Frisch gepolstert
Volker Schögler | 26. Juli 2018 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 145, Fazitportrait
Das Grazer Lendviertel ist hip. Geworden. Wir wissen es. Wir, die wir das rechte Murufer noch als »Scherbenviertel« kannten, sind alt. Geworden. Wir wissen es. Wir können beides gerade noch hören, weil beides nicht ganz stimmt. Noch. Martina Sperl kann die Schlagworte »Retro«, »Vintage« und »Industrial« nicht mehr hören. Sie hat hier eine Polsterei und kreiert »Mid-Century-Möbel« zum Niederknien.
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Ein Setmanager würde für einen Film über eine Polsterei genau diese Location aussuchen. Zwischen Lendplatz und Mur gelegen, verbirgt sich das alte Industriegebäude hinter dem Billardcafé Immervoll und war vormals Teil einer Schafwollfabrik, die seinerzeit auch das Billardcafé und den Tanz- und Nachtclub PPC umfasste. Auch ein Siebdruckunternehmen hat nachhaltig seine farbigen und öligen Spuren auf dem alten Holzfußboden hinterlassen, der zum Glück nicht abgeschliffen wurde. Hunderte von massiven alten Nägeln hätten gewaltigen Widerstand geleistet. Auch die Wände sind – pardon – retro. Wegen anhaltender Feuchtigkeit musste eine wasserundurchlässige Farbe von den Wänden abgeschert werden, was zu einer delikaten Strukturierung aus alten Farbschichten führte, die wiederum mit dem Boden korrespondieren. Kein Bühnenbildner könnte die Antikoptik besser hinkriegen. Zum Teil musste der Verputz gänzlich entfernt werden, sodass die Ziegelmauer frei liegt, die von Sperl aufwendig mit gelöschtem Kalk geweißt wurde und dessen antiseptische Wirkung nicht von Nachteil gewesen sein dürfte. Denn die etwa 130 Quadratmeter große Werkstatt wurde jahrzehntelang bloß als Lager verwendet, zum Schluss übrigens vom legendären Sturm-Verteidiger Mandi »Eisenfuß« Steiner, der am Lendplatz ein Geschäft für Pokale betrieb. Riesige Industrielampen und über Putz verlegte Stromkabel und Heizungsrohre verleihen der Werkstatt noch mehr Authentizität, sie könnte aber auch glatt als New Yorker Loftwohnung durchgehen. Angesagte Möbel aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts wären schon im Überfluss da.
Zuversicht, Übung und Glück
Zwischen Reden und Tun liegt bekanntlich ein Meer. Aber als Martina Sperl beiläufig erwähnt, dass sie den Umbau beziehungsweise die Renovierung in ein paar Wochen erledigt hatte, schrumpft das Meer zu einem kleinen Teich. Und es wird klar, dass die stets in Schwarz gekleidete Achtunddreißigjährige keine romantisierende Träumerin, sondern pragmatische Realistin ist, keine Theoretikerin, sondern Praktikerin. Ziemlich vorteilhaft für eine Handwerkerin. Nach Charles Bukowski braucht der Mensch drei Dinge: Zuversicht, Übung und Glück. Sperl über ihren Sprung in die Selbstständigkeit: »Ich habe mit einem Startkapital von zwei- oder dreitausend Euro begonnen. Da haben mir wohl mein jugendlicher Zugang und eine Portion Naivität geholfen.« Zuversicht. »Das war vor sieben Jahren, die ersten zwei davon in einer 50 Quadratmeter kleinen Werkstatt in der Kosakengasse.« Übung. »Und der Vermieter ist ein alter Freund.« Glück. Als gebürtige Obersteirerin ist sie außerdem von Natur aus bodenständig. Von Murau aus waren nicht nur ihre Reisen bis nach Australien lang, auch ihre Lebensreise dauerte ihre Zeit. Denn wer wird ohne entsprechende familiäre Grundausstattung heute noch Tapezierer?
Ein langer Ausbildungsweg
Nach dem Borg in Murau ging es zunächst einmal für ein Jahr als Au-Pair nach London in die Schule, um das Cambridge Certificate zu machen und bei einem Onkel im Kaffeehaus und der Wäscherei auszuhelfen. Sperl: »Mich hätte ein Studium wie Architektur oder Textildesign schon interessiert, aber mir war immer klar, dass mir das zu lang dauert und auch zu theoretisch ist.« So entschied sie sich nach bestandener Aufnahmeprüfung für das Kolleg für Kunsthandwerk und Objektdesign mit Schwerpunkt Glas in Kramsach in Tirol, eine dreijährige handwerkslastige Ausbildung, die auch Bereiche wie Gürtlerei, Email, Siebdruck oder Grafikcomputerprogramme umfasst. Anschließend verschlug es sie für zweieinhalb Jahre nach Feldbach in die Produktentwicklung des Lederproduzenten Boxmark, wo sie über Showcars und Conceptcars mit der Sattlerei in Berührung kam, was bereits eine gewisse Faszination auf sie ausübte – sie nahm Witterung auf. »Mit 29 habe ich dort gekündigt, nachdem ich in einer Grazer Taschnerei den Tipp bekommen habe, dass es in Salzburg eine interessante Ausbildung geben soll.« Die fand Martina Sperl tasächlich in der Raumdesignerakademie, kurz Radak. Nach einem halben Jahr hatte sie die Meisterprüfung als Tapezierer und Raumausstatter in der Tasche. »Und wieder mit ausgezeichnetem Erfolg«, sagt die Meisterin nicht ohne Stolz, »während die Schulzeit eine Katastrophe war; aber wenn man etwas will, ist das etwas ganz anderes.« Es folgte wieder ein mühsamer Bewerbungsreigen, doch außer einem kurzen Zwischenspiel bei einem Outdoormöbelhersteller, der dann auch noch verkauft wurde, war kein Job als Möbelpolsterer zu finden. Aber spätestens seit sie in der Schaufenster-Beilage der »Presse« einen Bericht über die Möbeltapezierer Gebrüder Kohlmaier in Wien gesehen hatte wußte sie, das war ihr Ding.
Selbstständig und professionell
Da saß sie nun, mit 31 am Lendplatz, neben ihrem zukünftigen Mann. Und musste erkennen, dass an der Selbstständigkeit kein Weg vorbei führte. Der Weg führte somit ins Gewerbeamt, da es sich beim Tapezierer um ein regelmentiertes Gewerbe handelt, für das ein Befähigungsnachweis erforderlich ist. Mit der Meisterprüfung eigentlich kein Problem. Sperl: »Im Amt kam ich zu einer erfahrenen Dame, aber auch sie musste erst nachschauen, wie das funktioniert, weil sich schon seit Jahren niemand als Tapezierermeister oder Polsterer selbstständig gemacht hatte.«
Wenn man heute auf ihre Homepage schaut, lässt sich sehr schnell die Professionalität erkennen, mit der Martina Sperl zu Werke geht. Der Webauftritt selbst ist mehrfach preisgekrönt und er verschafft mit kurzen Filmsequenzen einen Einblick in das Handwerk, aber auch in die Resultate. So ein German Cocktail Chair aus der 1960er Jahren mit neuer Polsterung und appetitlich neuem Bezug lädt nicht nur zum Sitzen ein, sondern wirkt, wo immer er aufgestellt ist, wie ein funkelnder Solitär. – Ähnlich einem gepflegten Oldtimer, der im Vergleich zu den uniformen Obsoleszenz-Vehikeln der Gegenwart die Erinnerung wach hält an das, was ein Auto sein kann. Hauptfundquellen für so einen alten Wiesner-Hager, einen Thonet, einen Blaha oder einen Saarinen sind für Sperl noch immer der Flohmarkt und karitative Einrichtungen, aber auch Internet-Händler und hin und wieder Kunden. Sperl: »Aber die Möbel sollen schon besonders sein. Meine Passion ist die Verbindung von gutem Design und perfektem Handwerk. Ich habe mich ja bereits vor dem sogenannten Retro-Boom auf Mid-Century-Möbel spezialisiert. Heute wird kopiert, gefälscht, billig produziert, zu teuer verkauft, um auch ein Stück vom großen Kuchen zu bekommen, egal ob von Händlern, Galerien oder Möbelhäusern. Mit billig produzierter Massenware werden der Markt und der Kunde verdorben. Der Vorteil am Boom ist, dass vergessene Entwürfe, alte Designs und Hersteller wieder bekannt werden. Vorhandene Ressourcen werden wieder ins rechte Licht gerückt und hoffentlich das Bewusstsein, dass es ohne diese kreativen Handwerker und Designer von damals heute keine Designklassiker geben würde.« Ihr Hauptgeschäft sind eigene Möbel, die sie restauriert und verkauft sowie die Zusammenarbeit mit Architekten und Raumplanern.
Der Stoff machts aus
Der Aufwand für eine neue Polsterung ist erheblich. Schicht für Schicht werden Stoffe, Leder, Schaumstoffe, Federn, Gurte, unzählige Nägel und Klammern entfernt, bis nur noch der nackte Rahmen übrigbleibt. Diesen kontrolliert Martina Sperl auf Stabilität und Vollständigkeit. Bei Mängeln bekommt das Stück der Tischler oder der entsprechende Handwerker. Dann erst wird die Sitzkonstruktion aufgebaut. Das ist der für den Kunden nicht ersichtliche Teil, aber der wichtigste, schließlich will jeder gut sitzen. Geschnürter Federkern und Rosshaar werden nicht mehr nachgefragt, so die Erfahrung der Meisterin, die diese Technik natürlich beherrscht. In der Regel wird daher modern gepolstert – mit verschiedenen Schaumstoffen, mit Latex, mit Kokosvlies, aber auch mit der sogenannten Nosagfederung. Diese besteht aus vorgefertigten Stahlwellenfederkörben, die die Polsterung besser abfedern als Gurte. Dann folgen Lehne und allfällige Armlehnen. Nach dem Aufbau wird das Möbel mit einem weißen Baumwollmollino bespannt und der Schnitt angefertigt. Ist der Schnitt perfekt, wird der Stoff zugeschnitten, vernäht und am Möbel angeheftet, bis er wie eine zweite Haut über dem Stück liegt. Darin liegt auch die große Kunst, denn der Stoff muss auf eine Weise gespannt werden, dass der Laie nur staunen kann. Der Stoff ist es auch, der dem ganzen Möbel den letzten Pfiff gibt. Ihn aufzutreiben ist doch auch eine Kunst? »Webereien sind in Österreich fast ausgestorben, Loden ist noch zu bekommen«, so Sperl. Sie verwendet gern Stoffe von Johanna Gullichsen aus Finnland oder Bute Fabrics aus Schottland. In der heutigen Netzzeit von Facebook, Pinterest und Co kein Problem, sagt sie. Aber diese Qualität hat natürlich auch ihren Preis. Und der beginnt bei 70 Euro pro Meter aufwärts und ist etwa bei Kvadrat aus Dänemark schnell einmal dreistellig.
Das wäre jetzt die Stelle, um über Gentrifizierung und Segregation im Bezirk Lend nachzudenken. Wir wissen es. Aber es stimmt nicht ganz. Noch. »Es ist, wie es ist«, sagen sich Sherlock Holmes und Doktor Watson gern gegenseitig. Daher wollen wir uns heute nur freuen – über die real existierenden Aufträge für die junge wie mutige Tapezierermeisterin Martina Sperl, nunmehr verehelichte Lehner, und dass ihre Möbel bereits bis Deutschland und die Schweiz sowie bis London und New York verstreut sind.
Polsterei Martina Sperl
8020 Graz, Lendplatz 40
Telefon +43 664 2377361
martinasperl.at
Fazitportrait, Fazit 145 (August 2018) – Fotos: Marija Kanizaj
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