturm geschützt. Dass lange zuvor Griechenland und Italien damit begonnen hatten, die Flüchtlinge einfach durchzuwinken, ohne sie zu registrieren oder gar in ein Asylverfahren zu nehmen, wurde und wird weiterhin hingenommen. Dieser hilflose Umgang mit den Problemen ist in Wahrheit ein Offenbarungseid der EU.
Anscheinend braucht die Staatengemeinschaft eine oder gar mehrere Katastrophen. Und so ist nach jahrelangem Herumgemurkse nicht einmal der Zusammenbruch des Euros vom Tisch. Mit dem Zustrom Hunderttausender, wenn nicht Millionen aus dem Nahen Osten und Afghanistan, vom Balkan und aus Afrika hat die europäische Zerrissenheit eine neue Stufe erreicht. Inzwischen wird sogar das Auseinanderbrechen der Union hingenommen: Denn osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien oder die Slowakei weigern sich bekanntlich beharrlich, irgendwelchen verbindlichen Quoten zur Aufnahme moslemischer Migranten zuzustimmen, und auch alle anderen EU-Staaten mit Ausnahme von Österreich, Deutschland und Schweden, das nun ebenfalls Grenzkontrollen eingeführt hat, lassen die Flüchtlinge nur durchreisen, verweigern jedoch die Aufnahme.
Auch das schwierige deutsch-polnische Verhältnis ist gefährdet
Die moralisierenden Töne aus Deutschland gefährden längst mehr als nur das deutsch-polnische Verhältnis. So findet die hanebüchene Idee von Werner Faymann, die EU-Fördertöpfe für alle Mitglieder zu sperren, die keine Flüchtlinge aufnehmen, in Deutschland eine besonders große Zustimmung. Bei den Osteuropäern, die den Gutteil der EU-Strukturmittel erhalten, sorgt diese Forderung für Verwunderung und Kopfschütteln. Ernst genommen werden solche Drohungen bisher aber zum Glück nicht.
Den Eifer, mit dem sich Deutschland aus Sicht der Osteuropäer freiwillig selbst islamisiert, versteht dort niemand. Und auch die Vorwürfe, dass man selbst keine Flüchtlinge wolle, nicht. So hat das vielgescholtene Polen in den letzten beiden Jahren hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Bei diesen Menschen handelt es sich jedoch nicht um Asylwerber und offizielle Asylanten, sondern um Schutzbedürftige, die sofort eine befristete Aufenthalts-, Studien- oder Arbeitsgenehmigung erhielten. Die Polen sprechen von 500.000 Ukrainern, die sich seit 2013 in ihrem Land niedergelassen haben. Dass der Wahlsieg der europakritischen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) bei den Wahlen zum polnischen Parlament in Deutschland mit zunehmendem Rechtspopulismus erklärt wurde, passt zur veröffentlichten Meinung der deutschen Leitmedien und leistet so einen Beitrag zur Europafeindlichkeit. Es stimmt zwar, dass die polnische PiS im Wahlkampf mit den Ängsten vor den Flüchtlingen gespielt hat. Gewonnen hat sie jedoch wegen ihrer linkspopulistischen Versprechungen im sozialen Bereich.
Die Integration in die Berufswelt kann nicht gelingen
Deutschland, Österreich und Schweden erreichen inzwischen die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft. Die Zahl der Migranten ist so stark angewachsen, dass eine Integration in die Gesellschaft kaum mehr möglich erscheint. Außerdem haben die Parteien – mit Ausnahme von Kommunisten und Grünen – damit begonnen, die Bevölkerung darauf vorzubereiten, dass sich die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt schwieriger als zuerst angenommen erweisen dürfte. Denn kaum ein Zuwanderer spricht Deutsch oder ausreichend Englisch oder hat eine Ausbildung, die den Anforderungen der Unternehmen entspricht. Natürlich kann man die integrationswilligen Flüchtlinge schulisch bilden und beruflich qualifizieren. In einer Epoche, in der die Arbeitslosigkeit wegen der anhaltend schwachen Konjunktur und der anstehenden vierten industriellen Revolution zu explodieren droht, wird das jedoch nicht genügen, um die erste Generation der Migranten auch beruflich zu integrieren.
In Österreich reiben sich Rot und Schwarz auch beim Flüchtlingsthema
Ähnlich dilettantisch wie auf EU-Ebene wird das Flüchtlingsthema bei uns in Österreich abgearbeitet. Der rote Bundeskanzler Werner Faymann und der schwarze Vizekanzler Reinhold Mitterlehner gaben sich kürzlich wegen der Frage, ob der Flüchtlingsstrom mit Hilfe eines Zauns oder mit einer »Zugangsbarriere« gesteuert werden soll, der Lächerlichkeit preis. Aber vielleicht haben die überforderten Strategen den beiden Regierungsparteien auch dazu geraten, dieses Thema zu nützen, einschlägige Signale an die Wähler auszusenden, ohne die eigene Reformunfähigkeit zu offenbaren. Dass diese Rechnung nicht aufgehen wird, kann man sich denken. Die ideologische Schnittmenge zwischen SPÖ und ÖVP ist offenbar abgearbeitet. Bis zu den Wahlen im Jahr 2018 ist es jedoch noch lange hin.
Aber obwohl die beiden Parteien augenscheinlich nicht mehr miteinander können, wird es keine Erlösung in Form von vorgezogenen Wahlen geben. Die SPÖ könnte nämlich im besten Fall wieder nur Kanzlerpartei werden. Dafür kann es sich die ÖVP aussuchen, ob sie in einer rotschwarzgrünen, einer rotschwarzpinken oder einer blauschwarzen Regierung den Vizekanzler stellt. Was die Umfragen anlangt, liegt die FPÖ derzeit mit einer Zustimmung von 32 Prozent klar vor der SPÖ mit 24 und der ÖVP mit 21 Prozent. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die SPÖ schon bald das Duell Faymann gegen Strache ausrufen wird. Schließlich hat Ähnliches bei der Wien-Wahl hervorragend funktioniert. Die ÖVP muss sich daher dringend überlegen, was sie tun kann, um weiterhin vom Wähler wahrgenommen zu werden. Am besten wäre natürlich, wenn der Flüchtlingsstrom zum Erliegen käme. Doch dazu müsste Slowenien die Grenze zu Kroatien dicht machen und nur mehr registrierte Flüchtlinge ins Land lassen. Danach könnte die ÖVP das Innenressort neu besetzen, um mit einer »griffigen« Integrations- und Abschiebepolitik bei den Wählern zu punkten. Entsprechende Überlegungen werden dem Vernehmen nach bereits entwickelt.
Die ÖVP soll übrigens auch geplant haben, Heinz-Christian Strache zum Wiener Bürgermeister zu machen und mit der FPÖ gleichzeitig den Koalitionspartner in der Bundesregierung zu wechseln – mit Mitterlehner als Kanzler. Dazu hätte die Partei jedoch erstens bei der Wien-Wahl wesentlich besser abschneiden und zweitens noch mehr Abgeordnete vom Team Stronach absaugen müssen.
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Politicks, Fazit 118 (Dezember 2015)
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