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Noch ist Polen nicht überlaufen

| 22. Dezember 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 119, Fazitreise

Foto: Paul Jeannin

Nach äußerst wechselvoller Geschichte, nach fast einem halben Jahrhundert hinter dem Eisernen Vorhang und nach einem Vierteljahrhundert in Freiheit, präsentiert sich das sechstgrößte Land Europas heute am Beispiel Schlesien als prosperierender Staat, der auch seine elfjährige Mitgliedschaft bei der Europäischen Union geschickt zu nutzen weiß. Ein Land zum Urlaubmachen.

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Wäre Polen schon eine angesagte Urlaubsdestination – was es nicht nur wegen des Klimawandels noch werden wird –, wäre folgendes Szenario wahrscheinlich: Eine Zeitungsbeilage mit dem Titel »Reisen«, in Großbuchstaben, darunter viel Weißraum und noch der Untertitel »Auf in die Welt« (oder so ähnlich) und – wichtig – ein schönes Foto, zum Beispiel mit Reisekoffer (antik, trotzdem smaragdgrün) und Globus (noch antiker), ausschnittsweise natürlich nur, dafür Großaufnahme und detailverliebt. Was für eine schöne Vorstellung. Eine imaginäre, aber hippe Werbeagentur textet dazu: »Eine schöne Vorstellung. Für manche; für viele; für Reiseliebhaber, Fernwehkranke – reisen, ach wie schön. Romantisch? Romantisierend gar? In der Jugend, ja, damals, aber heute? In die Jahre gekommen, müde geworden? Nicht müde, eher ängstlich: das ungewohnte Essen (ha, Gewohnheit!), die Strapazen (der Gelenksrost!), die Tsetsefliegen (die Gesundheit!) und überhaupt, die Gefahr …? Aber, aber. Man muss ja nicht im Sommer nach Dubai, noch dazu fliegen und den ökologischen Fußabdruck noch tiefer in Mutter Erdes Antlitz versenken. Ist das ein falscher Genetiv? Man könnte ja einfach mit dem Auto, naja, ein paar hundert Kilometer sind schon o. k., oder? Aber schon wieder Kroatien? Und schon wieder Italien? In Böhmen und Mähren waren wir auch gerade vor ein oder zwei Jahren. Was ist denn dann das Nächste, nein, nicht Ungarn, weiter oben, nein auch nicht Deutschland, aber gleich daneben, was ist denn da? Polen! Riesengroß, reicht bis zum Meer rauf und so tief herunter, dass es nicht wirklich weit ist. Aber Polen? Was wissen wir über Polen?«

Der Spezialist zur Geschichte
Fazit hat zur letzteren Frage den langjährigen Honorarkonsul der Republik Polen, den ehemaligen Landesamtsdirektor der Steiermärkischen Landesregierung, Gerold Ortner, konsultiert. Er ermöglichte die Einladung zu einer Pressereise nach Kattowitz (Katowice) in Schlesien durch das polnische Fremdenverkehrsamt. Ortner: »Obwohl Polen mit 38,2 Millionen Einwohnern fast fünfmal so groß ist wie Österreich, ist dieses Land bei uns noch relativ wenig bekannt. Das ist eigentlich kein Wunder. Polen war auf der Landkarte als selbstständiger Staat lange Zeit hindurch ausradiert. Zuerst war Polen Jahrhunderte hindurch auf andere Staaten aufgeteilt. Das nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandene Polen wurde im Jahre 1939 von Hitler und Stalin in einer seltsamen Waffenbrüderschaft überfallen und aufgeteilt. Nach den Jahr 1945 verschwand dieses Land hinter dem Eisernen Vorhang.«

Für die neue Regierung liegt die Latte hoch
So blieb der Staat bis zur Wende im Jahr 1989 für den Westeuropäer weitgehend unbekanntes Terrain. Aufstände der Polen wurden von sowjetischen Panzern niedergewalzt. Der Widerstand der Polen konnte aber nicht gebrochen werden. Der polnische Papst Johannes Paul II. und der Arbeiterführer Lech Walesa waren die großen Leitfiguren im Kampf gegen den Kommunismus. Heute ist Polen ein souveräner Staat mit funktionierender Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Polen ist Mitglied der Europäischen Union und der Nato. Zur Zeit der Wirtschaftskrise ab 2008 war Polen neben dem kleinen Malta das einzige Land mit einem Wirtschaftswachstum. In der Europäischen Union spielt Polen eine immer größere Rolle, so wurde etwa der polnische Ministerpräsident Donald Tusk Präsident des Europäischen Rates. Seit August 2015 ist Andrzej Duda von der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) neuer Staatspräsident. Im Oktober hat die nationalkonservative PiS von Jaroslaw Kaczynski auch die Parlamentswahlen gewonnen, wodurch das Land einen deutlichen Rechtsruck erfährt. Was durchaus wertfrei gesehen werden kann, vor allem wenn man Österreicher ist und an die nächste Nationalratswahl denkt. Mit acht Jahren Wirtschaftswachstum (etwa vier Prozent im 10-Jahres-Durchschnitt) und Rückgang der – relativ hohen – Arbeitslosigkeit (von 13,5 Prozent im Jahr 2013, auf 12 Prozent in 2014 und voraussichtlich 10,6 Prozent in 2015) unter Tusk (und seiner Nachfolgerin Ewa Kopacz, beide von der liberal-konservativen Bürgerplattform PO) liegt die Latte in Polen jedenfalls hoch.

Mit dem Auto nach Polen
Zum Glück sind das aber genau die Dinge, die uns Durchschnittstouristen nicht wirklich interessieren. Wir sind alle Touristen und wir fahren auch nach Dubai, siehe oben. Sogar im Sommer. Das Meer hatte 40 Grad, manche mögen das. Und es war keine Pressereise. Da wir nun schon beim Autor sind: Ja, ich war auch schon vorher in Polen. Mit dem Auto. Eine Rundreise über Krakau, Tschenstochau bis zur Hohen Tatra – und es war traumhaft. Was für ein schönes Land. Damals, vor drei Jahren, waren Polenwitze für mich noch ganz o. k. – mein 18-jähriger Mercedes war zumeist das älteste Auto auf der Straße – heute weiß ich: Fettnäpfchenalarm, diese Witze werden nicht gern gehört. In Polen. Außer von Radek Knapp, empfehlenswerter polnischer Schriftsteller in Wien (»Herrn Kukas Empfehlungen«, »Gebrauchsanweisung für Polen«) und Österreicher. Außerdem hängen Wirtschaftswachstum und bessere Autos nun einmal zusammen. Und ganz im Ernst natürlich der EU-Beitritt – womit wir wieder bei der Pressereise nach Schlesien sind. Da Schlesien, das seine Grenzen auch immer wieder verändert hat, in Südpolen liegt, ist der Anreiseweg mit dem Auto beziehungsweise mit dem Bus in der Tat nicht allzu weit.

Plötzlich wurden die Straßen auch für Nettozahler besser
Nach Kattowitz sind es ab Graz unter 600 Kilometer. Dank der Reisefreiheit waren keine Grenzen zu bemerken, auffällig war der Grenzübertritt nach Polen aber trotzdem: Schlagartig wurden die Straßen besser. Und das nicht unbedingt im Vergleich zu den slowakischen, sondern vor allem zu den österreichischen. Zur Erkenntnis, dass der Schein nicht trügt, verhalf uns der österreichische Handelsdelegierte Karl Schmidt, der uns im empfehlenswerten Hotel Angelo in Kattowitz erwartete. Dieser unser Mann in Warschau kennt Polen in- und auswendig. So wusste er zu erzählen, dass Polen in der Union der größte Bezieher von EU-Geldern ist, was die wohlvorbereiteten Journalisten nicht überraschte. Als er näher ausführte, dass es sich um 85 Milliarden Euro handelt, die dafür aus dem Kohäsionsfonds ausgeschüttet werden, wuchs das Interesse merkbar. Die Information, dass davon 22,5 Milliarden Euro allein für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen fließen, führte schließlich zur entsprechenden Erkenntnis, die genauso schlagartig war, wie die Straßen nach der Grenze besser. Wenn Reisen nicht so ermüdete, wäre es genau der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über Nettozahler gewesen. Dagegen sprachen aber zwei Dinge. Erstens mussten wir Journalisten uns noch auf ein Treffen am folgenden Tag mit Malgorzata Manka-Szulik vorbereiten. Das ist die Stadtpräsidentin, vulgo Bürgermeisterin, der Stadt Zabrze. Man sieht, polnische Namen setzen der ungeübten Aussprache enge Grenzen. Daher kann man statt Zabrze auch Hindenburg sagen. Die Nennung der alten deutschen Städtenamen wird nicht mehr als politisch unkorrekt empfunden, seit es (wieder) Witze und entsprechende Filme über den geben darf, für dessen (Mach-)Werk nach Ablauf der 70-jährigen Regelschutzfrist die Urheberrechte enden und ab 2016 der Neudruck erlaubt sein wird. Beim Barte des Charlie Chaplin, der Satz war wirklich ein Kampf, meiner sozusagen. In Zabrze stellte sich dann übrigens heraus, dass das dortige Fußballstadion früher seinen Familiennamen trug. Nein, nicht von Chaplin, und warum fällt einem da das Liebenauer Stadion ein? Geschichte(n) wiederholen sich. Eine Polenreise wird für einen Österreicher noch lange eine Reise in die Vergangenheit sein, eine Bildungsreise sozusagen.

Strukturwandel zum »postindustriellen Tourismus«
Zweitens weiß Schmidt so viel über Polen, dass Zuhören sich wieder einmal als lohnender herausstellte. Erstaunlich ist zum Beispiel der Strukturwandel Polens vom Bauernstaat zum »Supply-Chainer«, sprich Vorfertiger von Produkten. Das Land gehört heute zu den 25 größten Volkswirtschaften der Welt und gewinnt auch in der EU an Bedeutung. Stark am Wachstum beteiligt waren im Vorjahr der Außenhandel, die Industrie, die Finanzwirtschaft, die IT-Branche und die Transportwirtschaft; negativ fielen nur Bau und Investitionen aus, und der Konsum der privaten Haushalte entwickelte sich schwach. Einen Schatten wirft natürlich auch die Ukraine-Krise in unmittelbarer Nachbarschaft, Stichwort EU-Sanktionen gegen Russland, und im Gegenzug Importsperre für polnische, aber auch österreichische Lebensmittel. Dafür ist in Polen etwa die Pensionsreform erledigt. Das Pensionsantrittsalter wird schrittweise auf 67 Jahre angehoben, für Männer und Frauen.

In Schlesien bin ich gewesien *
Zurück zu Schlesien: Es ist mit 4,6 Millionen Einwohnern die zweitgrößte der 16 polnischen Verwaltungsbezirke (Woiwodschaften). Rund um in die Hauptstadt Kattowitz (300.000 Einwohner) erstreckt sich das »polnische Ruhrgebiet«, ein Städtekranz, in dem mehr als drei Millionen Menschen leben. Eine Stadt geht in die andere über. Im Industriegebiet rund um Kattowitz wurden nach dem teilweisen Niedergang der Schwerindustrie moderne Strukturen geschaffen. Das Ganze wird »postindustrieller Tourismus« genannt und auch so vermarktet. Dabei hilft es, dass mehr als 30 Prozent Schlesiens von Wald bedeckt sind. Nachdem im Jahr 1790 erstmals Kohle gefunden wurde, entwickelte sich diese Gegend zu einer gigantischen Bergbauregion. Die polnische Steinkohle ist bis heute Legion. Aber seit dem Rückgang der Nachfrage mussten viele Zechen schließen oder heruntergefahren werden. So förderte man im Kohlebergwerk Guido (nach Guido Henckel von Donnersmarck, quasi der Bill Gates des 19. Jahrhunderts) bis zu 220 Millionen Tonnen Kohle pro Jahr (Rekordjahr 1979). Dann waren es nur mehr 60 bis 70 Millionen. Am Beispiel Guido zeigt sich der Strukturwandel besonders gut: Von den insgesamt 16 Millionen Touristen im Jahr 2014 (vorwiegend aus Deutschland) besuchten allein 135.000 das Schaubergwerk Guido, Tendenz steigend. Und es war schon ein Erlebnis, 320 Meter unter der Erde ein Restaurant zu besuchen und ein typisch schlesisches Mahl kredenzt zu bekommen: Zurek, eine Suppe mit Sauerteig, Gemüse und eventuell Fleisch, ähnlich einem Eintopf, als Hauptspeise eine Rindfleischroulade, gefüllt mit Bauchfleisch vom Schwein und Blaukraut und als Nachspeise Kovaćs; das sind drei Sorten Kuchen (Apfel, Mohn und Topfen). Die schlesische Küche ist keine Diät. Naturliebhaber kommen auf der Adlerhorstroute in der Tschenstochauer Jura mit ihren unzähligen Burgen, Ruinen und Türmen auf ihre Rechnung oder im Schlesischen Park zwischen Königshütte und Kattowitz: In diesem größten Park Europas (!) hat man es mit mehr als 600 Hektar zu tun und bewegt sich am besten mit dem horizontal verlaufenden Sessellift vorwärts. Am eindrucksvollsten kommt der postindustrielle Tourismus in Kattowitz selbst zum Ausdruck. Auf einer riesigen ehemaligen Kohlenmine in Zentrumsnähe stehen neben dem untertassenförmigen Spodek, einer Ufo-ähnlichen Sport- und Veranstaltungshalle mit Wahrzeichencharakter, gleich drei neue Komplexe, die das Stadtbild prägen, die allesamt erst in den letzten Jahren entstanden sind und die aus Kattowitz eine Kongressstadt mit Kulturanspruch machen: Das beeindruckende in Schwarz wie Kohle gehaltene Kongresszentrum mit 35.000 Quadratmetern und Platz für 15.000 Gäste, das 14 Meter unter der Erde befindliche Schlesische Museum der Grazer Architekten Riegler und Riewe mit Glaskuben, die mehrere Meter aus der Erde ragen und das Museum mit Tageslicht versorgen, sowie die neue Konzerthalle des polnischen Rundfunksymphonieorchesters mit einem Saal für 1.800 Personen, dessen Innenvertäfelung mit Alaskazeder für Höhepunkte der Akustik sorgen soll. Auch diese neue Identität einer überkommenen Schwerindustrie- und Bergwerksstadt wurde etwa zur Hälfte mit EU-Geldern gefördert. Dazu passt ein polnisches Sprichwort: Wie wir etwas sehen, hängt davon ab, wo wir sitzen.

* Slogan einer Werbeagentur

Weitere Informationen
Kattowitz (polnisch Katowice, schlesisch Katowicy) ist die Hauptstadt des polnischen Verwaltungsbezirkes (Woiwodschaft) Schlesien und befindet sich im Süden des Landes nahe der tschechischen und slowakischen Grenze. Es hat rund 300.000 Einwohner und ist damit die zehntgrößte Stadt Polens. Die Metropolregion, dessen Zentrum die Stadt bildet, hat insgesamt um die 3,5 Millionen Einwohner.


polen.travel
bip.um.katowice.pl
fb.com/polnisches.fremdenverkehrsamt

Fazitreise, Fazit 119 (Jänner 2016, 10/2015), Foto: Paul Jeannin

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