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Liebe Deine Probleme

| 26. Juli 2018 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 145

Foto: Josef FischnallerEin Essay von Christian Ankowitsch. Wir sollten uns hüten, in unseren Schwierigkeiten ausschließlich Negatives zu erkennen. Sie verschaffen uns Gewinne, und manchmal sind sie sogar die Lösung. Eine kleine Expedition auf die Rückseite eines vertrauten Phänomens.

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Dr. Christian Ankowitsch, geboren 1959 in Klosterneuburg, ist österreichischer Journalist und Autor. Er studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Graz und Hamburg. Seit 1978 ist er als Journalist tätig. Er ist Moderator einer Literatursendung auf ORF2 sowie seit 2013 der Jurydiskussionen im Rahmen des jährlichen Ingeborg-Bachmann-Preises im ORF und auf 3Sat. ankowitsch.de

Schon lange hatte ich nichts mehr gehört von meinem österreichischen Freund. Zeit, ihn wieder einmal anzurufen. Wir sprachen über das Übliche. Job, Kinder, Urlaub. Nur um ein Thema machten wir einen Bogen: um seine Beziehung. Denn die lief nicht besonders gut, wie ich aus zahlreichen Gesprächen wusste. Er ist beruflich viel unterwegs, arbeitet bis spät nachts und konzentriert sich gern auf seine Dinge. Auch seine Frau hat ihre Eigenheiten, wie er immer wieder erzählt hatte. Wie dem auch sei – langsam kamen wir ans Ende unseres Telefonats, und weil ich mich um das heikle Thema nicht gänzlich drücken wollte, meinte ich abschließend flapsig: »Und, seid ihr jetzt endlich geschieden?« Worauf der Freund entgegnete: »Wo denkst du hin! Wir führen eine stabile Problembeziehung!« Sagte es und lachte. Wie mir schien nicht grimmig, sondern durchaus herzlich. Ende des Gesprächs.

Ich muss seitdem immer wieder an diesen Satz denken. Denn er widerspricht der weit verbreiteten Überzeugung, dass wir nur dann zufrieden sein können, wenn wir unsere Probleme zu lösen verstehen. Aber sie einfach so zur Kenntnis nehmen? Sich mit ihnen arrangieren? Ja, sie zum Bestandteil einer Beziehung machen, wie der Freund das angedeutet hatte? Eine widersinnige Vorstellung. Das wäre ja so, als würden wir das Funktionieren unseres Fahrrads davon abhängig machen, dass es einen Platten hat.

Ein plausibler Einwand, ganz ohne Zweifel. Aber der Vergleich hinkt nicht nur, er ist schlicht falsch. Beziehungen folgen ja keinen mechanischen Gesetzen. Vielmehr funktionieren sie nach ganz eigenen Regeln, und die haben es in sich. Um das zu erkennen, müssen wir uns nur kurz im Freundes- und Bekanntenkreis umsehen. Und? Was werden wir feststellen? Richtig – die meisten klagen zwar über irgendwelche Probleme, machen aber ganz offensichtlich keine Anstalten, sie zu lösen. Vielmehr leben sie mit ihnen, und das auf eine Weise, die zwar ein wenig mühsam, aber keinesfalls schlimm erscheint.

Das muss doch Gründe haben. Und hat es natürlich auch. Manche davon kennen wir, andere nicht. Darin gleichen unsere Probleme ein bisschen dem Mond: Sie umkreisen uns zwar ständig und gut sichtbar, aber wir sehen immer nur ihre Vorderseite. Die Rückseite hingegen bleibt uns verborgen. Das sollten wir umgehend ändern, denn wir werden dort Hilfreiches entdecken.

Wiederkehrende Probleme sind Routinen, die sich bewährt haben

Und tatsächlich – kaum haben wir die unbekannte Seite unserer Probleme erreicht, bekommen wir auch schon eine Antwort auf die sehr grundsätzliche Frage, wie denn hartnäckige Probleme entstehen. Sie lautet: »Nichts wird zur Routine, was sich nicht bewährt.« [1] Das heißt, wir Menschen können nur solche Verhaltensweisen pflegen, mit denen wir auch durchkommen. Wer zum Beispiel eine vielbefahrene Straße überqueren will, wird das nur schaffen, wenn er bei Grün losgeht und den Straßenverkehr im Auge behält; ignoriert er den Kontext (rote Ampel, herandonnernder LKW), wird seine erste Straßenüberquerung auch die letzte sein. Wer mit seinem Partner zusammenleben will, muss dafür nicht nur eine Reihe von Verabredungen treffen, sondern sie auch einhalten; andernfalls wird er eines Tages vor der verschlossenen Wohnungstür oder in einem leeren Wohnzimmer stehen.

Das heißt: Nur wenn unser konkretes Verhalten zu jenem unserer Mitmenschen und den spezifischen Situationen passt, werden wir damit Erfolg haben und daran festhalten können. Etwas abstrakter formuliert kann man sagen: »Jedes System, das nicht in Krisen gerät, chronifiziert. Es kann seine Strukturen ungestört bewahren, es kann so bleiben, wie es ist. Und das kann es nur, weil die Umwelt nicht stört.« [2]

Dass wir mit einem bestimmten Verhalten durchkommen, sagt freilich nichts darüber aus, ob es gut oder schlecht für uns oder andere ist. Wir können uns zu Gewohnheitssportlern und Gewohnheitsganoven genauso entwickeln wie zu Gewohnheitstrinkern. Solange wir beim Laufen auf unseren Kreislauf und den Verkehr achten, uns beim Einbrechen nicht erwischen lassen sowie beim Trinken einigermaßen handlungsfähig und gesund bleiben, können wir mit diesen Gewohnheiten weitermachen und werden es tun, solange wir darin einen Sinn bzw. Zweck erkennen.

Auf unser konkretes Thema angewandt bedeutet das: Was wir als »wiederkehrendes Problem« bezeichnen, ist nichts anderes als eine Routine, die sich bewährt hat – aus welchen vertrackten Gründen auch immer. Andernfalls hätten wir sie längst ablegt. So kann der eingangs erwähnte Freund nur deshalb ständig unterwegs sein, weil seine Frau es murrend akzeptiert und ihrerseits auf eine erwartbare Weise darauf reagiert. Das Problem der beiden ist also Ausdruck ihrer Beziehung und untrennbar mit ihrem Zusammenleben verbunden. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die beiden ständig streiten, sich schlecht fühlen und nach einer anderen Beziehung sehnen (heimlich).

Normalerweise gehen wir davon aus, dass Probleme wie kaputte Zahnräder wirken, die unsere Beziehungsmaschinen zum Erliegen bringen; daher auch die Vorstellung, wir müssten diese Zahnräder (Probleme) möglichst schnell austauschen, um die Apparate (unsere Beziehungen) wieder in Gang zu bringen. Diese Annahme ist ganz offensichtlich falsch. Ein hartnäckiges Problem ist nicht die Ursache des Misslingens einer Beziehung, sondern vielmehr eine ganz bestimmte Routine, mit deren Hilfe wir unser Zusammenleben organisieren. Die wechselseitigen Vorwürfe des Paares zielen daher auch weniger darauf, der andere möge sich ändern. Vielmehr sind sie das – wenig wohlklingende – Betriebsgeräusch einer einigermaßen funktionierenden Ehe.

Wirklich gefährlich wird es in unseren Beziehungen erst dann, wenn unsere Routinen nicht mehr funktionieren. Sei es, weil wir sie ändern oder sei es, weil unser Gegenüber sich nicht mehr darauf einlässt. So kann es zum Beispiel geschehen, dass die Frau des erwähnten Freundes eines Tages mit einem anderen Mann eine Beziehung eingeht. Das würde die etablierte Routine in eine Krise stürzen. Wozu sie führt, lässt sich nicht vorhersagen – dass sie das wohlbekannte Spielchen aushebelt und die Beteiligten andere Routinen entwickeln müssen, um mit diesem neuen Problem umzugehen, hingegen schon.

Probleme verschaffen uns jede Menge gut verborgener Gewinne

All das ist freilich erst die halbe Geschichte. Nun ist zwar nachvollziehbar, wie wir problematische Routinen entwickeln. Welche Motive uns dazu bringen, ihnen treu zu bleiben – das wissen wir noch nicht. Dabei ist die Erklärung recht naheliegend: Wir tun es, weil wir Vorteile aus unseren Problemen ziehen. Vorteile, von denen wir oft nichts ahnen, weil sie sich auf jener abgewandten Seite verstecken, die wir gerade erkunden. Der Psychologe Varga von Kibéd spricht von »verdeckten Gewinnen«, die wir einstreichen, indem wir eine Lösung aufschieben. [3] Und de Shazer schreibt, dass wir für die Treue zu unseren Problemen gar »ein Bestechungsgeld oder eine Belohnung« [4] erhielten.

Das klingt erst mal ziemlich absurd. Welchen Nutzen sollten wir davon haben, die ständige Abwesenheit eines Partners zu ertragen, den wir gerne an unserer Seite sähen? Nun, diese Frage können nur die Betroffenen seriös beantworten. Wir dürfen nur ein wenig spekulieren und werden das auch sofort tun. So könnte die Frau die ständige Abwesenheit ihres Mannes zum Beispiel ertragen, weil sie im Gegenzug eine gewisse Bewegungsfreiheit erhält. Wenn niemand da ist, kann sie arbeiten, was sie will; die Kinder erziehen, wie sie es für richtig hält; und ausgehen, so oft sie Lust dazu hat.

All das könnte die Frau in einer innigeren Beziehung zwar auch durchsetzen – aber vielleicht erst nach einem aufwendigen Abstimmungsprozess. Den erspart sie sich, indem sie das Verhalten ihres nur sporadisch anwesenden Mannes akzeptiert. Ganz reibungslos geht die Sache natürlich nicht von statten. Die Frau nimmt gelegentliche Einsamkeitsgefühle in Kauf, ständige Überlastung und die Pflicht, den Alltag zu organisieren. Doch auch ihr Mann zahlt einen Preis für die Aufrechterhaltung des gemeinsamen Problems: Er kann zwar unbeschwert seinem Job nachgehen, muss sich aber mit der Tatsache herumschlagen, ein mieser Vater und ein wenig engagierter Ehemann zu sein.

Ob das Problem »abwesender Mann« eine machbare Routine etabliert, ob sich die skizzierten Rechnungen für die beiden lohnen – das können nur die Beteiligten entscheiden. Eines steht freilich fest: An dem trivialen Sprichwort »Alles hat sein Gutes« ist einiges dran. Das gilt erst recht für eine vorgeblich »problematische« Beziehung, die in Wirklichkeit die Bedürfnisse der Partner erfüllt – ohne, dass das von aussen so aussieht und ohne, dass den beiden das unbedingt bewusst ist. Beziehungen, in denen ein starkes Machtgefälle besteht, wie jene zwischen Erwachsenen und Kindern, sind da natürlich eine Ausnahme. Hier gelten ganz andere Regeln, und einen »verdeckten Gewinn« für die Kinder werden wir ebenfalls nirgends entdecken können.

In vielen anderen Fällen ist das jedoch durchaus der Fall. Schon Sigmund Freud hat die These vertreten, dass es einen »sekundären Krankheitsgewinn« gibt. Und erklärte das Phänomen anhand einer Klientin, die »ziemlich regelmäßig den Ausweg in die Neurose« gesucht habe, weil sie sich in ihrer unglücklichen Beziehung nicht anders zu helfen wusste. »Ihre Krankheit wird nun ihre Waffe im Kampfe gegen den überstarken Mann, eine Waffe, die sie zu ihrer Verteidigung gebrauchen und für ihre Rache mißbrauchen kann.« [5]

Ein Mechanismus, den jeder von uns aus eigener Erfahrung kennt, wenn auch wahrscheinlich in einer deutlich freundlicheren Variante. Denken Sie nur daran zurück, wie Sie das letzte Mal wegen einer Erkältung im Bett lagen und fiebernd nach Tee verlangten. Haben Ihre Mitmenschen nicht mit geballter Zuneigung darauf reagiert? Eben. Kranksein mag zwar nerven und schmerzen, beschert uns aber gleichzeitig einige Gewinne: Fürsorge, Ruhe, Binge-Watching.

Wer krank wird, leidet darunter – und gewinnt an Macht

Wir sollten also bei hartnäckigen Problemen davon ausgehen, dass sie uns einen (verdeckten) Gewinn verschaffen. Schon allein deshalb, weil diese Einsicht uns entlastet. Wir werden aufhören, in unserem Verhalten einen Beweis der eigenen Unfähigkeit zu erkennen. Vielmehr werden wir es schätzen lernen als zwar anstrengende, aber offensichtlich erfolgreiche Strategie, unseren Alltag zu stabilisieren. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Manchmal können wir Probleme lösen, indem wir sie aufrechterhalten.

Unter diesem Blickwinkel erscheint die weit verbreitete Vorstellung, Probleme müssten möglichst schnell und effektiv beseitigt werden, zunehmend fragwürdig. Wie sehr, das zeigt das Beispiel einer Bekannten, die als Chemikerin in der pharmazeutischen Industrie arbeitet. Seit Kurzem, so erzählte sie, sei es endlich möglich, an Hepatitis C leidende Menschen vollständig zu heilen. Eine historische Leistung, denn bislang hatte diese Infektionskrankheit den Alltag der Betroffenen stark beeinträchtigt und ihre Leber so stark geschädigt, dass viele an Leberzirrhose oder Leberkrebs starben. Man sollte also meinen, diese Entwicklung müsste von den Erkrankten ausnahmslos positiv aufgenommen werden.

Aber genau das sei nicht geschehen, so die Bekannte. Vielmehr habe sie von den Leitern einer Hepatitis-C-Selbsthilfegruppe gehört, dass einige ihrer Klienten nach der vollständigen Heilung nicht vor Glück im siebten Himmel schwebten, sondern – depressiv wurden. Inklusive jener Familienangehörigen, die sich oft jahrzehntelang aufopfernd um sie gekümmert hatten. Ein Phänomen, das auf eindrucksvoll-irritierende Weise zeigt, wie selbst tödliche Probleme noch genügend positive Nebenwirkungen abwerfen können, so dass deren Lösung zu einer tiefen Krise führen kann: Weil die jahrelange Routine im Umgang mit der Krankheit überflüssig geworden ist; weil die Kranken plötzlich nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit und Fürsorge stehen; und weil die Pflegenden jenen Job verlieren, der ihnen jede Menge Bewunderung und einen Daseinszweck eingebracht hat.

Probleme zu lösen kann uns erst recht Probleme machen

Lösungen zu finden ist also ganz offensichtlich nicht der einzige und beste Weg zu einem besseren Leben. Vielmehr scheinen diese nicht ganz ohne Risiken zu sein. Was uns vor die Frage stellt: Was nun? Die Antwort darauf ist wenig originell, aber überaus hilfreich: So wie wir unsere Probleme als höchst ambivalente Phänomene betrachten müssen, sollten wir es auch mit den Lösungen halten. Sie können uns einerseits glücklichere Beziehungen bescheren, andererseits jedoch alles nur noch schlimmer machen. Denn unsere Probleme sind ja »das Ergebnis einer erfolgreichen Überlebensstrategie, die Kreation einer ökologischen Nische«. Was nur bedeuten kann, dass wir eine Krise riskieren, sobald wir unsere Nische verlassen. Und bekanntlich bedeutet Krise immer Chance und Gefahr zugleich. [6]

Dieser Umstand erklärt auch, warum wir oft einen gewissen Widerwillen dagegen entwickeln, hartnäckige Probleme zu lösen. Das hat meist weniger mit Trägheit oder Unfähigkeit zu tun (das vielleicht auch), sondern vielmehr mit kluger Voraussicht. Wir wollen einfach nicht riskieren, jene verdeckten Gewinne über Bord zu werfen, die uns die Nicht-Lösung bestimmter Schwierigkeiten verlässlich beschert. Klassischerweise belegen wir dieses Verhalten mit negativen Begriffen wie »Abwehr« oder »nichtkooperatives Verhalten«. Nicht gut. Deutlich hilfreicher, es als »Stützfunktion« zu bezeichnen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Annahme, dass aus einer erfolgreichen Strategie nur deshalb ein Problem werden konnte, weil wir zu lange an ihr festgehalten haben.

So können wir zum Beispiel als Kind die Erfahrung gemacht haben, dass der beste Schutz gegen Kränkungen darin bestand, möglichst unbeteiligt darauf zu reagieren. Heute jedoch, da wir gefahrlos einen kleinen Tobsuchtsanfall hinlegen könnten, eine wenig sinnvolle Strategie. Zeit uns davon zu verabschieden. Das braucht bloß seine Zeit. Es ist daher durchaus sinnvoll, erst mal ein wenig Widerstand zu leisten, wenn uns jemand rät, dieses Verhalten hinter uns zu lassen. Immerhin müssen wir erst ein neues entwickeln.

Wenn wir also unsere aktuelle Lage verändern wollen, sollten wir stets in zwei Schritten vorgehen. Uns erst einmal auf die Seite des Problems stellen, um »seine positiven Aspekte« zu erkennen; erst dann werden wir einschätzen können, was wir verlieren, wenn wir es lösen. Jetzt kann der zweite Schritt erfolgen. Er besteht darin, zu überlegen, mit welcher Lösung wir möglichst viele jener positiven Problemanteile retten können, die uns bisher haben zögern lassen. Das bedeutet für den österreichischen Freund und seine Frau: Wenn die beiden eine engere Beziehung führen wollen, müssen sie einen Weg finden, ihre Sehnsucht nach Bewegungsfreiheit mit dem Wunsch nach Nähe zu verbinden. Wer mit dem Rauchen aufhören will, muss einen Ersatz für jene kurzen Auszeiten finden, die ihm der verschwörerische Rückzug mit anderen bietet; und die endlich gesundeten Hepatitis-C-Kranken kommen nicht umhin, sich auf andere Weise Zuneigung und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Keine leichte Aufgabe, zweifellos. Aber ein guter Weg, um mit einer Lösung nicht alles noch schlimmer zu machen, als es uns bereits erscheint. Um die Suche nach jenen verdeckten Gewinnen ein wenig zu erleichtern, hier ein paar Hinweise. Hilfreiche, hoffentlich.

Probleme garantieren uns Aufmerksamkeit. Wer über private Probleme klagt, kann damit rechnen, dass man ihm zuhört. Ein Grund liegt darin, dass andere es zu schätzen wissen, wenn ihre Mitmenschen sich ebenfalls mit knirschenden Beziehungen und widerborstigen Kindern herumzuschlagen haben. »Sieh an, wenigstens sind wir nicht die Einzigen.« Ein anderer Grund liegt tief in unserer Geschichte vergraben. Aus evolutionärem Blickwinkel betrachtet ist es nämlich überaus sinnvoll, all jenen ganz genau zuzuhören, die »Houston, wir haben ein Problem!« schreien. Denn unser Überleben hing lange Zeit maßgeblich davon ab, bei der Schilderung von Säbelzahntigerproblemen besonders aufmerksam zu sein. Diese Sensibilität haben wir uns erhalten (schon alleine deshalb, weil wir die genetischen Nachfahren all jener sind, die bei jeder Katastrophenmeldung die Ohren gespitzt haben). Nachrichten von gelungenen Höhlenmalereien hingegen oder neu entdeckten genießbaren Beeren waren zwar auch interessant, aber eindeutig weniger dringlich. Daher gilt bis heute die Journalistenweisheit: »Only bad news are good news«.

Probleme geben uns Sicherheit. Schwierigkeiten sind ja nichts anderes als stabile Routinen, und daher bleiben wir ihnen treu. Dank ihnen wissen wir, was wir tun müssen, um unser Gegenüber zu versöhnen, und wie wir auf bestimmte Aussagen reagieren werden. In unseren Problemroutinen stecken also viele Erfahrungen, Mühen und Gefühle. Und jede Menge Zeit und Nerven ohnehin. Wir haben daher gute Gründe, an schwierigen Arrangements festzuhalten, immerhin sind sie uns vertraut. Sie geben uns das Gefühl von Sicherheit und Kompetenz. Solange sich also unser Leid im Rahmen hält, spricht vieles dafür, die dazugehörigen Probleme nicht zu lösen.

Probleme verschaffen uns Ausreden. Je besser es uns gelingt, die Komplexität unserer Vorhaben zu schildern, umso leichter werden wir Entschuldigungen finden, sollte etwas schiefgehen dabei. »Bei diesen Schwierigkeiten ist es noch ein Glück, dass überhaupt etwas herausgekommen ist«, können wir dann behaupten, und alle anderen werden verständnisvoll nicken. Wer also Angst vorm Scheitern hat oder fürchtet, für einen Misserfolg zur Rechenschaft gezogen zu werden, wird versuchen, möglichst viele Probleme am Leben zu erhalten oder zu finden. Sie wirken wie ein undurchdringliches Schutzschild, das uns vor Demütigungen bewahrt.

Probleme verleihen uns Bedeutung. Während wir Normalos uns mit widerborstigen Kollegen, leichtem Übergewicht und dem Notenschnitt der Kinder herumschlagen, sind Managerinnen oder Politiker mit ganz anderen Themen befasst: der EU, der Digitalisierung und der Integration. Die Betroffenen mögen ihre spezifische Lage unterschiedlich bewerten – in einem freilich herrscht Einigkeit: Während es sich bei ersteren um einfache Alltagssorgen handelt, fallen zweitere unter den Sammelbegriff »Weltprobleme für wirkliche Entscheider«. Das heißt: Wie wichtig und wie mächtig Menschen sind, lässt sich auch daran ablesen, mit welcher Art von Problemen sie sich herumschlagen. Wer also von sich behauptet, er habe keine Zeit, sich um so Lächerliches wie sein Körpergewicht zu kümmern, schließlich müsse er die Zukunft seiner Firma oder den Weltfrieden retten, zieht daraus exakt diesen Nutzen: Er wirkt wichtig.

Probleme gewähren uns Verschnaufpausen. Um sich gegen unerwünschte oder angsteinflößende Veränderungen (Lösungen) zu wappnen, gibt es ein elegantes Mittel: Probleme. Soll zum Beispiel Ihre Abteilung trotz allgemeiner Skepsis mit einer anderen zusammengelegt werden, dann sprechen Sie die damit verbundenen Befürchtungen an. Weil diese ja vor der Fusion gelöst werden müssen, wird sich diese verlangsamen. So bekommen alle Beteiligten mehr Zeit, sich an die Veränderungen zu gewöhnen und zusätzliche Ideen zu entwickeln, wie alles noch besser zu schaffen wäre. Das heißt: Die Verschleppung von Problemen kann den Menschen dabei helfen, sich an deren bevorstehende Lösung zu gewöhnen. Wir können auch welche erfinden, um Veränderungsprozesse zu verlangsamen, das kommt aufs selbe raus.

Probleme bescheren uns Abenteuer – und was für welche. In einem vielzitierten Interview sagte der bekannte Bergsteiger Reinhold Messner: »Viele Extremabenteurer aber laufen vor häuslichen Problemen davon.« [7] Und verwies damit auf eine wichtige Rolle von Problemen: Sie versetzen uns mitunter in einen mentalen Zustand, der uns die eigene Trägheit überwinden und endlichen aktiv werden lässt. Wir greifen zum Hörer und führen das lang aufgeschobene Gespräch, bringen das Fahrrad zur Reparatur oder steigen auf sehr hohe Berge. Für manche stellt das Telefonat bereits eine Höchstleistung dar, andere hingegen werden sich erst dann zufriedengeben, wenn sie in eine absolute Grenzregion vorgestoßen sind. Messners Äußerung zeigt, welche Macht selbst unscheinbarste Probleme entfalten können. Und dass unser Zögern, sie zu lösen, durchaus berechtigt ist. Denn irgendwie scheinen wir zu ahnen, dass in jedem einzelnen, noch so unscheinbaren Problem eine Motivationswucht schlummern kann, die uns Achttausender besteigen lässt. Aus diesem Blickwinkel erscheint es wenig verlockend, irgendwelche häuslichen Probleme vorzeitig zu lösen, wirken sie doch mitunter wie seelische Energydrinks.

Frage so lange, bis du den Gewinn gefunden hast. Es gibt natürlich eine Vielzahl weiterer Gewinne, die sich in unseren Problemen verbergen und von denen bislang nicht die Rede war. Mit den folgenden Fragen finden Sie sie am schnellsten: [8]

– »Wofür war es gut, noch nicht am Ziel zu sein?«
– »Womit müssten Sie fertig werden, wenn Sie Ihr Ziel schon erreicht hätten?«
– »Mit wem bekämen Sie Schwierigkeiten, wenn Sie dabei schon Erfolg gehabt hätten?«
– »Wollen Sie sich wirklich jetzt schon den Erfolg erlauben, oder wäre es nicht vielleicht angemessener, erst noch eine Ehrenrunde einzulegen, um den Wert des alten Verhaltens noch etwas genauer wahrzunehmen?«

Sei deinen Problemen dankbar. Nach alldem erscheint es durchaus angebracht, ein wenig Abbitte bei unseren Problemen zu leisten. Weil wir sie normalerweise nur aufgrund ihrer abschreckenden Vorderseite beurteilen. Das war nicht hilfreich, sorry, kommt nicht wieder vor. Der österreichische Schriftsteller Wolf Haas hat den Gedanken vom Nutzen des scheinbar Problematischen sehr schön auf den Punkt gebracht. Seinen Protagonisten Simon Brenner, einen in die Jahre gekommenen Expolizisten, lässt er das Folgende denken: »Nachdem der Kripochef verschwunden war, ist der Brenner noch eine Zeit lang allein am Küchentisch unter der Neonröhre gesessen und hat ein bisschen darüber nachgedacht, dass er kein Problem hat. Er hat eigentlich wirklich kein Problem gehabt, kein Krebs, keine Familie, kein Chef, kein gar nichts. Aber zwischen vier und fünf Uhr früh können sich die Gedanken ganz sonderbar umdrehen, und du bildest dir plötzlich ein: Mit Problem hätte ich weniger Probleme als so ganz ohne Problem.« [9] Genau so scheint es zu sein.

Exakt derselbe Gedanke ging offenbar Lawrence Peter »Yogi« Berra durch den Kopf, als er sagte: »If the world were perfect, it wouldn’t be.« Ganz ohne Probleme geht’s dann doch nicht. Es müssen bloß die richtigen sein: »We made too many wrong mistakes«. [10]

*

Anmerkungen

[1] Simon, Fritz B.: Die Kunst der Chronifizierung – Über die Anpassung von System und Umwelt, in: Die Kunst, nicht zu lernen. Und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik …, 2002, S. 73

[2] Simon, Fritz B.: Die Kunst der Chronifizierung – Über die Anpassung von System und Umwelt, in: Die Kunst, nicht zu lernen. Und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik …, 2002, S. 73

[3] Varga von Kibéd, Matthias; Sparrer, Insa: Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen, 2009, S. 116

[4] Steve de Shazer räumt zwar ein, dass wir Probleme aufrecht erhalten, weil wir davon einen Nutzen haben. Er weist aber zugleich darauf hin, dass er eine einfachere These bevorzugt. Er schreibt: »Es wird oft davon ausgegangen, daß wie auch immer geartete Probleme durch ein Bestechungsgeld oder eine Belohnung, die die Person erhält, aufrechterhalten werden. […] Diese Annahme könnte sich bei einer Reihe von Fällen als nützlich erweisen, bei anderen wiederum nicht. Kurztherapeuten gehen eher davon aus, daß Probleme sich einfach selbst aufrecht erhalten und damit hat es sich.« Aus: de Shazer, Steve: Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie, 1989, S. 76

[5] Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 24. Vorlesung: »Die gemeine Nervosität«, in: Freud, Sigmund; Mitscherlich, Alexander: Sigmund Freud Studienausgabe, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, 2007, S. 371

[6| Simon, Fritz B.: Die Kunst der Chronifizierung – Über die Anpassung von System und Umwelt, in: Die Kunst, nicht zu lernen. Und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik …, 2002, S. 83

[7] Messner, Reinhold: Überlebthaben ist das stärkste Gefühl der Welt, in: Stuttgarter Zeitung, 6. August 2008, S. 8

[8] Varga von Kibéd, Matthias; Sparrer, Insa: Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen, 2009, S. 116

[9] Haas, Wolf: Das ewige Leben, 2014, S. 119

[10] Yogi Berra: The Yogi Book, 1999, S. 52 u. 34

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Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem soeben erschienenen Buch von Christian Ankowitsch »Die Kunst einfache Lösungen zu finden«. Verlag Rowohlt, Berlin. rowohlt.de

Essay, Fazit 145 (August 2018), Foto: Josef Fischnaller

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