Für Radikalität, gegen Gewalt!
Redaktion | 1. August 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 125
Ein Essay von Werner J. Patzelt. Über die immer neuen Herausforderungen im Inneren wie von außen an Staat und Gesellschaft.
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Werner J. Patzelt, geboren 1953 in Passau, ist Politikwissenschaftler. Nach dem Abitur in Passau leistete er zwei Jahre Dienst bei der Bundeswehr. Ab 1974 studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Magister Artium 1980) und habilitierte sich 1990 an der Universität Passau. Seit 1991 lehrt er an der Technischen Universität Dresden. wjpatzelt.de
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Wie macht man eine Gesellschaft oder einen Staat lernfähig, versetzt die Gesellschaft oder den Staat also in die Lage, sich auf immer wieder neue Herausforderungen im Inneren oder von außen her einzustellen? Die bestmögliche Antwort scheint zu sein: Man muss Diskurse über – echte oder eingebildete – Probleme herbeiführen, Debatten über Verursachungszusammenhänge von Problemen organisieren, Streit über Problemlösungsmöglichkeiten zulassen. An deren Ende müssen Entscheidungen darüber stehen, was nun zu unternehmen ist. Diese gestaltet man plausiblerweise als Mehrheitsentscheidungen, weil auf diese Weise Chancen auf größtmögliche Meinungs- und Interessenberücksichtigung bestehen. Und natürlich gehört zum Mehrheitsprinzip immer auch der Minderheitenschutz. Getragen werden muss dieser Politikansatz von einer Grundhaltung dahingehend, dass man sich immer wieder neu aufs Lernen einlassen muss – aus Versuchen und Irrtümern, und aus Korrekturen des Versuchten, die auch nicht immer zielführend sein werden.
I. Politische Lernfähigkeit und pluralistische Demokratie
Der Name eine politischen Systems, das nach diesen – und freilich auch einigen weiteren – Regeln funktioniert ist pluralistische Demokratie. Zu deren Kennzeichen sind mindestens die folgenden zu rechnen: die bereitwillige Hinnahme, möglichst sogar Wertschätzung von Verschiedenheit; die Selbstverständlichkeit des Rechts, dass jeder seine Interessen eigenständig und eigenverantwortlich definiert, und zwar gerade auch solche Interessen, die man selbst ablehnt; die Legitimität von Streit – und natürlich auch dann, wenn man das Risiko tragen muss, im Streit seinerseits zu unterliegen. Wichtig für pluralistische Demokratie ist ferner, dass der Bereich dessen, worüber gestritten werden darf, möglichst groß gehalten wird, und der Bereich dessen, was dem Streit entzogen, so klein wie möglich ist. Umgekehrt kennzeichnen sich diktatorische Regime gerade durch die Minimierung des Bereichs des Strittigen und durch große Ausdehnung des Bereichs dessen, worüber eben nicht gestritten werden darf – von der führenden Rolle der Partei bis hin zur Prägung der Politik durch Gottes Gesetz.
Der Name für den »streitfrei gestellten« Bereich einer pluralistischen Demokratie ist »Minimalkonsens«. Der besteht aus drei Teilkonsensen. Da ist der Wertekonsens. Zu ihm gehört vor allem Konsens darüber, dass jeder die gleichen Menschenrechte besitzt, darunter gerade auch das Recht darauf, von anderen verschieden zu sein – verschieden nach dem Aussehen, der sexuellen, der Religion, der politischen Einstellung. Da ist der Verfahrenskonsens. Er umschließt Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. Vor allem ist die noch ausführlich zu behandelnde Gewaltfreiheit wichtig. Gewalt nämlich – und im Vorgriff auf ihre Anwendung: die Einschüchterung durch Gewaltandrohung – verringert nämlich die Vielfalt dessen, was aus freien Stücken an Sichtweisen und Interessen in den Streit eingebracht wird und reduziert eben dadurch die Chancen reduziert, im Streit und durch den Streit zu lernen. Damit aber wird pluralistischer Demokratie ihr zentraler Vorteil entzogen. Und drittens braucht es den sogenannten Ordnungskonsens. Für unseren Zweck genügt folgendes Beispiel: Es braucht Konsens darüber, dass auf der Straße demonstriert, dann aber in den Parlamenten entschieden wird. Ein Staatswesen gerade so auszugestalten, dass über so viel wie möglich gestritten werden darf und dadurch die Lernfähigkeit von Politik und Gesellschaft optimiert wird, ist das »wirkungsmächtige Geheimnis« pluralistischer Demokratie. Ihr besonderer Wert besteht darin, dass sie Kritik an den herrschenden bzw. bestehenden Verhältnissen ermöglicht und gerade nicht einfach die Affirmation des Bestehenden verlangt, also dessen Rechtfertigung, Unterstützung, Verteidigung. Vielmehr gehört zur pluralistischen Demokratie – außerhalb des minimalen Wert-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses – eine kritische Grundhaltung gegenüber allen Ansprüchen, jemand habe recht oder etwas sei richtig, weil es immer schon so gedacht oder gehalten werde. Dabei meint Kritik durchaus mehr als gefühlsgeleitetes Schimpfen. Zu ihr gehören der Aufweis und eine mit Anspruch auf Vernunft geleistete Begründung von Beurteilungsmaßstäben – und sodann eine mit Anspruch auf logische Richtigkeit geleistete Beurteilung des Bestehenden anhand jener Maßstäbe. Anders formuliert: pluralistische Demokratie setzt eine Prämie auf rationale Kritik, nicht auf emotionale Verteidigung bestehender Zustände. Diese Spielregeln pluralistischer Demokratie beruhen ihrerseits auf Erfahrungen aus Versuch und Irrtum bei der Ausgestaltung politischer Systeme. Und mehr noch: Sie bauen in die politische Praxis den »Algorithmus der Evolution«. Nach allem, was wir über die Evolution komplexer Systeme von der Biologie über die Kultur bis hinein in die Welt von Institutionen wissen, ist der Evolutionsalgorithmus wirklich die bestmögliche Weise, für die Lernfähigkeit und für eine leistungsfähige Verkopplung von Systemen mit ihrer Umwelt zu sorgen. Und worin genau besteht in der pluralistischen Demokratie jener Evolutionsalgorithmus, dessen Wirken den gesamten Schichtenbau unserer Wirklichkeit hervorgebracht hat, nämlich von den biotischen Strukturen bis hin zu den kulturellen und den institutionellen Strukturen? Sein Dreischritt von Variation, Selektion, Retention und differentieller Reproduktion sieht in der Politik wie folgt aus:
Variation von Sichtweisen, Prioritäten, Lösungsvorschlägen und Handlungsselbstverständlichkeiten entsteht eben durch das Recht auf Verschiedenheit und angstfreie Artikulation von Meinungen oder Interessen in ununterbrochen ablaufenden streitigen Diskursen. Sodann kommt es zur interne Selektion aus angebotener Vielfalt, d.h. dazu, dass beiseitegeschoben wird, was nicht zum bestehenden System pluralistischer Demokratie passt. Das geschieht anhand des Minimalkonsenses über Menschenrechte, Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz und bewährte Ordnungsstrukturen. Es folgt die externe Selektion dergestalt, dass nicht alle politischen Maßnahmen, auf die man sich – mit oder ohne Mehrheitsentscheidung im pluralistischen Diskurs verständigt hat, sich in der Praxis wirklich bewähren wird. Tatsächlich führt gerade in der Politik, die oft ein Handeln unter den Bedingungen von Ungewissheit ist, so gut wie nie ein Weg am Lernen aus Versuchen, Irrtümern und bereitwilligen Politikkorrekturen vorbei. Retention meint sodann die Beibehaltung dessen, was sich – einstweilen und oft nur »bis auf weiteres« bewährt hat. Dieses wird dann oft Teil jener internen Selektionsfaktoren, die vorfiltern, was überhaupt in der Praxis versucht wird. Im Umgang damit spielen sich zwei politische Grundhaltungen ein: Konservative versuchen, sich vom bereits Bewährten leiten zu lassen – und Progressiven liegt daran, zumal unter neuen Bedingungen Neues auszuprobieren. Und beides ist nötig, wenn sich politische Strukturen nachhaltig bewähren und durchhalten lassen sollen. Misslingt Letzteres, so droht das Abgleiten in fragile Staatlichkeit, im schlimmsten Fall in den Zustand von Bürgerkrieg und Anomie. Weil aber sich die Handlungsumstände immer wieder ändern und es das Bestehen immer wieder neuer Herausforderungen braucht, muss man nach Kräften danach trachten, gerade in der Politik diesen »Algorithmus der Evolution« nicht lahmzulegen. Eben das geschieht aber, wenn man bestehende Selbstverständlichkeiten oder Strukturen durch subtile Androhung von Gewalt oder grobschlächtige Anwendung von Gewalt gegen Infragestellungen oder Veränderungen schützt. Derlei beginnt bereits mit der Vermeidung, Unterbindung oder Austrocknung streitiger Diskurse. Und allzu oft wird solcher Denk- und Strukturkonservatismus zur unwiderstehlichen politischen Versuchung derer, die von herrschenden Zuständen profitieren, mit ihnen deshalb zufrieden sind und sich trotz neuer Herausforderungen zum Bestehenden allein affirmativ verhalten – und eben nicht kritisch-rational, wie es der Nutzbarmachung des Evolutionsalgorithmus entspräche.
II. Lob der Radikalität, Kampf dem Extremismus!
Radikal ist, wer einer Sache auf den tiefsten Grund geht, ein Argument bis ins Absurde entwickelt, eine These bis ins Überspitzte vorantreibt, eine Position ohne Augenmaß vertritt. Radikalismus verstört deshalb Gemäßigte und Konservative gleichermaßen, und das ist auch gut so. Denn Radikalismus jagt Diskurse sowie Politikprojekte vorwärts und erzwingt Innovation.
Damit derlei aber ein diskursoffenes System nicht seinerseits gefährdet, ist zweierlei nötig. Erstens braucht es Spielregeln, die radikales Argumentieren an den Imperativ der Logik, radikales Agieren an die die Leine der Gewaltlosigkeit und radikale Politik an die Kette der Rechtsstaatlichkeit legen. Zweitens ist jedem Radikalismus seine Gegenkraft, jeder These ihre Antithese zu wünschen, weil dann am besten die Dialektik des Fortschritts gelingt. Wenn das alles gegeben ist, kann Radikalität, ihrerseits das Risikospiel einer offenen Gesellschaft, sich fruchtbar als Links- oder Rechtsradikalismus, als religiöser oder antireligiöser Radikalismus, als Radikalismus der Freiheit oder als Radikalismus der Gleichheit entfalten. Fehlt es aber entweder an wirkungsvollen Spielregeln im radikalen Diskurs oder an Gegenkräften zu radikalen Positionen, zu denen ganz wesentlich auch der Konservatismus gehört, dann mag Radikalität für eine offene Gesellschaft auch zur Gefahr werden: Sie kann auseinanderdriften, sich polarisieren, sich bis zum Bürgerkrieg zerstreiten. Eine stabile Ordnung aber, zumal mit argumentationsstarken Konservativen, kann Radikalität nicht nur ertragen, sondern von ihr auch profitieren. Aufs knappste formuliert: Radikalität stört viele, kann aber Gutes bewirken; und Radikalität mag bisweilen auch rücksichtslos dumm sein, ist aber von ihrer Grundhaltung her nicht verwerflich.
Anders verhält es sich mit Extremismus. Extremist ist, wer – aus welchen Gründen und wo auch immer – auf die Beseitigung einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeitet. Diese ist seit 1952 vom Bundesverfassungsgericht bestimmt als eine Ordnung, »die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.«
Wer diese Ordnung beseitigen will, ist – um der Menschenwürde und um der Freiheit willen – seinerseits zu bekämpfen, und zwar nicht nur bis hin zum Verbot seiner politischen Organisationen oder zur Verwirkung seiner Grundrechte, sondern nötigenfalls auch darüber hinaus. Wer hingegen nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen will, sondern bloß einzelne der Vorschriften oder Institutionen eines Staates wie des unseren bekämpft, der ist einfach ein Andersdenkender und allenfalls ein Radikaler, der sich verrannt hat. Einen solchen darf man nur mit den normalen Mitteln friedlicher politischer Auseinandersetzung bekämpfen. Diesbezüglich stellte das Bundesverfassungsgericht 1956 in seinem Urteil zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands sogar ausdrücklich fest: Eine Partei, und erst recht nicht eine politische Position, …
»ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie einzelne Bestimmungen, ja ganze Institutionen des Grundgesetzes ablehnt. Sie muss vielmehr die obersten Werte der Verfassungsordnung verwerfen, die elementaren Verfassungsgrundsätze, die die Verfassungsordnung zu einer freiheitlichen demokratischen machen, Grundsätze, über die sich mindestens alle Parteien einig sein müssen, wenn dieser Typus der Demokratie überhaupt sinnvoll funktionieren soll. … [Sie ist] auch nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen; sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das bedeutet, dass der freiheitlich-demokratische Staat gegen Parteien mit einer ihm feindlichen Zielrichtung nicht von sich aus vorgeht; er verhält sich vielmehr defensiv, er wehrt lediglich Angriffe auf seine Grundordnung ab. Schon diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes schließt einen Missbrauch der Bestimmung im Dienste eifernder Verfolgung unbequemer Oppositionsparteien aus.«
Aus welchen Gründen oder aus welcher politischen Richtung eine Person, eine Personengruppe, eine Organisation oder eine Partei die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft, ist ganz gleichgültig für die Feststellung des Tatbestands, sie sei extremistisch. Es dient freilich der Information über genau diese Gründe, wenn man vom Rechtsextremismus bzw. Linksextremismus, vom islamistischen Extremismus oder von einem »Extremismus der Mitte spricht«. Nie aber ersetzt die Verwendung eines solchen Begriffs die Überprüfung, ob die als Extremisten Bezeichneten wirklich die – an klaren Kriterien erkenntliche – freiheitliche demokratische Grundordnung angreifen und beseitigen wollen. Und für die Einschätzung des ethischen und politischen Unwerts solcher Gegnerschaft ist es ohnehin ganz unerheblich, woher die Beweggründe für Extremismus kommen: ob aus der Mitte der Gesellschaft, ob aus Oberschicht oder Unterschicht, ob vom linken, vom rechten oder von einem sonstigen Rand des politischen Spektrums. Denn Extremismus greift immer alles das an, was eine pluralistische Demokratie möglich und als Ausgestaltung politischer Ordnung so vorteilhaft macht.
Albern wäre übrigens eine Vorstellung von Extremismus dahingehend, dass »in der gesellschaftlichen Mitte« zu stehen nie zum Kampf gegen eine freiheitliche demokratische Grundordnung motivieren werde, dass also jemand aus der politischen Mitte niemals ein Extremist sein könnte. Tatsächlich begehen nicht wenige den Denkfehler, Extremismus im lateinischen Wortsinn denkfaul als »Distanz zur Mitte« zu verstehen, nicht aber im politikwissenschaftlichen und verfassungsrechtlichen Wortsinn als »Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratische Grundordnung«. Und nicht minder albern ist die – leider populäre – Gleichsetzung einer solchen kindischen Vorstellung von Extremismus mit dem oben umrissenen rechts- und politikwissenschaftlichen Extremismusbegriff. Was aber folgt aus alledem für die Praxis pluralistischer Demokratie? Erstens ist klar: In ihr findet sich stets Platz für inhaltliche Radikalität aller Art – und eben nicht nur für Mäßigung, Besonnenheit und politisch korrekte Vorsicht. Zweitens zieht allem Streit seine Grenze allein die Achtung der Menschenwürde, und zwar gerade auch der des Gegners. Und eben hier kommt das unabdingbare Verfahrensprinzip der Gewaltfreiheit ins Spiel.
Denn warum ist Gewalt wohl abzulehnen? Weil sie am Geist bzw. Verstand des Anderen – den Durchführungsmitteln streitiger Diskurse – vorbeizielt und auf die Gefühle, oft auch auf Körper des Anderen abhebt. Zunächst einschüchternd, zur Beglaubigung der Einschüchterung auch wirklich verletzend richtet Gewalt doppelt Schlimmes an. Einesteils entwürdigt sie den Anderen gerade im Kern seiner Persönlichkeit, der nämlich nicht im Körper, sondern im Geist besteht, dessen Freiheit fortan durch Furcht gefesselt wird. Und andernteils verhindert Gewalt eben jenen Streit, der wechselseitiges Lernen und eine schrittweise Weiterentwicklung politischer Inhalte und Strukturen ermöglicht. Sowohl des Einzelnen wie auch seiner Ordnungsformen willen muss deshalb gerade pluralistische Demokratie jegliche Gewalttätigkeit unterbinden. Und sie muss es umso entschiedener tun, als sie auf Streit gegründet ist, Streitende aber besonders leicht zur Gewaltanwendung neigen.
Dabei gilt es im Übrigen wie folgt zu differenzieren. Ein Radikaler kann sehr wohl gewaltfrei reden und handeln. Auszugrenzen und zu bekämpfen ist er deshalb erst, doch genau dann, wenn er – warum auch immer – psychische Gewalt durch Einschüchterung oder physische Gewalt gleich welcher Art anwendet. Ein Extremist wird hingegen meist ohnehin gewalttätig sein. Dann ist er entschieden zu bekämpfen. Und selbst wenn er in taktischer Klugheit von offener Gewalttätigkeit Abstand nimmt, ist er dennoch zu bekämpfen, weil der Fortbestand einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung ein viel höheres Gemeingut ist als das individuelle Recht auf politische Blindheit und auf rücksichtlose Dummheit – zumindest ab dem Zeitpunkt, da die Inanspruchnahme dieses Rechts sich gegen das Kollektivrecht auf pluralistische Demokratie wendet.
III. Gewalt und die Lahmlegung von Lernfähigkeit
In der Welt, wie sie nun einmal funktioniert, ist es überhaupt keine Selbstverständlichkeit, dass ein Staat oder eine Gesellschaft offenen politischen Streit wirklich zulässt und obendrein gewährleistet, dass jeder seine Meinung in jeder Situation frei von Angst oder von auf Gewaltandrohung beruhenden Diskursstörungen vertreten kann. Viel häufiger gibt es in Geschichte und Gegenwart nämlich Gebote und Verbote politischen Denkens und Sprechens, gesichert durch Tabubildung, durch Zensur oder durch Ausgrenzung von Abweichlern. Entlang solcher – für alle praktischen Zwecke klaren – Kriterien politischer Korrektheit finden sich dann die Ansatzpunkte für politische Gewaltanwendung. Deren Formen beginnen unscheinbar, erreichen bald aber erschreckende Eskalationsstufen. Diese schrecken umso mehr, als politische Gewalt sich oft aus fraglos guten Absichten motiviert.
Es ist der üblicher Ausgangspunkt aller Erscheinungsformen und von Gewalt, die fairen Streit als Kern pluralistischer Demokratie behindern oder gar verhindern, dass man auf politische Positionen, die man nicht mag, mit einer Art »politischer Spinnenfurcht« reagiert. Angeekelt und angstgetrieben, wird dann mit Worten, mit Trillerpfeifen oder mit anderen Mitteln gegen den Störenfried vorgegangen, obwohl dieser meist nur lästig ist, nicht aber wirklich gefährlich. Motiviert werden viele zu solchem Verhalten, wenn sie meinen, eine geschichtlich bekannte schlimme Lage zöge neu herauf – weswegen es sich engagiert ans »Wehret den Anfängen« zu machen gilt. Wann immer ein Andersdenkender in Deutschland in einen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden kann, entfaltet sich diese Reaktion besonders leicht. Dann entscheidet man sich nicht für Kommunikation, sondern für Ausgrenzung, die ihrerseits manche subtilen, manche sehr groben Techniken der Gewaltanwendung nutzt. Es beginnen die für eine Ausgrenzung von Andersdenkenden verwendeten Techniken mit dem Verzicht darauf, sein eigenes Denken in Frage zu stellen und jene Zusammenhänge überhaupt nachvollziehen zu wollen, die dem Andersdenkenden wichtig sind. Schon weiter ist man mit solcher Ausgrenzung, wenn es als Zeichen besonderer Sachkompetenz gilt, alles das »wegerklären« zu können, was dem Auszugrenzenden für seine politischen Positionen überhaupt Anlass gibt. Dann kann man sich etwa über »offensichtlich unbegründete« Ängste lustig machen oder diese als »bloß vorgeschoben« ausgeben – und die »eigentlichen Gründe« in zweckgerecht düsteren Farben ausmalen.
Noch mehr ist erreicht, wenn dem Gegner ihm wichtige Begriffe weggenommen sind, oder wenn zumindest deren öffentlicher Gebrauch unterbunden ist. Dann nämlich lassen sich jene Unterscheidungen und Bewertungen, auf die es dem Andersdenkenden ankommt, nur noch gegen unmittelbar erhobenen Widerspruch vortragen – und setzt den Gegner vielleicht allein schon seine Wortwahl ins Unrecht.
Die nächste Stufe des Ausgrenzens ist erreicht, sobald man seinem Gegner Etiketten anheften kann, von denen »jeder weiß«, dass sie jemanden als einen »schlechten Menschen« ausweisen. Am besten beginnt man mit der Einschätzung als »notorischer Querulant« oder als »Ewiggestriger«. In Deutschland eignet es sich für solche »strategische Etikettierung« besonders gut, wenn man jemanden als »Rechtspopulisten«, als »Faschisten« oder – neuerdings populär – als »Rassisten« ausgeben kann. Und falls am Auszugrenzenden allzu wenig direkt erkennbar Übles auffällt, hilft meistens die Rede vom »Extremismus der Mitte« weiter, den der Auszugrenzende verkörpere. Tatsächlich ist es auf dem Weg zu nachhaltiger Ausgrenzung besonders nützlich, wenn man den Auszugrenzenden als die Erscheinungsform eines für die Allgemeinheit gefährlichen Typs hinstellen kann. Dann nämlich richtet sich das Ausgrenzungsverlangen nicht mehr gegen einen – unter anderen Umständen vielleicht gar sympathischen – Mitmenschen, oder gegen konkretes Tun, sondern schlechterdings gegen das Böse sowie gegen dessen Verkörperung im Feind. Das erlaubt dann auch Ansprüche auf eigene moralische Überlegenheit, die sich für alle praktischen Zwecke dann nicht mehr entkräften lassen.
Wer aber einmal Schellen trägt wie die, ein »typischer Latenznazi« oder ein »typischer Populist« zu sein, der kann anschließend mit großer Plausibilität um seine öffentlichen Redechancen gebracht werden. Einem Rechtsradikalen oder Rassisten darf man doch wirklich »keine Bühne bieten«; also gehört er nicht mehr als gleichberechtigter Gesprächspartner in Talkshows – und natürlich auch nicht mehr auf Diskussionspodien oder an Rednerpulte! Perfekt wird das Ergebnis solchen Vorgehens, wenn sich der Auszugrenzende alsbald nicht nur Blößen gibt, die derlei Ausgrenzung nacheilend rechtfertigen, sondern wenn er auf solchen Ausgrenzungsdruck gar noch so reagiert, dass er seine Außenseiterrolle eben annimmt und sich voller Trotz selbst immer mehr ins Unrecht setzt.
Das Ausgrenzen kann aber noch weiter gehen. Anzustreben ist es, den Abweichler vor einen »virtuellen Gerichtshof« zu bringen – etwa: ihn in einer Talkshow »fertigzumachen« und den Videoclip dann auf YouTube zu stellen. Vielleicht kann man dem Auszugrenzenden auch ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren anhängen; es wird schon etwas hängenbleiben! Das Ziel ist erreicht, wenn der Auszugrenzende als »nicht mehr ernstzunehmen« gilt, nicht mehr als ein »redlicher Fachmann«, ja vielleicht nicht einmal mehr als ein »akzeptabler Mitbürger« angesehen wird. Und zum Abschluss gelangt das Ausgrenzen, wenn der Gegner sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, in einer Diktatur vielleicht eingesperrt oder exiliert, in eine psychiatrische Anstalt verbracht, womöglich auch umgebracht wird – und er in einer Demokratie wenigstens keine Chancen mehr besitzt, in den Medien Gehör zu finden oder bei Wahlen eine nennenswerte Stimmenanzahl zu erreichen.
Alle diese Ausgrenzungsschritte lassen sich aufs Beste mit Häme gegenüber »den Bösen« und mit sich selbst feiernden symbolischen Aktionen »der Guten« abrunden. Und besonders wirkungsvoll ist es, wenn sich zur Häme nicht nur ernstzunehmende Drohungen gesellen, sondern diese auch exemplarisch ins Werk gesetzt werden: von der Verhinderung öffentlicher Reden bis hin zur beliebt werdenden Umwidmung von Torten, von diskursverhindernden Sprechchören übers Steinewerfen bei Demonstrationen bis hin zu Anschlägen auf Büros, Fahrzeuge und Menschen. Ist man erst einmal für die Entdeckung dieser Ausgrenzungsverfahren sensibilisiert, so lassen sie sich leicht ganz unabhängig davon erkennen, wann und wo sie eingesetzt werden, auch gegen wen oder gegen was, und natürlich ebenfalls ganz unabhängig davon, ob diese Methoden »den Guten« oder »den Bösen« dienen – und ob man sie selbst nutzt oder abzuwehren versucht. Im Übrigen wäre es kindisch, die mitunter fiese Verwendung dieser Methoden samt deren oft schädlichen Nebenwirkungen einfach deswegen zu bestreiten, weil man sie selbst einsetzt – und sei es für einen guten Zweck.
IV. Was lehrt uns das alles?
Offensichtlich kann man sich pluralistische Demokratie mitsamt allem in ihr wünschenswerten Streit nur solange leisten, wie gesichert sein, dass Streitlust oder Radikalität nicht zur Gewaltanwendung, dass also dem jeweiligen Streitgegner – und sei er auch ein Radikaler – gerade nicht mit Gewalt begegnet wird. Also sind die folgenden Regeln zu akzeptieren und grundsätzlich zu befolgen:
– Gewalt, die gegen Gesetze verstößt, ist grundsätzlich abzulehnen – ganz gleich, gegen wen sie sich richtet, und unabhängig von anderen Motiven als Notwehr und Nothilfe. Gegen dennoch ausgeübte Gewalt ist polizeilich vorzugehen.
– Als Mittel innerstaatlicher Politik ist Gewalt erst recht abzulehnen – und zwar schon solche Gewalt, die auf Einschüchterung ausgeht. Auch Sorgen um die Folgen unzulänglicher Politik oder Empörung ob der Arroganz politischer Gegner rechtfertigen niemals Gewalt.
Wir tun gut daran, Grundsätze nicht nur abstrakt aufzustellen, sondern sie auch in ihren konkreten Folgen zu bedenken und zu beherzigen. Beziehen wir deshalb zum Abschluss der ganzen Argumentationskette dieses Vortrags die herausgearbeiteten Grundsätze auf aktuelle politische Streitfragen der Einwanderungspolitik, und zwar auf die in den letzten Monaten stark zunehmenden Übergriffe auf Geflüchtete und auf deren Unterkünfte. Gewiss ist dieses Beispiel austauschbar, derzeit aber besonders lehrreich. Konkret muss man es – bei aller Radikalität im politischen Streit – dann so halten:
– Es ist ungerecht, Unzufriedenheit über Mängel unserer Einwanderungspolitik an Bürgerkriegsflüchtlingen oder Asylbewerbern, an im Land lebenden Ausländern oder an fremdartig anmutenden Mitbürgern auszulassen. Deshalb sind Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünfte die falsche Stelle für Protestaktionen zur Einwanderungs- und Integrationspolitik. Es ist schäbig, um der öffentlichen Aufmerksamkeit willen solche Kundgebungen dort zu veranstalten, wo Menschen zur Zielscheibe von Feindseligkeiten werden, die gar nichts für die hierzulande auszufechtenden Konflikte können.
– Es ist ungerecht, Sorgen und Empörung angesichts der Unzulänglichkeiten und Fehlerhaftigkeit der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik in Feindseligkeiten gegen objektiv überforderte Bürgermeister und Landräte oder gar gegen jene Polizisten umzusetzen, die unter so schwierigen Umständen die öffentliche Ordnung zu wahren sowie die Demonstrationsrechte aller zu sichern haben.
– Dass jemand anders aussieht oder anders kulturell geprägt ist als man selbst, rechtfertigt in keiner Weise, ihn herabzusetzen, zu verachten oder gar entsprechend zu behandeln. Wer das tut, sich also rassistisch verhält, hat einen beschädigten moralischen Kompass oder einen schlechten Charakter. Und wen man trotz eigener Dialogbereitschaft nicht für ein humanes Miteinander gewinnen kann, den muss man aus dem akzeptablen politischen Diskurs eben ausgrenzen.
Aufs Knappste verdichtet heißt das alles: Eben der pluralistischen Demokratie willen muss man gewalttätige Radikale sowie Extremisten bekämpfen – und kann sich gerade dank selbstverständlicher Durchsetzung von Gewaltlosigkeit die für politische Lernfähigkeit so wichtige Radikalität leisten und damit die pluralistische Demokratie lernfähig erhalten.
Gewiss ist das eine komplexe Einsicht, eine nicht selten emotional schwerfallende Haltung. Doch ohne die entsprechenden intellektuellen und emotionalen Kosten auf sich nehmen, kann man nun einmal nicht vom großen Wert pluralistischer Demokratie profitieren. Sehen wir also ein, dass pluralistische Demokratie nun einmal eine anstrengende Staatsform ist – und dass politischer Streit erst recht dann anstrengt, wenn man nicht einfach über ihn spricht, sondern in unmittelbarer Konfrontation mit dem Andersdenkenden austrägt. Ganz zweifellos lohnt es sich aber, solche Mühen auszuhalten. Das mag zwar zur Sisyphus-Arbeit geraten. Doch seit Albert Camus wissen wir, dass man sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen darf.
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Vorliegender Text ist die Mitschrift eines Vortrages von Werner J. Patzelt, gehalten am 15. Juni 2016 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg. wjpatzelt.de
Essay, Fazit 125, (August 2016) – Foto: Karlheinz Schindler
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