Diversity als Chance für Lehrende zu lernen (1)
Maryam Laura Moazedi | 26. April 2018 | 2 Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 142
Ein Essay von Maryam Laura Moazedi. Vielfalt in der Schulklasse: Diversity als Chance für Lehrende zu lernen. Teil 1: Vorurteile, Homophone und ein paar Zitate von Sir Peter Ustinov.
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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Diversity-Fachfrau und -Bloggerin, sowie Universitätslektorin an der Grazer Karl-Franzens-Universität. moazedi.org.
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Hier finden Sie Teil 2 dieses Essays
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»Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen. Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist.« Sir Peter Ustinov
Lehrerinnen und Lehrer sind nicht vor Vorurteilen gefeit. Wer ist das schon. Als Personen, die die Lebensqualität, das Selbstbild, die Motivation und Zukunftschancen junger Menschen mit beeinflussen können, hat das Ausleben ihrer Vorurteile in Schulklassen allerdings potenziell schwerwiegende Folgen. Anders betrachtet haben Lehrende die Chance, konstruktiv mit in der Gesellschaft vorherrschenden Vorurteilen umzugehen und das Leben ihrer Schülerinnen und Schüler langfristig positiv zu prägen. Der Umstand, dass Vorurteile bei näherer Betrachtung einen durchaus absurden Charakter annehmen können wirkt nicht mildernd auf die Konsequenzen für Betroffene.
Selbst banale Marker wie Gewicht, Vorname oder Haarfarbe reichen aus, um einen Diskriminierungsprozess in Gang zu setzen. So zeigen Studien, dass Lehrende gegenüber übergewichtigen Schulkindern eine geringere Erwartungshaltung zeigen, ihnen weniger Erfolgschancen zuschreiben und sie allgemein tendenziell negativer beurteilen. Damit spiegeln sie eine auch von Schulkindern übernommene Haltung wider. Übergewichtige sind an Schulen »beliebte« Mobbing-Opfer. Schon an Volksschulen steigt die Wahrscheinlichkeit gemobbt zu werden um 63 Prozent für Kinder, die nicht schlank sind. Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren beschreiben übergewichtige Gleichaltrige als faul, wenig intelligent, gierig und unbeliebt. In einer Umfrage meinten 92 Prozent der Jugendlichen, sie wären mindestens ein Mal Zeugen von gewichtsbedingtem Mobbing geworden. Die 2013 in Deutschland durchgeführte Untersuchung von Helbig und Jähnen ergab, dass überwichtige SchülerInnen seltener gute Noten bekommen als schlanke, dass die Wahrscheinlichkeit in Mathematik ein Sehr gut oder Gut zu bekommen um 10 Prozent sinkt und bei adipösen Jugendlichen ein seltenerer Gymnasialübergang gegeben ist. Gesundheitliche Probleme oder ungünstige Persönlichkeitseigenschaften werden als Ursachen für das vergleichsweise schlechte Abschneiden ausgeschlossen. Auch Vornamen können zu Vorannahmen führen und zum Schulproblem werden. Einer 2009 durchgeführten Befragung von 500 deutschen GrundschullehrerInnen zufolge können Vornamen der Kinder bei Lehrerinnen und Lehrern Vorurteile auslösen. Kinder namens Chantal, Justin oder Maurice werden mit Leistungsschwäche verbunden und schlechter benotet, bei Kevin kommt sogar die »Diagnose« der Verhaltensauffälligkeit hinzu. Beliebt sind unter Lehrkräften Namen wie Charlotte, Sophie, Marie, Hannah, Alexander, Maximilian und Simon – nicht nur die Namen, sondern Kinder mit diesen Namen. Kevin geht nicht. Levin ist da etwas ganz Anderes. Alte deutsche und deutsch klingende Namen – wie Emma, Lotte, Lena, Leonie, Friedrich, Otto oder Jakob – die Tradition vermitteln sollen und konservativ klingen sind in unseren Breitengraden seit Jahren im Trend. In manchen Ländern ist das Mobbing von Rothaarigen ein nicht zu unterschätzendes Problem. Betroffen sind sowohl Frauen als auch Männer wobei Stereotypen über männliche Rothaarige meist negativer ausfallen als jene über weibliche Rothaarige. Zudem sind Reaktionen auf Männer häufig mit körperlicher Gewalt verbunden. Selbst Prinz Harry soll in der Schule haarfarbenbedingtes Mobbing erfahren haben. Diskutiert wird auch, ob das Aussehen der Kinder in die Leistungsbeurteilung einfließt. Schon in den 1970er-Jahren gaben Clifford und Walster Schullehrerinnen und -lehrern Fotos von Kindern mit der Aufforderung, deren Intelligenz, Bildungsinteresse (auch das ihrer Eltern) und Schulerfolg einzuschätzen. Bei den Angaben stellte sich ein klarer Zusammenhang mit der Attraktivität des Kindes heraus. Eine 2012 an Fünft- und NeunklässlerInnen deutscher Gymnasien durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen Aussehen und Beurteilung der Lehrenden gebe, wobei eine Reihe weiterer ungeklärter Faktoren im Hintergrund wirksam sein könnte. Einer in den USA durchgeführten Studie unter 9.000 High-School-Kindern zufolge berichteten als attraktiv geltende Schulkinder von mehr Aufmerksamkeit des Lehrkörpers ihnen gegenüber.
Die Erwartungshaltung der Lehrkräfte kann zum Erwartungsvorteil oder -nachteil werden. Mit anderen Worten: Erwartung blendet und verhindert bei mangelnder Reflexion objektives Verhalten. Mitte der 1960er-Jahre zeigten Rosenthal und Jacobson mit ihrem Aufsehen erregenden Feldexperiment die Folgen von Lehrererwartung auf Schulleistung, den sogenannten Pygmalion Effekt. Lehrerinnen und Lehrern einer US-amerikanischen Volksschule wurde gesagt, man würde anhand eines Tests Leistungspotenziale der Kinder ermitteln. 20 Prozent der SchülerInnen wurden als sozusagen jene identifiziert, bei denen in naher Zukunft mit einem besonders großen Leistungsschub zu rechnen wäre. Diese 20 Prozent wurden dem Lehrkörper namentlich genannt. Nicht erwähnt wurde der Umstand, dass diese Schülerinnen und Schüler durch Zufall per Loswahl ausgewählt wurden, nicht auf Basis von Leistungsergebnissen. Monate später bearbeiteten alle Kinder wieder einen Intelligenztest. Es zeigte sich, dass die zuvor selektierten 20 Prozent mit deutlich höheren IQ-Werten abschnitten, der, am Rande erwähnt, bei Kindern mit attraktivem Aussehen besonders hoch war. Der plötzliche IQ-Anstieg unter zufällig ausgewählten Kindern wurde auf das veränderte Verhalten der Lehrenden zurückgeführt. Das vermeintliche Wissen um das Potenzial dieser 20 Prozent führte zu einer positiven Erwartung und leistungsförderndem Verhalten. Allgemein zeigen Untersuchungen, dass Lehrerinnen und Lehrer Kinder häufiger kontaktieren, wenn sie von ihnen ein positives Bild haben, zu ihnen freundlicher sind, sie mehr unterstützen, ihnen positive Rückmeldung geben, sie für Erfolge mehr loben und bei schriftlichen Aufgaben eher gewillt sind, Fehler zu übersehen. 1973 untersuchte Seaver den Erwartungseffekt von Lehrenden im Zusammenhang mit Geschwistern. Zeigte ein älteres Geschwisterteil schlechte Leistungen bei Lehrkraft X, so übertrug diese ihre geringe Erwartungshaltung auf das jüngere Geschwisterteil und beurteilte es dementsprechend negativer. War das jüngere Geschwisterteil bei einer anderen Lehrkraft, so wurde es objektiv beurteilt und schnitt besser ab. Mit anderen Worten: Jüngere Geschwister »schlechter SchülerInnen« zeigten bessere Leistungen bei anderen Lehrkräften, da diese unvoreingenommen waren. Der Erwartungseffekt wurde invers übertragen, wenn das ältere Geschwisterteil gute Leistungen bei Lehrkraft X gezeigt hatte.
Lehrerinnen und Lehrer können in die Falle zu tappen, sich bei der Leistungsbeurteilung von ihrer impliziten Persönlichkeitstheorie ablenken zu lassen, einer naiven Theorie, die reflexartig zu Vorurteilen verleitet und auf Annahmen beruht, welche Persönlichkeitseigenschaften miteinander zusammenhängen (z.B. »Brillenträger sind intelligent.«). Gewicht, Vorname, Attraktivität und ältere Geschwister sind Beispiele dafür, wie vorgefasste Meinungen die Urteilsfähigkeit von Lehrenden beeinträchtigen können. Und dabei handelt es sich hier noch nicht einmal um die klassischen Dimensionen von Vorurteil und Diskriminierung: Ethnizität, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung und Religion (Alter wurde hier herausgenommen, da es in der Schule keine Rolle spielt).
Ethnizität
Als Mitte des letzten Jahrhunderts an US-amerikanischen Schulen Segregation nach Hautfarbe per Gesetz aufgehoben wurde, hieß das nicht, dass die Gesellschaft von einem Tag auf den anderen bereit war, das etablierte System von Benach- und Bevorteilung aufzugeben. Den Anfang der Desegregation nahm eine geringe Zahl von schwarzen Kindern, die durch Aufnahmetests für den Zugang zu (ehemals) weißen Schulen selektiert wurden. Die 1954 geborene Ruby Bridges, beispielsweise, wurde als einziges schwarzes Kind der William Frantz Volksschule in New Orleans zugewiesen. An ihrem ersten Schultag wurde sie von einem wütenden, schreienden, Dinge nach ihr werfenden Mob auf der Straße empfangen. Eine Frau drohte, sie zu vergiften, eine andere demonstrierte vor der Schule mit einer schwarzen Puppe im Sarg gegen die Aufhebung der Desegregation. Viele Eltern nahmen aus Protest ihre Kinder aus der Schule, der Lehrkörper weigerte sich zu unterrichten. Das heißt, bis auf eine Lehrerin. Barbara Henry war erst zwei Monate zuvor nach New Orleans gekommen. Für die in Boston sozialisierte Lehrerin war es selbstverständlich, Ruby zu unterrichten. Über ein Jahr hielt sie den Unterricht für das sechsjährige Mädchen alleine in der Schule, Mitschülerinnen und –schüler hatte Ruby nicht; erst gegen Ende des Schuljahres kamen vier Kinder dazu, die – so Henry – trotz des Verhaltens ihrer Eltern noch nicht deren Vorurteile übernommen hatten. Ruby verpasste keinen einzigen Schultag. Barbara Henry, Jahrgang 1932, ist heute noch aktiv und hält Vorträge zu ihren Erfahrungen. Ihre Botschaft an Lehrerinnen und Lehrer ist, dass sie Kinder wissen lassen sollen, dass sie sie respektieren: »Alle Kinder reagieren positiv darauf.«
»We created our own oasis of love and learning. We each had hearts free of prejudice. That was the bond that united us and has become indomitable all these many years later.« Barbara Henry
1968 machte die US-amerikanische Lehrerin Jane Elliott einen Tag nach Martin Luther Kings Ermordung ein Experiment mit ihrer Schulklasse. Die Berichterstattung über den Tod des Bürgerrechtsaktivisten bewog sie zur Frage, was sie tun könne, damit ihre achtjährigen Schulkinder die Problematik des Rassismus in ihrer Tiefe verstehen und verinnerlichen würden. Elliott fragte die Schulklasse, ob sie herausfinden wolle, wie sich Diskriminierung anfühle. Daraufhin teilte sie die Schulkinder in zwei Gruppen: die Gruppe der Blauäugigen und die Gruppe der Braunäugigen. Zur Legitimisierung der Segregation erfand sie den Umstand, es würde einen Zusammenhang zwischen Augenfarbe und Intelligenz geben. In der ersten Phase bekamen die Kinder der blauäugigen Gruppe Privilegien hinsichtlich Pausen, Essen und Sitzplätze, die braunäugigen Kinder bekamen einen braunen Kragen zur Kennzeichnung. Elliott beobachtete anfangs Widerstand der braunäugigen Kinder gegen die Vorstellung, Kinder mit der anderen Augenfarbe seien ihnen überlegen. Mit der Zeit veränderte sich das Verhalten beider Gruppen. Während die blauäugigen Kinder bessere Leistungen, ein erhöhtes Selbstbewusstsein zeigten und andere Kinder herumkommandierten, ließen die Leistungen der braunäugigen Kinder immer mehr nach, sie wurden schüchterner und blieben unter sich. Elliott kehrte am Ende die Bedingungen um und wies die Kinder der jeweils anderen Gruppe zu. Den Abschluss bildeten Aufsätze der Schulkinder über ihre Diskriminierungserlebnisse. Auf die Veröffentlichung der Aufsätze folgten heftige Reaktionen, die von Enthusiasmus bis Empörung reichten. Trotz der ethischen und methodischen Kritik gilt Elliotts Experiment nach wie vor als wichtiger Beitrag zur Bewusstseinsbildung.
Von den USA der 1960er Jahre ein Sprung in das Osteuropa des 21. Jahrhunderts. 2017 veröffentlicht Amnesty International einen Bericht, in dem einmal mehr auf die prekäre Situation von Roma-Kindern aufmerksam gemacht wird. Demnach wird in der Slowakei – trotz wiederholter Verwarnungen der Europäischen Union – weiterhin gesetzeswidrige Segregation an Volksschulen betrieben, d.h. Roma-Kinder werden in eigene Klassen oder Schulen gesteckt. Verbreitet ist auch die Praxis, ihnen relativ rasch eine geistige Störung zu attestieren und sie ohne weitere Erklärungen auf Sonderschulen zu verweisen. An einem Erhebungsort waren drei Viertel aller Roma-Kinder mit einer milden geistigen Behinderung diagnostiziert worden. Sowohl der Unterricht in Roma-Klassen als auch an Sonderschulen wird als minderwertig eingestuft, der Unterricht hat nicht immer Alphabetisierung zum Ziel; es mangelt an Lehrplan und Ausstattung. De facto haben sich in vielen osteuropäischen Ländern Förderschulen als ein Substandard-Parallelbildungssystem für Roma-Kinder etabliert. Die Förderschule ist Endstation, einen Weg zurück in den Bildungs-Mainstream gibt es nicht, da die Lehrpläne inkompatibel sind. Mit 16 Jahren sind die meisten am Ende ihrer Schullaufbahn angelangt. Amnesty International führt die Probleme auf tief verwurzelte Vorurteile und niedrige Erwartungen zurück. Nicht-Roma Eltern, zum Beispiel, nehmen oft ihre Kinder aus der Schule wenn sie das Gefühl haben, in der Schule wären schon »zu viele« Roma-Kinder. 2016 berichteten knapp 22 Prozent der Roma-Kinder, der Lehrkörper würde in der Schule abwertend und rassistisch über Roma sprechen. In Tschechien sieht die Situation kaum besser aus. Eine 2002 in Ungarn durchgeführte Untersuchung lieferte deutliche Zahlen zur Segregation. Demnach gab es 1.230 Schulklassen mit einem Anteil von 50 Prozent bis 74 Prozent Roma-Kindern, 740 Klassen mit 75 Prozent bis 99 Prozent Roma-Kindern und 700 Klassen mit 100 Prozent Roma-Kindern. Bei der Wahl zwischen dem Teufel und dem Beelzebub ziehen manche Roma-Eltern Segregation trotz der Bildungsbenachteiligung und ihrer Konsequenzen vor, da ihren Kindern so zumindest Vorurteile, Mobbing, Diskriminierung und andauernde Testungen auf geistige Behinderung erspart bleiben. Die Folgen bleiben nicht aus: Kein weiterer Zugang zu höherer Bildung, stärkere Bedrohung von Armut, Aufrechterhaltung von Stereotypen und eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten. Vorurteile des Lehrkörpers werden, so Unicef, auch dadurch verstärkt, dass er nicht darauf vorbereitet wird, Kinder mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu unterrichten.
Vorwürfe in Mitteleuropa beziehen sich in aller Regel auf einen subtilen, unterschwelligen Alltagsrassismus. Von einem Gymnasium in Berlin wird zum Beispiel berichtet, dass eine Schulklasse zu 63 Prozent aus »Migrantenkindern« besteht während sie in den Parallelklassen nur zu 13 Prozent bzw. 29 Prozent vertreten sind. Kritische Stimmen sprechen von einer Abstempelung zur »Türkenklasse«. An deutschen Schulen sei Segregation vor allem in städtischen Regionen keine Randerscheinung mehr, heißt es in einem Forschungsbericht. Knapp 70 Prozent der Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund würden schon im Grundschulalter eine Schule besuchen, an der die Mehrheit der Kinder nicht deutscher Herkunft ist. In deutschen Großstädten lernten knapp 40 Prozent aller GrundschülerInnen mit Migrationshintergrund in leistungsschwachen Klassen. Einen gemeinsamen »Migrationshintergrund« gibt es allerdings nicht. Hinter den Individuen und den unterschiedlichen Kulturen stecken unterschiedliche Hintergründe und Zugänge zu Bildung. Während türkische SchülerInnen in Deutschland an Gymnasien deutlich unterrepräsentiert und insbesondere an Hauptschulen überrepräsentiert sind, zeigen beispielsweise iranische SchülerInnen auf deutscher Bundesebene eine ähnliche Bildungsbeteiligung wie deutsche und besuchen gleich häufig das Gymnasium, so Kempers Analyse der Bildungsdisparitäten. Tauscht man Hauptschule gegen Gymnasium aus und Deutsch gegen Mathematik, bleiben allerdings immer noch Vorurteilsreste zurück. Ein Forschungsteam der Universität Mannheim prüfte 1.487 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zwei Jahre auf ihre Mathematikkenntnisse und verglich sie mit den Noten in Schularbeiten und Zeugnissen. An Gymnasien wurden keine Unterschiede erwartet und dennoch: Bei gleicher Sprachfertigkeit und sozialer Herkunft wurden sogenannte Migrantenkinder schlechter beurteilt. Die Ergebnisse waren überraschend und wurden als Hinweis auf »systematische Benachteiligungsprozesse« gedeutet. 2014 kam es in der deutschen Stadt Moers zu Problemen bei der Beschulung von Flüchtlingskindern. Mit wenigen Ausnahmen weigerten sich Schulen, sie aufzunehmen, insbesondere Gymnasien. Die Aufnahme von Flüchtlingskindern sei eine Angelegenheit der Hauptschulen hieß es, unabhängig von deren Bildungsstand.
Eine 2012 durchgeführte Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ergab, dass sich jedes vierte Schulkind mit ausländischen Wurzeln diskriminiert fühlt; Schülerinnen und Schüler mit türkischem oder arabischem Hintergrund berichten davon, häufig beschimpft zu werden. Einer Befragung des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2011 zufolge sind 59 Prozent der türkischstämmigen Eltern in Deutschland der Meinung, ihre Kinder hätten nicht die gleichen Chancen wie deutsche, 63 Prozent meinten der Lehrkörper hätte Vorurteile. Bei gleichen Leistungen würden ihre Kinder schlechter beurteilt werden, 51 Prozent halten Lehrende für überfordert. Das schlechtere Abschneiden ihrer Kinder führen die Eltern allerdings durchaus auch auf die mangelnden Sprachkenntnisse ihrer Kinder zurück. Eine im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführte Untersuchung zeigt das Problem einer mangelnden Kooperation zwischen Eltern und Schule auf, die damit erklärt wird, dass türkische und arabische Eltern die Schule als Autorität sehen, keine Kooperation gewöhnt sind und ihre Funktion nicht richtig einschätzen können.
Schulen spielen eine wesentliche Rolle beim Erwerb interkultureller Kompetenz und bei der Entwicklung von ethnischen Einstellungen. Dennoch gibt es allgemein eher wenige Untersuchungen zu Vorurteilen von Lehrkräften. Die meisten der vorhandenen Studien sprechen für stereotypisierende und vorurteilsbehaftete Haltungen des Lehrkörpers gegenüber SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass eine große Zahl angehender Lehrerinnen und Lehrer eine positive Einstellung zu multikulturellen Schulen hat. Zudem gibt es eine Vielzahl an Initiativen. »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«, zum Beispiel, ist ein europaweites Schulnetzwerk, dem allein in Deutschland über 2.400 Schulen angehören, indirekt also über eine Million Schülerinnen und Schüler. Die Schulverwaltung Baden-Württemberg ermutigt insbesondere junge Menschen mit Migrationshintergrund, sich für ein Lehramtsstudium zu entscheiden, damit die interkulturelle Kompetenz von Lehrkräften steigt. In Stuttgart startete vor Jahren das Projekt »Migranten machen Schule«. Lehrkräfte bringen ihre Migrationsbiographie als Ressource in den Unterricht ein; gemeinsam wird interkulturelles Wissen sichtbar gemacht, ausgetauscht und professionalisiert.
»Ich bin nämlich der Überzeugung und stelle sie zur Diskussion, dass bei der Infizierung mit nur einem Vorurteil das Tor für alle anderen geöffnet wird, dass schon beim kleinsten Insektenstich die ganze Krankheit ausbricht. Ich kenne niemanden, der nur ein Vorurteil gegen »fremde« Menschen hat und sich neben diesem einen kein anderes leistet.« Sir Peter Ustinov
LGBT
Wer zu Vorurteilen neigt, beschränkt diese meist nicht auf eine Gruppe, sondern zeigt allgemein eine vorverurteilende Haltung. Einer Studie zufolge haben zum Beispiel Menschen, die ethnischen Minderheiten mit Vorurteilen begegnen mit einer doppelt so großen Wahrscheinlichkeit auch Vorurteile gegen Homosexuelle.
Im Zusammenhang mit Schule und Homosexualität bzw. LGBT (Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender, zu deutsch Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) ist ein Thema augenfällig: Mobbing. Untersuchungen aus Großbritannien zeigen, dass männliche Opfer von homophob bedingtem Mobbing auch körperlich angegriffen werden, während weibliche Opfer häufig ignoriert und ausgeschlossen werden; insgesamt sind etwa 50 Prozent betroffen. Gespräche mit Lehrkräften ergaben, dass insgesamt 97 Prozent von den verbalen und körperlichen Attacken wussten.
Mobbing an Schulen hat ernstzunehmende kurz- und langfristige Folgen für die Gesundheit und die weitere Schullaufbahn: Absentismus, Leistungsverminderung, Schlafstörungen, Appetitverlust, Vereinsamung, Nervosität, Stimmungswechsel zwischen Zorn und Trauer, Suizidgedanken und Selbstverletzungen sind häufige Folgen. Die Schule wird mit fünf Mal so hoher Wahrscheinlichkeit geschwänzt, weil sich die Kinder und Jugendlichen dort nicht mehr sicher fühlen. 28 Prozent sehen sich gezwungen, die Schule abzubrechen. Mobbing in der Schulzeit wirkt im Erwachsenenalter nach. 53 Prozent der erwachsenen Schwulen und Lesben geben an, sich noch selbst zu verletzen, weil sie in der Schulzeit gemobbt wurden. 40 Prozent meinen, sie hätten mindestens ein Mal versucht, sich zu verletzen oder zu suizidieren. Die Suizidrate ist alarmierend hoch. Laut neueren Daten suizidieren sich homosexuelle Teenager mit einer doppelt bis drei Mal so hohen Wahrscheinlichkeit wie ihre Gleichaltrigen. Die wenigsten wenden sich an Vertrauenspersonen, von den LehrerInnen die Bescheid wussten, blieb ihren Angaben zufolge ein Drittel inaktiv.
Eine 2011 an Berliner Schulen durchgeführte umfassende Befragung ergab, dass Lehrerinnen und Lehrer nur in 20 Prozent der Fälle einschritten, wenn Kinder von MitschülerInnen als schwul oder lesbisch beschimpft oder wegen nicht geschlechtskonformen Verhalten ausgelacht wurden. Etwa ein Drittel meinte sogar, die Lehrkraft selbst hätte sich über sie lustig gemacht.
Eine Reihe bestürzender Schlagzeilen um Suizide gemobbter Teenager sorgte in den letzten Jahren v.a. in den U.S.A. für vergleichsweise mehr Bewusstsein. Gesetze gegen Mobbing wurden verschärft, Helplines wurden eingerichtet, betroffene Eltern starteten Aufklärungskampagnen. Jamie Hubley, beispielsweise, war 15 als er wegen Mobbing seinem Leben ein Ende setzte. Sein Tod war Anlass dafür, dass 2012 in Ontario ein Gesetz eingeführt wurde das Schulen verpflichtet, härter gegen Mobbing vorzugehen. Jamey Rodemeyer suizidierte sich mit 14 wegen Mobbing. Sein Tod war Anlass für ein neues Cyberbullying-Gesetz, das nach ihm benannte »Jamey’s Law«. Asher Brown war 13, Seth Walsh war 13, Billy Lucas war 15, Tyler Clementi war 18, Ryan Halligan war 13. Sie alle wurden gemobbt weil sie tatsächlich oder Gerüchten nach homosexuell waren.
Auffällig ist im Zusammenhang mit Homophobie auch der Hang zur Hasskriminalität. Larry King (1993-2008), zum Beispiel, war ein 15-jähriger Schüler einer Junior High School in Kalifornien. Er wurde in der Schule von dem 14-jährigen Brandon McInerney erschossen, weil er ihm zu feminin war. Versuchen wir nun die durchaus legitime Frage, wie ein 14-Jähriger zu einer Schusswaffe kommt auszuklammern und uns auf das öffentliche Statement der Lehrerin zu konzentrieren: Sie hätte Verständnis für Brandon. Sie hätte sich in seiner Lage vielleicht auch so verhalten, Larry hatte schließlich mit seinem Verhalten provoziert. Er hatte ein Verhalten an den Tag gelegt, das »ausgelöscht« gehört. Das Verhalten wurde mit seinem Leben ausgelöscht.
Die absurden Ausmaße dessen wenn Homophobie auf mangelnden Wortschatz stößt zeigt ein Beispiel aus Utah. 2014 wurde dort ein Lehrer gekündigt, weil er auf seinem privaten Bildungs-Weblog ein Posting über Homophone verfasst hatte. Die Sprachschule feuerte ihn, der Lehrer würde damit Werbung für Homosexualität betreiben, die Schule damit assoziieren und man könne ihm nicht mehr trauen. Ein Wort, das trotz unterschiedlicher Bedeutung die gleiche (homo) Aussprache (phonos) wie ein anderes Wort hat, im Deutschen zum Beispiel »Lärche und Lerche«, »Küste oder küsste« ist natürlich suspekt, wenn es mit »Homo« beginnt. Das Argument der Schule war, man könne das Wort zwar nachschlagen, die Assoziation bliebe dennoch bestehen. Homöopathie, Homogenität, Homomorphismus, Homosphäre, Homotransplant, Homologie, … wägen Sie Risiken ab bevor Sie diese Wörter verwenden.
Es stellt sich durchaus die Frage, was Lehrende tun können, wenn an Schulen ein homophobes Klima herrscht, von dem sie auch selbst betroffen sein können. Arne Müller befragte 1.116 homosexuelle Lehrer in Deutschland. Zwei Drittel derer, die sich in der Schule geoutet hatten berichteten von positiven Reaktionen, ein Drittel bekam »gemischte Reaktionen«, zum Teil von Kollegen. So gaben 4 Prozent an, dass sie belästigt wurden, 8 Prozent wurden beleidigt und 15 Prozent wurden von Kollegen ausgeschlossen. Berichtet wurde auch von Psychoterror, Drohbriefen und das Verbreiten von Gerüchten über Affären mit Schülern. Einigkeit besteht darüber, dass sie mit diesem Thema meist alleine dastehen und es kaum Unterstützung gibt. Da es nicht thematisiert wird und es an Vorbereitung mangelt, sind sie überfordert, wenn sie es ansprechen. Interessanterweise geben SchülerInnen häufig an es wäre kein Problem, wenn ihre LehrerInnen ein Coming out hätten. Andererseits wird die Offenheit dem Thema gegenüber sicherlich stark von sozio-kulturellen Faktoren abhängig sein und von Schule zu Schule variieren.
Ein weiterer Aspekt sind Kinder aus Regenbogenfamilien. Untersuchungen zufolge werden sie stigmatisiert, 46 Prozent von Ihnen berichten davon, v.a. von Gleichaltrigen schlecht behandelt zu werden. Gerade in der Schule würden sie häufig unangenehme Erfahrungen machen, ausgefragt und herabgewürdigt werden, mit der sexuellen Orientierung der Eltern etikettiert werden; der Lehrkörper würde sie vor der gesamten Klasse exponieren. Allerdings berichten auch viele Eltern von positiven Erfahrungen, Lehrkräfte würden Ihnen mit Interesse und Neugierde begegnen.
An britischen Schulen wurden in den letzten Jahren Maßnahmen gegen homophob bedingtes Mobbing verschärft. Aktionen, Maßnahmen und Aufklärung an Schulen führten zu einem Rückgang von Mobbing und homophoben Beschimpfungen. Dennoch gibt weniger als ein Drittel der LGBT-Teenager an, der Lehrkörper wäre bei Mobbing eingeschritten. 53 Prozent geben an, sie hätten an der Schule keine erwachsene Person, an die sie sich wenden könnten. Einer 2011 von dem National Center for Transgender Equality durgeführten Studie zufolge hatten alarmierende 41 Prozent der Transgender-Befragten einen Suizidversuch hinter sich, der Prozentsatz lag damit 25 Mal höher als in der Gesamtbevölkerung. Die 2016 veröffentlichte Studie des Cincinnati Children’s Hospital Medical Center ergab, dass 30 Prozent der Transgender-Jugendlichen mindestens einen Suizidversuch hinter sich haben. Laut dem »Stonewall School Report 2017« hat jede zweite Transperson in Großbritannien einen Suizidversuch hinter sich.
Kein Lehrer, keine Lehrerin muss Expertise auf dem Gebiet Transgender mitbringen. Es reicht aus auf mögliche Szenarien vorbereitet zu sein und zu wissen, dass es spezialisierte professionelle Beratung gibt. Der Wiener »Verein für queere Bildungsarbeit«, zum Beispiel, hält kostenlose Workshops an Schulen. In mehreren Städten Österreichs gibt es Beratungsstellen für Jugendliche.
»Ich habe immer gesagt, Kinder werden ohne Vorurteile geboren, sie haben keine Vorurteile, die man bis zur Geburt zurückverfolgen könnte. Das kommt erst später mit der Schule, der Erziehung und der Religion.« Sir Peter Ustinov
Zwischengedanken
In jeder Lebenslage vorurteilsfrei zu agieren ist ein ambitioniertes aber wenig realistisches Ziel für alle – Lehrerinnen und Lehrer eingeschlossen. Vorurteilsbewusst zu sein, hingegen, lässt sich umsetzen. Mit der Sensibilisierung und Selbstreflexion geht einher, bei Vorurteilen zu bleiben und diese nicht unüberlegt in Form von Diskriminierungen auszuleben.
Es gibt sie, Lehrerinnen und Lehrer, die in vollem Bewusstsein mit Überzeugung Kinder diskriminieren, mit der Machtasymmetrie in der Schüler-Lehrer-Konstellation nicht konstruktiv umzugehen wissen und ungeniert mangelnde professionelle Objektivität bei der Leistungsbeurteilung zeigen. Menschen, die nicht den für sie (bzw. für das Umfeld) idealen Beruf wählen finden sich in allen Professionen. Doch diese LehrerInnen sind gewiss eine Minderheit. Viele Lehrerinnen und Lehrer geben an, sich wegen den pädagogischen und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten für den Beruf entschieden zu haben. Eine 2014 an der Universität Leipzig durchgeführte Befragung von Erstsemestrigen des Lehramtsstudiums, beispielsweise, ergibt, dass LehrerInnen offen und einfühlsam sein sollten. Das Interesse am Menschen wäre sogar wichtiger als das Fachinteresse. Studien zeigen zudem, dass die LehrerInnen-Generation von heute Vielfalt gegenüber Offenheit zeigt. Das bestätigt auch meine persönliche Erfahrung mit angehenden Lehrerinnen und Lehrern, die sich durch hohe Lern- und Reflexionsbereitschaft auszeichnen. Passieren Fehler, so beruhen sie nicht auf »bösem Willen« sondern eher Unwissenheit. Und der kann man Abhilfe schaffen.
Die Begegnung mit den eigenen Vorurteilen ist eine Chance, über sich nachzudenken, seine Vorstellungen weiterzuentwickeln, soziale Kompetenzen zu erweitern. Die Begegnung ist eine Herausforderung, man kann auf eigene Ängste und Tabus stoßen oder einfach Unbekanntes. Sicherlich lernt man dabei. Lehrerinnen und Lehrer vermitteln fachliche Inhalte, aber auch die Bedeutung des Lernens. Diese wiederum kann an Momentum gewinnen, wenn Lehrkräfte selbst Bereitschaft zeigen dazuzulernen. »Bildung ist nicht auf die Schule begrenzt. Sie geht unerbittlich weiter bis ans Lebensende«, sagte Sir Peter Ustinov (nach dem übrigens acht Schulen in Deutschland benannt sind, die alle für einen offenen Geist, Kreativität, Vielfalt, der Bewusstmachung von Vorurteilen und soziale Verantwortung stehen). Für ihn war das Vorurteil der Ursprung aller Konflikte und Bildung der Schlüssel zu einer friedlicheren Welt.
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Nach diesen Zwischengedanken geht es in der nächsten Ausgabe (Fazit 143) weiter mit Teil 2 und den Dimensionen Geschlecht, Behinderung und Religion.
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Essay, Fazit 142 (Mai 2018, Teil 1), Foto: Paperwalker
Kommentare
2 Antworten zu “Diversity als Chance für Lehrende zu lernen (1)”
Antworten
1. Juni 2018 @ 15:49
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29. Juni 2018 @ 11:05
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