Opfert Frankreich seine Jugend? Eine Bestandsaufnahme
Redaktion | 22. Dezember 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 129
Ein Essay von Camille Peugny. Hohe Jugendarbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandard und geringe soziale Mobilität – junge Franzosen begegnen in ihrem Land zahlreichen Schwierigkeiten. Um nicht eine ganze Generation zu opfern, ist es Zeit für einen echten politischen Vorstoß.
::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK
Camille Peugny, geboren 1981, ist ein französischer Soziologe und Dozent an der Université Paris VIII. Er erforscht vorwiegend Fragen zu sozialer Mobilität, Reproduktion und Ungleichheit in Frankreich und Europa. twitter.com/cpeugny
***
Viele junge Berufstätige und Studierende in Frankreich zeigten während der massiven Demonstrationen gegen das neue Arbeitsgesetz im Frühjahr 2016 ihre Wut über einen aus ihrer Sicht weiteren Angriff auf ihre Generation. Dem Beispiel der spanischen »Indignados« folgend, versammelten sich über den gleichen Zeitraum Hunderte junge Männer und Frauen jeden Abend auf dem Place de la République in Paris, um gemeinsam über den Aufbau einer anderen Gesellschaft nachzudenken.
Dass in Frankreich seit einigen Jahren junge Leute bei sozialen Bewegungen stark vertreten sind, mag angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten, denen sie in ihrem Land begegnen, kaum verwundern. In den Augen mancher opfert Frankreich seine Jugend – durch einen politischen Kurs, der in erster Linie den älteren Generationen zugutekommt.
Doppelt gestraft?
Für die These einer »geopferten« französischen Jugend gibt es Indikatoren zu genüge, angefangen bei der schwierigen Arbeitsmarktsituation. Frankreich gehört zu den EU-Ländern, in denen die Arbeitslosenquote bei unter 25-Jährigen besonders hoch ausfällt: 2016 lag sie laut Eurostat bei rund 24 Prozent. Darüber hinaus befinden sich junge Leute in Frankreich häufig in einem unsicheren Arbeitsverhältnis: So verfügten 2014 nur 34 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 15 und 24 Jahren über einen unbefristeten Vollzeitvertrag, während 36 Prozent prekär beschäftigt waren (befristete Arbeitsverträge, Zeitarbeit, staatlich geförderte Beschäftigungen, Praktika) und das restliche Drittel die Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. Vor dem Hintergrund, dass in der französischen Gesellschaft ein unbefristeter Arbeitsvertrag die Eintrittskarte für den Wohnungsmarkt darstellt, liegt nahe, wie niedrig der Lebensstandard vieler junger Leute in Frankreich ist und welche Hürden sie auf dem Weg in die Eigenständigkeit nehmen müssen.
Es wäre keine Übertreibung, die Berufsanfänger auf dem französischen Arbeitsmarkt als Anpassungsvariable zu bezeichnen: In der Tat sind es in erster Linie ebendiese neuen Marktteilnehmer, die in den Teufelskreis aus unsicheren Arbeitsplätzen und Phasen der Arbeitslosigkeit geraten. Nach Berechnungen des französischen Generalkommissariats für Strategie und Vorausschau, France Stratégie, waren zehn Prozent der 2013 erwerbstätigen Franzosen unter 25 Jahren im darauffolgenden Jahr ohne Arbeit, während es bei der Altersgruppe der über 40-Jährigen weniger als drei Prozent waren. [1]
Ein weiterer Indikator ist die zunehmende Armut unter jungen Leuten in Frankreich, die meist direkt mit ihren Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt. Waren bis zu Beginn der 1980er Jahre die höchsten Armutsquoten bei den älteren Altersklassen zu verzeichnen, so sind nunmehr hauptsächlich junge Menschen betroffen: 2012 lebten 23 Prozent der jungen Franzosen zwischen 18 und 24 Jahren unterhalb der Armutsgrenze von 60 Prozent des Median-Einkommens, gegenüber acht Prozent der über 60-Jährigen. Diese Diskrepanz hat sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts verschärft: Die Armutsquote unter den 18- bis 24-Jährigen ist zwischen 2002 und 2012 um fast sechs Prozentpunkte gestiegen, während die der über 60-Jährigen um mehr als einen Prozentpunkt gesunken ist. [2]
Die zunehmende Armut unter jungen Franzosen ist auch unmittelbar mit politischen Entscheidungen verknüpft: So hatten die unter 25-Jährigen lange kein Anrecht auf Sozialhilfeleistungen wie die Grundsicherung im Rahmen des Mindesteinkommens zur Eingliederung (Revenu Minimum d’Insertion, RMI), das 2009 durch das Aktive Solidaritätseinkommen (Revenu de Solidarité Active, RSA) ersetzt wurde. Theoretisch können sie mittlerweile das RSA beziehen, doch die Bedingungen hierfür sind dermaßen streng (Vollzeitarbeit über mindestens zwei der drei dem Antrag vorangehenden Jahre), dass nur wenige Tausend junge Franzosen diese Unterstützung tatsächlich in Anspruch nehmen können. Von der sozialen Absicherung ausgeschlossen, sind sie somit umso mehr dem Armutsrisiko ausgesetzt.
Generell konzentrieren sich die Ausgaben der öffentlichen Hand in Frankreich deutlich auf die höheren Altersklassen: Nach Berechnungen von France Stratégie sind zwischen 1979 und 2011 die Staatsausgaben zugunsten der über 60-Jährigen um 50 Prozent auf 17 Prozent des BIP gestiegen, während die Ausgaben für die unter 25-Jährigen bei rund neun Prozent des BIP stagnierten [3] – ein weiterer Indikator für den Stellenwert der Jugend in Frankreich.
Abgesehen von Beschäftigungsniveau und Lebensstandard der jungen Franzosen kritisieren manche auch ihre geringen Einflussmöglichkeiten: In einer Gesellschaft, in der laut den Soziologen Christian Baudelot und Roger Establet Ältere mehr Macht- und Reichtumspositionen als je zuvor besetzen, blieben Jüngere davon ausgeschlossen. [4] Als Beispiel sei hier die Nationalversammlung angeführt, in der es 1981 ebenso viele Abgeordnete unter 40 wie über 60 Jahren gab, während dasselbe Verhältnis bei der 2007 gewählten Nationalversammlung bei eins zu neun lag; [5] derzeit liegt es bei rund eins zu acht. Die französische Jugend scheint somit doppelt gestraft: Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten steht sie an vorderster Front; zugleich ist ihr der Zugang zu jenen Positionen erschwert, die auf einen gesellschaftlichen Wandel hinwirken könnten.
Soweit die Fakten, die die Lage weiter Kreise der Jugend in Frankreich veranschaulichen. Allerdings muss dieses Gesamtbild anhand von mindestens zwei Präzisierungen differenziert werden. Zum einen ist Frankreich nicht das einzige Land in Europa, in dem junge Leute auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Im Durchschnitt liegt die Arbeitslosenquote unter jungen Erwerbstätigen innerhalb der EU laut Eurostat bei über 19 Prozent, mit Werten, die 52 Prozent in Griechenland, 46 Prozent in Spanien, 37 Prozent in Italien und 31 Prozent in Portugal erreichen. Die oft als Vorbild angeführten skandinavischen Länder stehen dem aber mit Arbeitslosenquoten von 22 Prozent unter jungen Erwerbstätigen in Finnland und 19 Prozent in Schweden kaum nach. Auch wenn andere Länder hier wesentlich besser abschneiden (sieben Prozent in Deutschland, elf in Dänemark und 13 in Großbritannien), so gibt es doch keine exception française.
Zum anderen ist diese Situation nicht vollkommen neu. Die Arbeitslosenquote unter jungen Erwerbstätigen in Frankreich lag bereits zu Beginn der 1980er Jahre bei über 25 Prozent und verharrt seitdem in Abhängigkeit von Konjunkturschwankungen auf mehr oder weniger hohem Niveau, wobei der Wert in dieser Altersgruppe stets zwei- bis dreimal höher ausfällt als für den Rest der Bevölkerung. Die französische Jugend der 2010er Jahre ist also nicht die erste Krisengeneration, und ferner scheint es sich bei der Situation der jungen Franzosen um ein strukturelles Problem zu handeln.
Soziale Ungleichheiten
Die beschriebenen Schwierigkeiten von Hunderttausenden jungen Menschen haben in Frankreich eine lebhafte Diskussion über das Ausmaß der Ungleichheiten ausgelöst, die zwischen den Generationen bestehen. In der Tat belegen seit den 1990er Jahren zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche, soziologische oder statistische Studien bedeutende Unterschiede beim Gehalt sowie allgemeiner beim Zugang zu den sichersten und einkommensstärksten Arbeitsplätzen. So nahmen die 30-Jährigen der 1990er Jahre im Vergleich zu den 30-Jährigen der 1970er Jahre eine weitaus niedrigere Position in der sozialen Hierarchie ein. [6]
Diese empirische und dezidierte Darstellung der Ungleichheiten zwischen den Generationen in der öffentlichen Diskussion verschiebt sich mit Beginn der 2000er Jahre hin zu der Frage nach der Verantwortung der Babyboomergeneration: Ihr wird vorgeworfen, über ihre Verhältnisse gelebt und die Früchte des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit verschleudert zu haben. [7] Diese Zuspitzung führt zu einer künstlichen Homogenisierung der Generationen und erschwert es, der Komplexität der gegenwärtigen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Zwar ist der Lebensstandard der Rentner in Frankreich – angehoben durch die Pensionierung der ersten Baby-Boomer – insgesamt noch nie so hoch gewesen, doch ziehen sich starke Ungleichheiten durch diese Altersklasse. So beziehen Tausende ehemalige Angestellte und Arbeiter sehr bescheidene Renten. Auch die heutige Jugend Frankreichs bildet selbstverständlich keine homogene Einheit, und entsprechend sind die jungen Franzosen auch nicht alle denselben Problemen ausgesetzt.
Wie auch andernorts sinkt das Risiko der Arbeitslosigkeit mit zunehmendem Bildungsgrad. Die seit 2008 andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Diskrepanz zwischen der Arbeitslosenquote der 15- bis 29-Jährigen ohne Abschluss, die 2015 bei mehr als 40 Prozent lag, und mit Hochschulabschluss, 2015 bei rund zehn Prozent, noch weiter verschärft. [8] Das Schicksal der Zehntausenden, die jedes Jahr ohne Abschluss von der Schule gehen oder bestenfalls die Mittlere Reife (Brevet des Collèges) in der Tasche haben, erscheint daher besonders besorgniserregend. Ebendiese jungen Leute ohne Abschluss, die vor allem am Stadtrand und in ländlichen Gebieten leben, sind die primären Opfer der Wirtschaftskrise, während 2013 mehr als 90 Prozent der Masterabsolventen von 2010 erwerbstätig waren und in neun von zehn Fällen sogar über unbefristete Arbeitsverträge verfügten. [9]
Ferner sind gesellschaftliche und berufliche Laufbahnen in Frankreich eng mit der sozialen Herkunft verbunden. So übten Anfang der 2010er Jahre 72 Prozent der Personen, deren Väter Arbeiter oder geringqualifizierte Arbeitnehmer waren, einige Jahre nach ihrem Schulabgang ihrerseits einen Arbeiterberuf oder eine geringfügige Beschäftigung aus. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte dieser Prozentsatz bei 82 Prozent gelegen. [10] Auch wenn dieser Rückgang von einer leichten Verbesserung der Chancen für einen sozialen Aufstieg von Kindern aus der unteren Bevölkerungsschicht zeugt, so unterstreicht er dennoch das nach wie vor hohe Ausmaß der Reproduktion von Ungleichheiten in der französischen Gesellschaft. In der Tat arbeiteten zur gleichen Zeit 70 Prozent der Personen, deren Väter eine leitende Stellung innehatten, einige Jahre nach Abschluss ihres Studiums ihrerseits in einer leitenden Funktion oder auf der mittleren Führungsebene. Die jungen Leute in Frankreich sehen sich also keineswegs alle der gleichen sozialen Dynamik gegenüber.
Schritt in die Eigenständigkeit
Dies vermag die französische Gesellschaft offenbar nicht aufzufangen, wie ein Blick auf die Bedingungen zeigt, unter denen junge Leute in Frankreich den Schritt ins Erwachsenenalter und in eine eigenständige Lebensführung bewältigen.
Von zentraler Bedeutung bei diesem Prozess ist das Bildungswesen. Mit Blick auf den Schulbereich lassen die Ergebnisse der PISA-Studie darauf schließen, dass Frankreich das untersuchte Land ist, in dem sich die soziale Herkunft am stärksten auf die schulischen Leistungen auswirkt. Die frühzeitigen und wiederholten Evaluationen weisen sogar darauf hin, dass die ursprünglich zwischen den Schülern bestehenden Ungleichheiten, die mit ihrer sozialen Herkunft zusammenhängen, sich in den ersten Schuljahren noch verstärken. Im Hochschulbereich steht die breite Öffnung der 1960er Jahre zwar für eine regelrechte Revolution, und während Kinder, deren Väter Arbeiter oder geringqualifizierte Angestellte waren, die ihre Schullaufbahn über die französische Primarstufe hinaus fortführten, gegen Ende der 1950er Jahre noch eine sehr kleine Minderheit ausmachten, so stehen sie heute für ein Viertel der Hochschulstudenten. [11] Doch in eine echte Demokratisierung mündete diese Öffnung letztlich insofern nicht, als das Bildungswesen sich zunehmend verästelte und sich eine Überrepräsentation von Schülern aus den sozial privilegierteren Schichten in den renommierteren Zweigen entwickelte, die bis heute anhält.
Das ist umso besorgniserregender, als der Abschluss in Frankreich die gesamte Berufslaufbahn besonders stark beeinflusst: So sind Niveau und Art des Abschlusses in der Tat nicht nur entscheidend für die Schnelligkeit der Integration in den Arbeitsmarkt oder die Qualität der Erstanstellung, sondern bleiben während der gesamten Karriere ein entscheidendes Kriterium. Davon zeugt insbesondere, dass berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten Führungskräften und Angestellten auf der mittleren Führungsebene häufiger zugutekommen als geringqualifizierten Angestellten: Je besser der ursprüngliche Abschluss, desto höher die Wahrscheinlichkeit, eine berufliche Weiterbildung in Anspruch nehmen zu können. [12] Anstatt Ungleichheiten auszubügeln, trägt somit auch die berufliche Weiterbildung dazu bei, sie zu verschärfen. Die Funktionsweise des französischen Bildungswesens scheint also die frühe Festlegung des Lebensweges junger Leute insgesamt eher noch zu begünstigen.
Doch nicht allein das Bildungswesen kommt auf dem Weg in die Autonomie zum Tragen. Dazu liefert die Vergleichsstudie der Soziologin Cécile Van de Velde wertvolle Erkenntnisse. [13] Aus ihren Analysen leitet sie in Abhängigkeit der Charakteristiken des Bildungssystems, des Typus des Wohlfahrtsstaates und der nationalen Kultur drei verschiedene Modelle ab.
In Dänemark ebenso wie in den anderen skandinavischen Ländern gilt die Jugend als eine lange Lebensphase, in der junge Leute sich die Zeit nehmen können, um sich im Prozess ihrer persönlichen Entwicklung »selbst zu finden«. Ein entschlossenes Eingreifen des Staates ermöglicht vielfältige Erfahrungen, etwa durch eine direkte und universale finanzielle Unterstützung in Höhe von rund 800 Euro, die alle jungen Dänen in Form von 72 »Monatsgutscheinen« erhalten und flexibel und ohne Altersgrenze eingesetzt werden kann. Dadurch wird ein fließender Übergang zwischen Ausbildung und Beruf gefördert.
Im liberalen Großbritannien bedeutet das Erwachsenwerden in erster Linie, »für sich selbst aufzukommen«. Bei diesem individuellen Emanzipationsprozess kommt dem Markt eine zentrale Rolle zu: dem Arbeitsmarkt, denn fast alle Studenten arbeiten nebenher, und dem Finanzmarkt, um sich durch Kredite das Studium zu finanzieren.
In Spanien und anderen Ländern des Mittelmeerraums geht es für die jungen Leute darum, »sich niederzulassen«. Hier steht die Familie im Zentrum: Sie begleitet den jungen Menschen bis zur beruflichen und finanziellen Eigenständigkeit und kommt bis zum späten Verlassen des Elternhauses für ihn auf.
Das französische Modell ist nicht ganz eindeutig zuzuordnen. Zwar hält sich der Staat nicht vollständig aus dieser Lebensphase heraus, denn er finanziert Stipendien und Wohngelder für Studierende, und auch der Markt spielt eine Rolle, denn Schätzungen zufolge arbeitet etwa die Hälfte der Studierenden in Frankreich. [14] In Wirklichkeit aber ist es zu einem Großteil die Familie, die den Weg der jungen Franzosen in die Eigenständigkeit schultert: Die direkte finanzielle Unterstützung der Eltern für ihre studierenden Kinder machte 2013 fast die Hälfte von deren durchschnittlichem Monatsbudget aus. [15]
Letztlich ist das französische Modell somit nicht allzu weit vom spanischen entfernt, spielt doch in beiden Ländern die Familie eine tragende Rolle.
Diese wichtige Funktion der Familie auf dem Weg ins Erwachsenenalter wirkt in Frankreich mit der sozialen Vorprägung des schulischen Wettbewerbs und der enormen Bedeutung des Abschlusses für die gesamte weitere berufliche Laufbahn zusammen, um das Schicksal der jungen Franzosen sehr früh zu besiegeln. Insgesamt kann festgehalten werden: Die französische Gesellschaft gibt ihren jungen Leuten meist keine echte zweite Chance.
Für einen politischen Vorstoss
In einer Zeit, in der die Dauer der beruflichen Laufbahnen zunimmt, ist es nicht hinnehmbar, dass die Würfel bereits im Alter von 17 oder 23 Jahren nach Abschluss der ersten Ausbildung fallen. Um das zu ändern, sind entsprechende politische Weichenstellungen notwendig.
In der Tat verdichten sich die Ergebnisse verschiedener Studien zu dem Schluss, dass Markt und Familie weniger effizient sind als der Staat, wenn es darum geht, Ungleichheiten zu nivellieren, die mit dem sozialen Milieu zusammenhängen, in das man geboren wird. So zeigen OECD-Studien zur Weitergabe von Einkommensunterschieden von Generation zu Generation tendenziell ein geografisches Gefälle in Europa: Je weiter man sich gen Norden bewegt, desto schwächer wird die soziale Reproduktion, wobei Frankreich innerhalb dieses Rankings zwar besser platziert ist als Spanien, aber hinter Deutschland und den skandinavischen Ländern. [16] Andere Arbeiten unterstreichen das schwache Abschneiden »liberaler« Länder wie Großbritannien oder den USA, in denen Einkommensvorteile in 40 bis 50 Prozent der Fälle von Vätern an ihre Söhne weitergegeben werden. [17]
Entsprechend unterschiedlich blicken die jungen Leute in den verschiedenen Ländern auch in die Zukunft: Sämtliche europäische Erhebungen zeigen, dass sich die jungen Skandinavier durch einen außerordentlichen Optimismus auszeichnen. So haben sich etwa im European Social Survey noch vor Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 junge Dänen, Schweden und Norweger bei der Bewertung des Grades ihrer Besorgnis hinsichtlich ihres zukünftigen Lebensstandards (von der Note 0 »überhaupt nicht besorgt« bis zur Note 10 »sehr besorgt«) eine durchschnittliche Note unter 4 zugeteilt, während sich die jungen Deutschen, Franzosen, Spanier und Briten mit Durchschnittsnoten zwischen 5,5 und 6,5 deutlich beunruhigter zeigten.
Zwar waren die jungen Franzosen nicht die einzigen mit Zukunftssorgen. Aber als sie zu dem Platz befragt wurden, den die französische Gesellschaft ihnen einräumt, gaben unvergleichlich hohe 51 Prozent an, ihnen werde nicht ermöglicht zu zeigen, wozu sie »wirklich fähig sind«; 2013, nach einigen Jahren strenger Wirtschaftskrise, lag dieser Wert bei der großangelegten Umfrage »Génération Quoi?« von France Télévision bei über 70 Prozent.
Frankreich sieht sich mit Blick auf seine junge Generation somit zwei Notwendigkeiten gegenüber: Zum einen gilt es zu verhindern, dass die in den ersten Lebensjahren angetroffenen Schwierigkeiten »Narben« hinterlassen und sich auf das ganze weitere Leben auswirken. Die sozialen Ungleichheiten, die innerhalb der jungen Generation immer stärker werden, und ihre Reproduktion müssen gezielt bekämpft werden. Zum anderen ist es ebenso wichtig, die Ungleichheiten auszuräumen, die sich zwischen den Generationen vertiefen.
Zur Verwirklichung dieses zweifachen Ziels müssen die Bedingungen, unter denen die jungen Franzosen eigenständig werden, vollständig überdacht werden. In diesem Zusammenhang könnte der Ansatz der nordeuropäischen Länder inspirieren, in denen der Staat die sensible Lebensphase des Übergangs ins Erwachsenenalter intensiv begleitet – auch wenn kein Modell eins zu eins übertragen werden kann. Insbesondere ginge es darum, die Altersgrenzen für die soziale Absicherung abzubauen, um den unter 25-Jährigen denselben Schutz zukommen zu lassen wie dem Rest der Bevölkerung, sowie um die Einrichtung eines allen zugänglichen Systems zur beruflichen Weiterbildung.
Doch auch über die Grenzen Frankreichs hinaus sollten die europäischen Staaten den Platz hinterfragen, den sie ihrer Jugend einräumen: In den alternden Gesellschaften, von denen jede einzelne mit den Auswirkungen der aufeinanderfolgenden Wirtschaftskrisen zu kämpfen hat, braucht es mehr denn je einen echten politischen Vorstoß zugunsten der jungen Leute, damit es auf europäischer Ebene nicht zu einer tatsächlich geopferten Generation kommt.
Aus dem Französischen übersetzt
von Sandra Uhlig, Bonn
Dieser Text wurde übernommen aus »Aus Politik und Zeitgeschichte« (APuZ), Nr. 48/2016, November 2016; alle Rechte verbleiben bei der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Sämtliche APuZ-Ausgaben gibt es kostenfrei unter www.bpb.de/apuz.
***
Fußnoten
1. Vgl. Jean Flamand, Dix ans de transitions professionnelles: un éclairage sur le marché du travail français, France Stratégie, Document de travail, März 2016.
2. Vgl. Camille Peugny, Le destin au berceau. Inégalités et reproduction sociale, Paris 2013.
3. Vgl. Hippolyte d’Albis/Pierre-Yves Cusset/Julien Navaux, Les jeunes sont-ils sacrifiés par la protection sociale?, France Stratégie, Note d’analyse 37/2016.
4. Vgl. Christian Baudelot/Roger Establet, Avoir trente ans en 1968 et 1998, Paris 2000, S. 61.
5. Vgl. Louis Chauvel, L’âge de l’Assemblée (1946–2007). Soixante ans de renouvellement du corps législatif: bientôt la troisième génération, 22.10.2007, »http://www.laviedesidees.fr/L-age-de-l-Assemblee-1946-2007,81.html«.
6. Vgl ders., Le destin des générations. Structure sociale et cohortes en France au XXème siècle, Paris 1998.
7. Vgl. etwa Laurent Guimier/Nicolas Charbonneau, Génération 69: les trentenaires ne vous disent pas merci, Paris 2005.
8. Vgl. Centre d’études et de recherche sur les qualifications (CEREQ), Génération 2010: Enquête 2013, »http://www.cereq.fr/sous-themes/Enquetes-Generation-Sous-Themes/Generation-2010-enquete-2013«.
9. Vgl. ebd.
10. Vgl. Peugny (Anm. 2).
11. Vgl. Ministère de l’Education nationale, de l’Enseignement supérieur et de la Recherche, Repères et Références statistiques 2016, Paris 2016, S. 181.
12. Vgl. CEREQ, Quand la formation continue. Repères sur les pratiques de formation des employeurs et des salariés, 2009, »http://www.cereq.fr/content/download/643/10223/file/QFC.pdf«.
13. Vgl. Cécile Van de Velde, Devenir adulte. Sociologie comparée de la jeunesse en Europe, Paris 2008.
14. Vgl. Jean-François Giret/Cécile Van de Velde/Elise Verley, Les vies étudiantes. Tendances et inégalités, Paris–Vanves 2016.
15. Vgl. ebd.
16. Vgl. etwa Orsetta Causa et al., Intergenerational Social Mobility in European OECD Countries, OECD Economics Department Working Paper 709/2009.
17. Vgl. etwa Miles Corak, Do Poor Children Become Poor Adults? Lessons from a Cross Country Comparison of Generational Earnings Mobility, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, IZA Discussion Paper 1993/2006.
***
Essay, Fazit 129, (Jänner 2017) – Foto: Thomas Deszpot
Kommentare
Antworten