Gedanken zum Lutherjahr: Am Höchsten scheitern
Redaktion | 30. März 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 131, Kunst und Kultur
Wir erleben einen gar nicht so schleichenden Kulturverlust, schrieb Hans Rauscher vor kurzem in einer österreichischen Tageszeitung. Er beweist dies ansonsten ja auch jeden Tag.
Vor 500 Jahren begann die Reformation, ausgelöst durch den deutschen Augustinermönch und Professor für Bibelauslegung Martin Luther. Jeder kennt Martin Luther. Aber kennen wir ihn gut genug? Die Beschäftigung mit alten weißen Männern ist die passende Beschäftigung für jeden, der heute neu denken und die Gegenwart verstehen will. Das Lutherjahr 2017 ist, wie jedes andere Gedenkjahr, ein guter Anlass, die Vergangenheit für uns Heutige fruchtbar zu machen.
Besessener
Martin Luther war ein Besessener, der, als die Theologie noch Königin der Wissenschaften war, das abendländische Menschsein durch Rückgriff auf dessen christlich-biblische Grundlagen neu dachte und neu formte. Die Folge waren große Konflikte, große Forderungen – großes Drama. Etwas, das wir an Luther bewundern können, ist wohl seine Radikalität: Hier stehe ich und kann nicht anders … Diese Radikalität war möglich, weil Luther an Gott glaubte; zweifelnd, verzweifelnd, aber auch hoffend an Gott glaubte. Sie war möglich, weil Luther Theologe war.
::: Text von Michael Bärnthaler
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Denn die Theologie ist immer radikal. Sie muss radikal sein, weil sie das Absolute zu fassen trachtet, das Absolute in seiner Beziehung, seiner Relation zum Relativen, zum Menschen. Insofern muss Theologie scheitern. Aber ihr Scheitern ist aufschlussreich, relevant und prägend für den Menschen, der hier scheitert und scheitern muss beim Versuch, sich selbst zu fassen, sich selbst umfassend zu fassen … So einer war Luther. Und vielleicht nimmt, das möchte ich zumindest in den Raum stellen, die Reduktion von Theologie auf Anthropologie dem Menschen diese Möglichkeit umfassender Fassung, die Möglichkeit, umfassend zu scheitern – die Möglichkeit, am Höchsten zu scheitern.
Denn scheitern muss der Mensch ohnehin. Das hätte auch Luther gesagt. Retten kann ihn nur die Gnade Gottes. Sofern es Rettung, sofern es Gott gibt. Für Luther war der Glaube an Gott noch möglich. Mithin war Theologie, war das Scheitern am Höchsten möglich. Mithin war großes Drama möglich. Das Drama der Geschichte, welches sodann durch Religionskriege, Aufklärung usw. fortschritt. Bis ans Ende der Geschichte, bis zu Donald Trump. Das abendländische Menschsein.
Unabsehbare Folgen
Es gibt den zeitgenössischen Topos, der Islam habe eine Reformation à la Luther nötig. Aber warum sollte radikale Neubesinnung auf den Koran die gleichen Folgen haben wie die radikale Neubesinnung auf die Bibel? Was, wenn der moderne islamische Fundamentalismus schon diese Neubesinnung ist? Mit Folgen, die jene sich nicht wünschen, die eine Reformation à la Luther fordern … Mit diesen Fragen zum Islam sind wir in der Gegenwart angekommen, in unserer postchristlichen europäischen Gegenwart, die auch dadurch gekennzeichnet ist, dass der Islam sich in Europa ausbreitet. Ist eine Religion so gut wie die andere? Ist Religion überhaupt Blödsinn? Was darf, was soll, was muss ich glauben? Was tun? Wie soll ich leben?
Neuer Schwung
Der gar nicht so schleichende Kulturverlust, von dem eingangs die Rede war, kann nur gestoppt werden durch radikalen Rückgriff auf die – durchaus bunten – Grundlagen abendländischen Menschseins. Das Lutherjahr kann ein Anlass sein, im Rahmen der hier aufgeworfenen Fragen mit neuem Schwung und neuer Inspiration über einen der großen Besessenen unserer Geschichte nachzudenken.
Literaturtipps
Lyndal Roper: Der Mensch Martin Luther. Die Biographie
Francis Spufford: Unapologetic. Why, despite everything, Christianity can still make surprising Emotional Sense
Shadi Hamid: Islamic Exceptionalism. How the Struggle over Islam is reshaping the World
Alles Kultur, Fazit 131 (April 2017) – Illustration: Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf
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