Schämst Du Dich nicht?
Redaktion | 1. Juni 2018 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 143, Kunst und Kultur
Weitere überflüssige Anmerkungen zu 1968. (Unsere Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus Rainer Langhans’ Haupthaar.)
::: Text von Michael Bärnthaler
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Ein vergoldetes Schamhaar von Rainer Langhans hat vor kurzem den mit der geschichtsträchtigen Summe von 1968 Euro dotierten Preis des Kunstvereins Ahlen gewonnen. Rainer Langhans wäre heute ein Influencer und war damals ein Beeinflusser. Rainer Langhans hat einen Harem. Rainer Langhans ist ein sogenannter Alt-68er. Von denen gibt es einige, und Deutschland ehrt seine Helden, auch wenn sie nicht auf dem Feld der Ehre gefallen sind. Deutschland ehrt seine Helden, indem sogenannte Künstler, also wiederum Influencer, Beeinflusser, Was-mit-Medienmacher des nie gefallenen Helden Schamhaar vergolden und stolz der Öffentlichkeit präsentieren, wofür freilich eine geschichtsträchtige Summe fällig ist: 1968.
Dafür schämt sich natürlich niemand, denn WIR HABEN DIE SCHAM ÜBERWUNDEN. WIR SIND FREI. Der 68er-Mythos ist ein Mythos der kollektiven Befreiung. Wie jeder Mythos ist er wahr und falsch zugleich. Wie jeder gute Mythos will er nicht unbedingt Mythos genannt werden. Man spricht heute ja auch gern von Narrativen. Das vergoldete Schamhaar des Rainer Langhans wird von den Künstlern, deren Namen ich leider vergesse habe, unter dem Titel »Searching for the Revolution« präsentiert. Ja, es geht immer noch blöder. Revolutionen sind unmenschlich, und wenn heute eine ausgerufen wird, kommt dazu noch eine gewisse Lächerlichkeit. Der Reliquienkult wiederum ist ein Menschenrecht. Ich bin mir sicher, die Künstler zitieren ihn auch bloß, und das Ganze ist ziemlich ironisch gebrochen und regt zum Nachdenken an.
Bei dem vergoldeten Schamhaar unseres (Anti-)Helden handelt es sich ja um eine Reliquie 1. Klasse – dazu zählen alle Körperteile von Heiligen, insbesondere aus dem Skelett, aber auch Haare, Fingernägel und so weiter. Reliquienverehrung gilt – etwas altmodisch formuliert – als geziemend, da es einem Zug allgemeiner menschlicher Pietät entspricht, die Überreste verehrter und geliebter Menschen in Ehren zu halten. Und Rainer Langhans ist ja bald tot, wie die anderen Protagonisten der Pseudorevolution von 1968 auch. Im Hyperpluralismus von 2018 ist jede ideengeschichtliche Strömung längst in den Mainstream eingeflossen, und jeder Influencer erklärt auf YouTube jeden Tag anderen Influencern so lange die Welt, bis sie endlich niemand mehr versteht. Kein Grund, sich zu schämen.
Alles Kultur, Fazit 143 (Juni 2018) – Foto: Das blaue Sofa/Club Bertelsmann
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