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Also Weihnachten

| 22. Dezember 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 139, Kunst und Kultur

Foto: Wolfgang Moroder

Michael Bärnthaler mit einem Text über das große Fest der Liebe. Und was davon übrig ist.

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Wir vergessen gerne, dass unser Kalender einmal einen Sinn hatte. Nicht nur den Zweck, die Zeit einzuteilen und besser handhabbar zu machen – wozu jede beliebige Einteilung prinzipiell tauglich ist. Nein, unsere christliche Zeiteinteilung und Zeitrechnung hatte – natürlich – einen religiösen Sinn, ordnete das Leben in der Dimension der Zeit nach religiösen Vorstellungen. Wir leben im Jahr 2017 nach der Geburt des Erlösers. Aber das hat keine Bedeutung mehr. Wir rechnen halt noch so, aus Gewohnheit. Der christliche Kalender wurde säkularisiert, er erfüllt seine profanen Zwecke ja so gut wie ein anderer.

Das Weihnachtsfest ist natürlich ein Event, das Erinnerungen weckt – nicht nur Kindheitserinnerungen, sondern womöglich auch Erinnerungen an die religiöse Dimension unserer Zeiteinteilung. Religiöse Erinnerungen – das kann passieren … Natürlich ist die Gegenüberstellung von religiösem Sinn und kommerzieller Ausgestaltung von Weihnachten längst zum Topos eines vorweihnachtlichen Literaturgenres geworden, in welches dieser Text wohl zu fallen droht. Ich schreibe ihn trotzdem, weil ich – dieses Genre überschreitend – dazu anregen möchte, dass wir uns – über Weihnachten und alle Anlässe hinaus – auf die Suche nach Spuren des Christlichen in unserer Gegenwart machen. Wir leben ja tatsächlich in einer Zeit der Repaganisierung. Dass wir darüber lachen, wenn dieser Umstand von kirchlicher Seite thematisiert wird, bestätigt das Urteil eher noch. Was ist der Unterschied zwischen Atheismus und Heidentum? Es gibt natürlich Unterschiede; ich will darauf nicht näher eingehen. Wir feiern Halloween, wir feiern den Black Friday. Dieser ist das zeitgenössische Fest par excellence. Auch wenn Konsumkritik für Loser ist, kann es nicht schaden, darauf hinzuweisen. Gibt es noch Christen in Europa? Ich sage, es gibt keine Christen mehr. Prove me wrong.

Also Weihnachten, das Fest der Liebe … Gott ist die Liebe, der Grund der Welt ist Liebe. Stille Nacht! Heilige Nacht! Wissen wir denn, was wir da sagen und singen? Glauben wir‘s? Sind wir am Ende doch noch Christen? 2017 kannten bereits 89 Prozent aller Deutschen den Black Friday. Wie viele kennen die wesentlichen Inhalte der christlichen Religion? Manchmal wirkt der Fortschritt einfach wie ein Forttaumeln in die Beziehungslosigkeit, ein ständiges Kappen von Verbindungen zu allen sinnstiftenden Formen und Traditionen … Ich denke, wir brauchen heute mehr denn je den kreativen Rückgriff auf diese uns entgleitenden Traditionen.

Dann können wir singen: Gottes Sohn! O! wie lacht Lieb’ aus deinem göttlichen Mund. Da uns schlägt die rettende Stund’. Oder so.

Alles Kultur, Fazit 139 (Jänner 2018) – Faksimile: Aufbau-Verlag

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