Der Mangel an Fachkräften bedroht die Investitionen
Redaktion | 28. Juli 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 135, Fazitthema
Nach langen acht Jahren Wirtschaftskrise ist endlich die Konjunktur von seitwärts in Richtung aufwärts geschwenkt. Erstmals seit Jahren geht die Arbeitslosigkeit zurück. Damit verschärft sich für viele Unternehmen ein Problem, das sich sogar während der Krise und der Phase der hohen Arbeitslosigkeit als entscheidendes Wachstumshemmnis erwiesen hat: die oft vergebliche Suche nach geeigneten Arbeitskräften. Text von Johannes Tandl.
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Aktuell klagt etwa ein Drittel der Unternehmen, dass sie sich kaum in der Lage sehen, die offenen Stellen fachkundig zu besetzen. Am begehrtesten sind zwar die Absolventen der klassischen MINT-Fächer – besonders der Arbeitsmarkt für IT-Ingenieure ist völlig ausgetrocknet –, aber auch die Nachfrage nach klassischen Handwerkern, wie Tischlern, Elektrikern, Schweißern, Maurern oder Installateuren, ist deutlich größer als das Angebot. Den Unternehmen fehlen inzwischen auch Vertriebsmitarbeiter und Büroangestellte. Die Arbeitslosigkeit beschränkt sich hingegen auf ältere Arbeitnehmer, bei denen wegen des Senioritätsprinzips Gehaltshöhe und Produktivität so weit auseinanderliegen, dass den Recruitern das Einstellungsrisiko trotz Förderungen einfach zu hoch erscheint. Und auch die Minderqualifizierten, die bloß die Pflichtschule absolviert haben, tun sich schwer. Weil die Auftragseingänge der Unternehmen aktuell deutlich über den Erwartungen liegen, finden derzeit jedoch auch die Schlechtqualifizierten Arbeit. Doch sobald sich die Auftragsspitzen in eine dauerhaft erhöhte Auslastung wandeln, werden die jetzt eingestellten Hilfsarbeiter wegrationalisiert und durch günstigere Maschinen ersetzt.
Am stärksten belastet sind die Randregionen
Der Fachkräftemangel verschärft zuerst die Probleme in den Abwanderungsregionen. Denn in Bezug auf die Mobilität der Arbeitssuchenden erweist sich die sogenannte Polarisationstheorie als wesentlich tragfähiger als der etablierte neoklassische Ansatz, der davon ausgeht, dass sich ein Marktgleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt durch die erhöhte Mobilität der Arbeitnehmer erreichen lässt. Der empirische Befund weist stattdessen darauf hin, dass der schwedische Wirtschaftsnobelpreisträger Gunnar Myrdal recht hat, wenn er behauptet, dass regionale Marktungleichgewichte nicht zum Ausgleich gelangen, wie es die Neoklassik vorsehen würde, sondern dass die Disparitäten aufgrund kumulativer Entwicklungsprozesse verstärkt oder immer wieder neu strukturiert werden. Der Brain-Drain der für den regionalen Arbeitsmarkt meist überqualifizierten Jugendlichen in die Ballungsräume lässt sich also nicht einmal stoppen, wenn regional entsprechend hochwertige Jobs geschaffen werden. Immer öfter stellen die Unternehmen außerhalb der Ballungsräume daher fest, dass sie an ihrem Standort an der Peripherie nicht genügend hochqualifiziertes Personal finden können. Sie schrauben daher ihre Investitionen zurück oder investieren dort, wo das Arbeitskräfteangebot größer ist. Bereits ausgedünnte Randregionen geraten dadurch in einen Teufelskreis: Weil es zu wenig gut ausgebildete Junge vor Ort gibt, können auch die verbliebenen Unternehmen ihre offenen Stellen nicht nachbesetzen und sehen sich zu Niederlassungen in den Ballungsräumen gezwungen. Dorthin wird dann ein Geschäftsbereich nach dem anderen verlagert, bis das Unternehmen gänzlich abwandert.
Die Gewerkschaften bestreiten das Problem
Gewerkschafter bezeichnen den Fachkräftemangel als Phantom. Sie behaupten, dass Unternehmen, denen Fachkräfte fehlen, einfach nicht attraktiv genug seien oder dass sie ihre Mitarbeiter zu schlecht entlohnen. So zeigte sich ÖGB-Präsident Erich Foglar angesichts der Aussage von Finanzminister Hans Jörg Schelling, der den Fachkräftemangel beklagte, irritiert: »Der vielbeklagte Fachkräftemangel ist ein Mythos«, so Foglar. Österreich habe keinen Mangel an Arbeitskräften, sondern einen an Arbeitsplätzen. Wenn Fachkräfte wirklich so knapp wären, müsste es ja zu Überzahlungen kommen – das tue es aber nicht. Und Foglar ergänzt: »Auch die Zahl der Lehrbetriebe und der Lehrplätze ist rückläufig. Da drängt sich schon der Verdacht auf, dass das ständige Lamento über den Mangel an Personal ein Vorwand der Wirtschaft ist.«
Foglar kann sich bei seinen Aussagen auf Produktivitäts- und Lohnvergleiche stützen. Denn tatsächlich verdient ein durchschnittlicher vollzeitbeschäftigter deutscher Arbeitnehmer deutlich mehr als sein österreichischer Kollege. Und das obwohl die Produktivität in der Bundesrepublik niedriger ist. So erhielt im Jahr 2014 der deutsche Arbeitnehmer mit monatlich brutto 3.380 Euro um 386 Euro mehr als der österreichische mit nur 2994 Euro. Womit die Arbeitnehmervertreter nicht argumentieren, sind jedoch die Arbeitskosten. Die liegen in Österreich mit 32,70 Euro pro Arbeitsstunde deutlich über dem Durchschnitt der Eurozone von 29,80 Euro oder der EU-28 mit 25,40 Euro und sind gleich hoch wie in Deutschland. Teurer als in Österreich ist die Arbeit nur in Skandinavien, Belgien und Frankreich, also Länder, in denen entweder die Produktivität deutlich höher ist als bei uns oder in denen der Anteil der Sachgütererzeugung am BIP seit Jahren rückläufig ist, weil die Industriebetriebe wegen der hohen Kosten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. In einem EU-Produktivitätsranking liegt Österreich übrigens auf dem vierten Rang – mit 114,7 Prozent des EU-Schnitts sogar um 8,7 Prozentpunkte vor Deutschland. Aus Arbeitnehmersicht sind deshalb höhere Löhne durchaus gerechtfertigt. Dabei nehmen sie jedoch auf die niedrigen Nettolöhne Bezug, denn davon, dass in kaum einem anderen EU-Land die arbeitsbezogenen Belastungen für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber so hoch sind wie bei uns, kann sich kein Arbeitnehmer etwas kaufen.
Der Anteil der Sachgütererzeugung
an der Wertschöpfung wächst
Der Anteil der industriellen Wertschöpfung an der gesamten Wirtschaftsleistung liegt in Österreich mit 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) deutlich über dem EU-Schnitt von 19 Prozent. Der Anteil der Sachgütererzeugung – also von Industrie, Gewerbe und Handwerk (inkl. Bau) – am BIP beträgt sogar 57 Prozent. Und er ist weiter steigend. Trotzdem geht die Beschäftigung in der Sachgütererzeugung zurück. So fanden bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise noch beinahe 700.000 Menschen im produzierenden Sektor Arbeit. Im Jahr 2016 waren es nur mehr etwa 620.000. Also schon bevor die Digitalisierung die Arbeitswelt voll durchdrungen hat, kann das Wirtschaftswachstum nicht mit den Produktivitätssteigerungen Schritt halten. Daher drängt sich die Annahme auf, dass das Arbeitskräfteangebot auch in Zukunft deutlich schneller steigen wird als die Nachfrage. Die strukturelle Arbeitslosigkeit könnte daher sämtliche Bereiche erfassen, in denen die Arbeitnehmer sich wiederholende Tätigkeiten ausführen. Selbst ein Wirtschaftswachstum von über zwei Prozent würde dann nicht mehr ausreichen, um die Beschäftigung zu heben. Doch welche Beschäftigungsauswirkungen die Digitalisierung im Detail haben wird, bleibt umstritten.
Österreich ist Teil der erfolgreichen
zentraleuropäischen Industriekernzone
Ein Bericht des IWF spricht nämlich vom Herausbilden »zentraleuropäischer Wertschöpfungsketten«. Und inzwischen gibt es klare empirische Nachweise dafür, dass sich die europäische Sachgüterproduktion zunehmend im zentraleuropäischen Raum bündelt. Die europäische Industrie verlagert sich also langfristig auf eine »zentraleuropäische Industriekernzone«. Sie besteht aus Deutschland, dem Dreh- und Angelpunkt dieser transnationalen Wertschöpfungsketten, sowie aus den vier Visegrád-Ländern Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen und eben aus Österreich.
Die sechs zentraleuropäischen Industriekernländer weisen inzwischen eine wesentlich höhere »Exportintensität« – gemessen als Wertschöpfungsexporte der Sachgüterindustrie pro Einwohner – auf als die übrigen EU-Mitgliedstaaten. Die Exporte der Kernzone stiegen seit dem Jahr 2000 um 40 Prozent schneller als jene der restlichen EU. Das ist signifikant. Die Mitglieder der zentraleuropäischen Industriekernzone konnten ihre Marktanteile am europäischen Warenverkehr seit 1995 daher um etwa 10 Prozent steigern. Das ist extrem viel und war nur auf Kosten aller anderen 22 EU-Mitgliedsländer möglich. Die Folgen erkennt man deutlich am sinkenden Anteil der industriellen Wertschöpfung in diesen Staaten. Es ist also davon auszugehen, dass sich die Industrie weiter in der zentraleuropäischen Industriekernzone bündeln wird. Und zwar nicht wegen des Euro, der die Kostensituation der deutschen Wirtschaft womöglich besser darstellt, als sie ist, sondern wegen der inzwischen gut eingespielten Wertschöpfungsketten, die einen Bereich nach dem anderen erfassen und denen die restlichen EU-Staaten wenig entgegenzusetzen haben. Eine Studie des Wiener Instituts für Wirtschaftsvergleiche aus dem Jahr 2013 zeigt für die Länder der zentraleuropäischen Industriekernzone auf, dass deren Produktionsprozesse vorwiegend mit jenen der übrigen Mitglieder dieser Gruppe verwoben sind. Die stärkste Orientierung in dieser Produktionsvernetzung hin zu anderen Mitgliedern der zentraleuropäischen Industriekernzone zeigt sich für Österreich, wo rund die Hälfte aller bestehenden Produktionsvernetzungen mit anderen Ländern der Region bestehen. Dass sich nun auch ein Teil der »neuen Seidenstraße«, in die China Milliarden für die regionale und überregionale Infrastruktur investieren will, um sich besser wirtschaftlich zu vernetzen, mit diesem Gebiet deckt, kann die Entwicklung zusätzlich beschleunigen. Damit ist der Weg vorgezeichnet, dass die Industrie auch in Zukunft auf hochqualifizierte Mitarbeiter angewiesen sein wird. Dass sich die Liste der Mangelberufe in zehn Jahren allerdings mit jener der heutigen Mangelberufe decken wird, kann dennoch bezweifelt werden.
Die große Unbekannte:
Die Auswirkungen der Digitalisierung
Selbst wenn die Digitalisierung niedrigqualifizierte Jobs durch hochwertige Arbeitsplätze ersetzen wird, ist davon auszugehen, dass dieser Austausch nicht im Verhältnis eins zu eins stattfindet. Es steht also ein herausfordernder Strukturwandel ins Haus, bei dem vorübergehend Arbeitsplätze wegfallen und es zu beruflicher Um- und Neuorientierung kommen muss. Wohin mit den Arbeitnehmern, deren Jobs wegfallen? Wie sehen etwa die Übergänge für Lkw-Fahrer oder Taxilenker zu Jobs mit einem höheren Qualifikationsniveau aus, sobald sich das autonome Fahren tatsächlich in wenigen Jahren durchgesetzt hat? Der Arbeitsmarktexperte Wolfgang Mazal vergleicht die Art und Weise und den Umfang, in dem die Digitalisierung die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts verändern wird, mit der ersten industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts, bei der der gewaltige Umbruch auch bereits früh erkennbar war. Auch damals, so Mazal, änderte sich die Lebens- und Arbeitswelt der Menschen binnen weniger Jahrzehnte radikal. Bei der Digitalisierung ginge das aber noch schneller.
Der Kern sämtlicher Industrie-4.0-Studien reduziert sich darauf, dass Maschinen und Automaten die menschliche Arbeitskraft sogar in jenen Bereichen ersetzen werden, in denen das bis dato niemand für möglich gehalten hat. So soll die Bürosoftware der Zukunft Buchungsfehler schneller erkennen und korrigieren als der beste Buchhalter. Sie wird auch bessere Vorschläge für die Bilanzgestaltung machen als der schlaueste Steuerberater. Aber womöglich brauchen die Unternehmen der Zukunft eine noch viel gezieltere Beratung in Form menschlicher Expertise, die weit über die derzeit üblichen Benchmark-Vergleiche hinausreicht. Für Mazal wäre es eine Kapitulation der Humanität einer Gesellschaft, wenn sie sich nicht mehr bemühen würde – trotz Digitalisierung –, für alle eine Arbeit zu suchen, die Anerkennung und sozialen Schutz gibt. Mazal ist daher gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil es die Menschen durch Transferleistung zwar ruhigstellen, aber keinen Selbstwert durch Anerkennung verschaffen würde. Die Nachfrage nach Fachkräften wird sich jedenfalls völlig verändern und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf Bereiche mit kreativem und innovativem Potenzial konzentrieren, weil menschliche Tätigkeiten mit hoher Wiederholungsrate durch rund um die Uhr einsatzbereite, nahezu fehlerfrei arbeitende, vernetzte Systeme künstlicher Intelligenz ersetzt werden. Wie schon heute wird auch der Manager der Zukunft den Zeitpunkt für eine Rationalisierungsinvestition von den Kosten abhängig machen. Und wie schon heute ist auch in zwanzig Jahren davon auszugehen, dass jene Fachkräfte, die in der Lage sind, die komplexen Technologiesysteme zu implementieren, zu betreuen und zu reparieren, besonders gefragt sein werden. Der Fachkräftemangel wird uns also auch in das Zeitalter der Digitalisierung begleiten.
Konstant hohe Nachfrage im Mint-Bereich
Auch darin, dass die erforderlichen Qualifikationen, um den Herausforderungen der zukünftigen Arbeitswelt gewachsen zu sein, am ehesten in den sogenannten Mint-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, vermittelt werden, sind sich die Arbeitsmarktexperten einig. Angeblich herrscht allein bei der österreichischen Industrie eine permanente Nachfrage nach etwa 1.000 Hochschulabsolventen dieser Studienrichtungen. Derzeit übernehmen übrigens viele HTL-Absolventen Mint-Jobs, die für Akademiker vorgesehen sind. Dazu zählen technische Berufe in der Industrie und Ingenieur-Berufe. Gerade in der industriellen Fertigung veränderten sich durch Digitalisierungsprozesse bereits in den vergangenen Jahren viele Tätigkeiten. Daher werden vor allem höher qualifizierte Mitarbeiter gesucht. Laut einer Studie des von der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung betriebenen »Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft« (IBW) steigt in der Praxis allerdings nicht vorrangig der Bedarf nach Akademikern, sondern auch nach höher qualifizierten Lehr-, Fachschul- und BHS-Absolventen.
Eine Befragung des IBW unter den heimischen Industrieunternehmen hat ergeben, dass die Mitarbeiter in Bezug auf den Einsatz intelligent vernetzter Technologien hinterherhinken. Beim Auffüllen dieser Lücke haben zwei Drittel der Unternehmen große Schwierigkeiten. Da etwa die TU Wien die Studienplätze zuletzt weiter reduziert hat, wird sich das Problem verschärfen. Und auch die hohe Drop-out-Rate bei Technikstudien – sie liegt bei Informatik nach zwei Semestern bei etwa 50 Prozent – muss deutlich, etwa durch eine bessere Studieneingangsphase, reduziert werden. Und so suchen die Betriebe händeringend nach Technikern und Informatikern. Bereits zwei Drittel der mittelständischen Unternehmen sehen im Fachkräftemangel den wichtigsten Grund dafür, dass sich die Unternehmen umsatzmäßig nicht so entwickeln können, wie es die Marktlage zuließe. Aktuell kann nur eine von vier offenen Stellen besetzt werden. Pro Jahr könnten in Österreich in den MINT-Fächern 10.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Das wird jedoch nicht der Fall sein. Erstens weil die Ausbildungskapazitäten fehlen und zweitens weil es viel zu wenige Interessenten für diese Fächer gibt. Denn für die angehenden Studiosi besteht bei einem MINT-Studium an meist bestenfalls durchschnittlichen österreichischen Universitäten die äußerst hohe Wahrscheinlichkeit, bereits kurz nach Studienbeginn zu scheitern.
Fazitthema Fazit 135 (August 2017)
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