Rede zum Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen
Redaktion | 17. Februar 2016 | 1 Kommentar
Kategorie: Essay, Fazit 120
Warum wir die Rede eines Politikers abdrucken In Österreich ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán unter anderem wegen seiner Migrationspolitik höchst umstritten. Um den Lesern auch ein weiteres Bild dieses Politikers zu vermitteln, drucken wir in dieser Ausgabe eine bemerkenswerte, von Toleranz und Mitgefühl geprägte Gedenkrede ab, die Orbán anlässlich des Jahrestages der Vertreibung der Ungarndeutschen am 16. Jänner in Budaörs/Wudersch gehalten hat. Denn anders als andere osteuropäische Staaten hat sich Ungarn unter Viktor Orbán dazu entschlossen, den Umgang mit der deutschsprachigen Minderheit in den Jahren zwischen dem zweiten Weltkrieg und der Wende offensiv aufzuarbeiten. So gibt es inzwischen eine jährliche Gedenkfeier zur Erinnerung an die Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit der Ungarndeutschen. Die deutschsprachigen Ungarn hatten sich in der Zwischenkriegszeit gegen den Magyarisierungsdruck aufgelehnt und in großer Zahl den Nazis angeschlossen. Viele Deutschungarn waren Angehörige der SS und in die Verbrechen des Nationalsozialismus involviert. Entsprechend gnadenlos war nach dem Krieg der Umgang mit der deutschsprachigen Minderheit. So wurden viele Ungarndeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt oder in Ungarn nach Entnazifizierungsverfahren enteignet, entrechtet und zwischen 1946 und 1948 auf Basis des Potsdamer Abkommens nach Deutschland, zuerst in die amerikanische, später auch in die russische Besatzungszone vertrieben. Ausgesiedelt wurden alle ungarischen Staatsbürger, die sich im Jahr 1941 zur deutschen Nationalität oder Muttersprache bekannt oder die Magyarisierung ihres Namens rückgängig gemacht hatten. -jot/cak-
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Viktor Orbán ist graduierter Jurist und prägt die ungarische Politik seit der Wende in führender Position. Er war im Jahr 1988 Mitbegründer der Allianz junger ungarischer Demokraten (Fidesz). Seit 1993 ist er Vorsitzender von Fidesz. Unter seiner Führung änderte er die Ausrichtung der ehemals liberalen Jugendpartei auf einen Mitterechtskurs. Fidesz ist heute Mitglied der Europäischen Volkspartei. Im Westen galt Orban lange Zeit als Garant für den demokratischen Wandel Ungarns. Orban war von 1998 bis 2002 erstmals Ministerpräsident. Unter seiner Führung vollzog Ungarn den Beitritt zur Nato. Zum zweiten Mal wurde Orban 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt – diesmal mit einer absoluten Fidesz-Mehrheit. Seitdem wird gegen ihn der Vorwurf erhoben, die Rechte von Opposition und Medien systematisch einzuschränken.
Ich begrüße recht herzlich den Vertreter der deutschen Regierung, Herrn Koschyk. Ich begrüße Barnabás Lenkovics, den Präsidenten des Verfassungsgerichtes, und die Mitglieder des Verfassungsgerichtes. Ich begrüße die Vertreter der Nationalitäten Ungarns, den Herrn Bürgermeister. Ich begrüße den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Künste sowie die Vertreter der historischen Kirchen. Und ich begrüße einen jeden, der heute hierher nach Wudersch gekommen ist, damit wir uns gemeinsam an eines der schmerzvollen und unwürdigen Ereignisse der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zu erinnern.
Die Neunzehnvierzigerjahre lassen die zusammenhängende Leidensgeschichte Ungarns vor unseren Augen erstehen. Besetzungen, Verschleppung und Vertreibung, einander folgende Waggons, Trauerzüge. Die Akzente, die Ziele, die Gründe und Motive mochten unterschiedlich sein, jedoch war die Konklusion unverändert. Als Ungarn besetzt wurde – ganz gleich ob vom Osten oder vom Westen aus –, das Ergebnis wurde unermessliches Leid. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeugt davon, dass wenn Ungarn seine Unabhängigkeit verlor, es dann seine eigenen Bürger, jene Menschen, zu deren Schutz und zur Bewahrung ihrer Werte das Land berufen gewesen wäre, es diese verstieß, ausplünderte, vertrieb und in eine extrem ausgelieferte Lage geraten ließ. Es ist eine Lehre für die Ungarn für alle Zeiten, der Ankunft einer derartigen Welt, in der ähnliche Verordnungen und Listen entstehen könnten, nicht die geringste Chance zu geben. Es ist eine Warnung für alle Zeiten, dass nur die starke Regierung eines souveränen Landes in der Lage ist, seine Staatsbürger der unterschiedlichsten Nationalität vor den äußeren Kräften und den die äußeren Kräfte bedienenden inneren Anhängern zu schützen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor siebzig Jahren, am 19. Januar 1946 verließ Ungarn der erste Eisenbahnzug, der unsere vertriebenen deutschen Landsleute nach Deutschland transportierte. Allein am 19. Januar, an einem einzigen Tag nahm man tausend Menschen mit. Bis zum Anfang des Februar war Wudersch bereits vollkommen leer, und bald ereilte landesweit hunderte von Siedlungen, in denen Schwaben – wie man die Ungarndeutschen in Ungarn nannte – lebten, ein ähnliches Schicksal. Die offizielle Bezeichnung lautete Aussiedlung, doch dieses Wort hatte mit der Wahrheit nichts zu tun. Was Aussiedlung genannt wurde, bedeute die Ausplünderung und die Vertreibung der ungarischen Schwaben.
Sie wurden ihrer Häuser und sie wurden ihrer Heimat beraubt. Von ihrem früheren Leben durften sie in die niedergebombten Städte Deutschlands so viel mitnehmen, wie in ein Bündel von 50 Kilogramm hineinpasste. Und nicht nur jene mussten ihr Zuhause verlassen, die während des Weltkriegs in die deutsche Armee rekrutiert worden waren. Um auf die Liste zu kommen, reichte es aus, wenn jemand sich selbst als Person deutscher Nationalität bezeichnete oder sich zwar als Ungar bekannte, aber das Deutsche seine Muttersprache war, und es reichte auch aus, wenn man über ihn wusste, dass er Ungarn so sehr liebte, dass er niemals die kommunistische Partei wählen würde.
Vor siebzig Jahren ereignete sich in Ungarn und in zahlreichen anderen Ländern Europas eine als Aussiedlung getarnte Deportierung. Und es gab keine einzige nüchtern denkende verantwortliche Person, auch die Vertreter der Siegermächte mitinbegriffen, die sich dem entgegengestellt hätte. Dies waren Zeiten, in denen Europa der Verführung durch wahnsinnige Gedanken nicht widerstehen konnte. Statt des Widerstandes, statt sein christliches Selbst zu behalten, hat es sich ergeben. Es hat gleich zweimal kapituliert, nacheinander. Zuerst gab es der Verführung durch den Nationalsozialismus, dann der durch den internationalen Sozialismus nach. Es ist der traurige gemeinsame Nenner des National- und des internationalen Sozialismus, dass sie beide auf Grundlage des Prinzips der Kollektivschuld ganze Völker in Viehwaggons trieben.
Die Ungarndeutschen können bis auf den heutigen Tag eine Kultur die ihrige nennen, deren Fäden tief in das Gewebe der ungarischen Kultur eingeflochten sind. Wenn wir diese Fäden herauszögen, so würde das gesamte Gewebe zerfallen. Die ungarische schwäbische Gemeinschaft stellt einen organischen und unveräußerlichen Bestandteil der ungarischen Kultur dar. Wenn vor siebzig Jahren die Vertriebenen all das mitgenommen hätten, was die Ungarndeutschen oder Menschen deutscher Abstammung seit ihrer Ansiedlung für die ungarische Wirtschaft und Kultur getan hatten, dann wäre Ungarn heute bedeutend ärmer. Sie hätten zum Beispiel unsere erste nationale Literaturgeschichte – von Ferenc Toldy – mitnehmen können, unter anderem auch das Parlament – Imre Steindl – und das Gebäude des Kunsthistorischen Museums – Ödön Lechner – sowie einen bedeutenden Teil des ungarischen Druckwesens, Maschinenbaus und der Medizin. Ungarn war einst die Heimat von mehr als einer halben Million von Familien, die auf ihre deutschen Wurzeln stolz sowie fleißig waren und auf ihren eigenen Füßen standen. Wir lebten über lange Jahrhunderte hinweg zusammen und zu Hunderttausenden liegen deutsche und ungarische Soldaten europaweit nebeneinander in der Erde. Die Sorgen und Mühen des Alltags haben wir gemeinsam gelöst, so wie wir auch Ungarn nach den Verwüstungen der Kriege gemeinsam wiederaufgebaut haben. Und wir haben viel voneinander gelernt.
Wir, Ungarn, haben von den schwäbischen Menschen zum Beispiel gelernt, das die tätige, fleißige Arbeit der einzig mögliche Weg zum erreichen ehrlichen Wohlstandes ist. Die Ungarndeutschen haben über dieses gemeinsame Schicksal Zeugnis abgelegt, als sie sich unter der Fahne von Kossuth aufreihten statt unter der Fahne mit dem Doppeladler. Dies bekräftigten sie, als sie Schulter an Schulter mit den Ungarn an den Fronten des Ersten Weltkriegs kämpften. Diese Zusammengehörigkeit bekundeten sie auch bei der 1941-er Volkszählung, als sie sich als Personen ungarischer Nationalität, aber deutscher Muttersprache bezeichneten. Und schließlich gaben sie ebendiesem Gefühl nach, als einige Jahre später viele von ihnen in die Armut, in das Elend, in die Erniedrigungen durch das kommunistische System heimkehrten.
Wir alle kennen die Geschichte der in alle Richtungen abfahrenden und wer weiß wo ankommenden Trauerzüge. Es hat Millionen von Menschenleben gekostet, bis wir erkannt haben: Wir, die Nationen Europas, sind gemeinsam stark. Der entscheidende Grund für die Vereinigung Europas war gerade, das derart entsetzliche Dinge nie wieder vorkommen dürfen. Die europäische Zusammenarbeit war gerade aus der Erkenntnis geboren worden, dass uns, europäische Nationen, viel mehr Dinge verbinden als trennen. Wir alle können mit unseren eigenen Augen beobachten, wie die Sicherheit Europas von Tag zu Tag zerfällt, wie seine auf der christlichen Kultur basierende Lebensweise in Gefahr gerät. Heute ist in Europa nicht die Frage, ob sich die Nationen gegeneinander wenden, die Frage ist vielmehr, ob es Europa noch geben wird, ob wir die europäische Lebensweise und Kultur werden verteidigen können, und was wir für einen Kontinent unseren Kindern als Erbe hinterlassen werden.
Die wichtigste Lehre aus der Geschichte der Neunzehnvierzigerjahre, als sich die Straßen Europas immer wieder mit aus ihrem Zuhause vertriebenen, hungernden und tatsächlich um ihr Leben rennenden Völkern gefüllt waren, ist, dass man ein Verbrechen durch ein anderes Verbrechen nicht wiedergutmachen kann, ein vermeintliches Verbrechen durch ein anderes Verbrechen noch weniger, und ein angenommenes Verbrechen durch eine kollektive Bestrafung erst recht nicht. Wir können stolz darauf sein, dass die ungarischen Menschen nach zwanzig verworrenen, postkommunistischen Jahren des Übergangs endlich eindeutig auf die bürgerliche Einrichtung votiert haben, und das Parlament endlich die erste demokratische bürgerliche Verfassung Ungarns vollenden konnte.
Die wichtigste tragende Säule der bürgerlichen Welt ist die Gerechtigkeit und Billigkeit, wir geben einem jeden das, was ihm zusteht. Aus diesem Grunde hat das Parlament im Jahre 2013 beschlossen, dass der 19. Januar der Gedenktag der Verschleppung und der Vertreibung der Ungarndeutschen sei. Als ein ewiges Memento für die nach Sibirien zur Zwangsarbeit verschleppten fünfundsechzigtausend Menschen und für die zur Aussiedlung verurteilten deutschen Familien. Das heutige Jubiläum ist aber nicht nur ein Gedenken, sondern auch ein Aufruf, all das nicht zu vergessen, was die Ungarndeutschen für Ungarn getan haben und bis auf den heutigen Tag tun.
Die ungarische Regierung unterstützt die Bewahrung der Identität und der Kultur der in unserer Heimat lebenden deutschen Mitbürger. Seit 2014 kann man im ungarischen Parlament sich auf Deutsch zu Worte melden, der Sprecher der Deutschen kann in seiner Muttersprache im Parlament reden. Es erfüllt uns mit Freude, dass in den vergangenen vier Jahren sich die Zahl der deutschen Schulen verfünffacht und die Anzahl der dort lernenden Schüler sich verdreifacht hat. Und wir sind auch darauf stolz, dass sich die Zahl derer, die sich als zur Gemeinschaft der Ungarndeutschen gehörig bekennen, heute schon beinahe Zweihunderttausend erreicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Leidensgeschichte der Ungarndeutschen soll uns daran erinnern, dass es das unveräußerliche Recht des Menschen ist, dort zu leben, wo er geboren worden ist, in der Kultur, in dem Land, in der Siedlung, die sein eigenes Zuhause ist. Und uns möge der Herrgott ausreichend Ausdauer und Geduld geben, damit wir Europa verteidigen und erhalten können, und er möge uns genügend Kraft geben, damit wir das Recht darauf, in der eigenen Heimat bleiben zu dürfen, auch außerhalb Europas durchsetzen können. Im Namen der ungarischen Regierung wünsche ich unseren in Ungarn lebenden deutschen Mitbürgern, dass das Andenken ihrer Ahnen bewahren und ihre Kinder als in der deutschen Kultur aufgewachsene gute Ungarn erziehen sollen. Ehrfurcht den Opfern. Gebührende Erinnerung an die Leidenden. Ein Verneigen vor der Erinnerung an die Unschuldigen. Anerkennung und Ruhm jenen, die den in Not geratenen Ungarndeutschen geholfen hatten. Alles Gute unseren mit uns zusammenlebenden deutschen Mitbürgern!
Essay, Fazit 120 (März 2016) – Foto: Európai Bizottság/Daniel Végel
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Erratum In der Druckausgabe ist uns leider ein – für den aufmerksamen Leser erkennbarer – Fehler passiert: Wir haben versehentlich auf den jeweils linken Seiten dieses Textes einen falschen Seitentitel angebracht, nämlich »Europa ist eine historische Anomalie«, den Titel eines Essays von Manfred Priesching in Fazit 115. Wenn auch in letzter Konsequenz diese Seitentitulierung zumindest nicht vollkommen unpassend war, entschuldigen wir uns für diese Unaufmerksamkeit. -red-
Kommentare
Eine Antwort zu “Rede zum Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen”
Antworten
9. Juni 2020 @ 16:36
Bis heute wußte ich nichts von dieser beeindruckenden Rede, auch nichts vom Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen. Die deutschen Medien haben das offenbar verschwiegen, weil es nicht zum Bild des bösen Orban paßt, das sie so mühevoll wie hinterhältig aufgebaut haben. Ich finde diese Rede großartig und werde sie verbreiten, so gut ich es kann. Es wird Zeit, daß Ungarn unter Orban fair und respektvoll behandelt wird.