Stolz und Vorurteil
Peter K. Wagner | 3. Juni 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 153, Fazitthema
Bulgarien gilt als ärmstes Mitgliedsland der Europäischen Union. Und während die einen Bewohner den großen Aufschwung vermuten, fürchten andere den endgültigen Exodus. Fazit besuchte ein Land auf dem Scheideweg.
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In der Spätantike lebten auch in Europa Löwen. Zum Beispiel in Bulgarien. Nur ein Grund, warum das Wappen des Landes drei Löwen eine Heimat bietet und sogar die Bezeichnung der Staatswährung Lew auf die Raubkatze zurückgeht. Als besonders stolz gilt der Löwe in Fabeln, eine Beschreibung, die zugespitzt auch beschreibt, was es heißt, Bulgare zu sein.
Denn das Land an der europäischen Ausfahrt zu Asien hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Problemkind einer Wirtschafts- und Währungsunion wie der EU, die Bulgarien in ziemlich allen Rankings abgeschlagen an letzter Stelle sieht, wird man eben nicht von heute auf morgen. »Wir sind ein Volk, das sich Jahrhunderte in den Bergen mit seinen Ziegen verstecken musste«, sagt Borislav Petrov. »Weil wir immer wieder das erste Opfer türkischer Eroberungsfeldzüge nach Westen waren.« Bulgarien ist eben nicht nur ein Land, das sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs neu erfinden muss, sondern auch ein Staat, der nie Zeit hatte, um sich in Ruhe zu einer fortschrittlichen Nation zu entwickeln. So stolz viele Bulgaren auf ihre Heimat sind, so attraktiv ist es gerade für junge Menschen, das Land zu verlassen. Borislav Petrov, der die Geschichte seines Landes so metaphorisch auf den Punkt bringt, ist so ein junger Mensch. Er war keine 19 Jahre alt, als er 2003 nach Mannheim aufbrach. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen.
Deutsches Know-how, bulgarische Realitäten
»Es war damals sehr trendig, nach Deutschland zu gehen«, sagt er. Er hat in einem italienischen Lokal in Sofia Platz genommen. Gegenüber des Restaurants ist einer der feinsten Gourmettempel der Stadt, das Ahora, in dem ein Mittagsmenü dennoch nicht viel mehr als zehn Euro kostet. Und im gleichen Gebäude, nur ein paar Stockwerke weiter oben, ist die Heimat von Rilabs. Der Firma, die Borislav Petrov gemeinsam mit Vasil Nikolov gründete. Aber was heißt schon Firma. »Wir sind eigentlich ein Start-up«, erklärt Petrov. Auf LinkedIn beschreiben sich die beiden jungen Gründer wie folgt: »Gegründet im Sommer 2017, angetrieben von deutscher Ausbildung und Erfahrung.« Wie Petrov war auch der Geschäftspartner dereinst nach Deutschland aufgebrochen, um sich zu bilden und Karriere zu machen. Beide stammen aus demselben Ort im Süden Bulgariens und kennen sich seit Schulzeiten, sind beide Mitte 30 und überzeugt, den richtigen Geschäftszweig gefunden zu haben: das Internet of Things. Chips für E-Bikes, Wetter- und Luftfeuchtigkeitsmessung in der Landwirtschaft, Bootortung und vieles mehr findet sich im Portfolio der jungen Bulgaren, die bis auf einen leichten Akzent eigentlich mehr an Deutsche erinnern. Das deutsche Arbeitsselbstverständnis, es sei ein anderes als jenes der Bulgaren. Und genau aus dem Grund glauben die beiden daran, mit dieser Arbeitskultur in ihrer Heimat erfolgreich zu sein. Petrov gab für die Selbstständigkeit einen hoch dotierten Job in Zürich auf. »Es musste so sein, dass wir ins Ausland gehen«, sagt Petrov, der in Mannheim Teil einer großen bulgarischen Community war. »So wie wir kommen jetzt viele zurück. Es entsteht etwas in Bulgarien und da wollen wir dabei sein.« Der Durchbruch ist noch nicht ganz geschafft, aber immerhin besteht die Firma bereits aus fünf Mitarbeitern.
Es gibt sie, die positiven Geschichten Bulgariens. Gründer wie Borislav Petrov sprühen vor Energie und in jedem ihrer Worte über Bulgarien ist der tiefe Glaube an den Aufbruch und Fortschritt im Land zu spüren. Aber dieser Euphorie steht auch eine andere Realität gegenüber. Das Mindesteinkommen des Landes, das bei 280 Euro monatlich liegt, EU-Gelder, oft in einem korrupten politischen System, eine Vignette wird im Land für Straßen benötigt, die in Österreich schlicht als unbefahrbar gelten würden. Sogar in der Hauptstadt Sofia sind nahezu alle Straßen von Schlaglöchern geprägt, kaum eine Häuserfassade ist nicht sanierungsbedürftig.
Der drohende Exodus
Auch die Fakultät für Wirtschaft und Betriebsökonomie hat schon bessere Zeiten hinter sich. Im zweiten Stock des Gebäudes bittet Professor Cvetan Davidkov, den linken Gang zu nehmen. Alte Schreibtische stehen entlang des langen, dunklen Flurs. Hier liegt auf der linken Seite sein Büro, in dessen vielen Regalen englische und kyrillische Bücher zu finden sind. Darunter auch ein paar, die Davidkov selbst verfasste. 1976 kam er als Student auf die Universität, seit einigen Jahren ist er als Professor tätig. Er erforscht, wie es um die Wirtschaft seines Heimatlandes wirklich steht. Und auch wie es um den Exodus qualifizierter Arbeitskräfte steht.
»Alles begann um 1989«, sagt er. Damals, als der Eiserne Vorhang fiel, erhielten die Bulgaren erstmals die Chance, sich ins Ausland aufzumachen. Und nutzten sie. »Seit damals sind Menschen in unterschiedlichen Wellen abgewandert. Natürlich auch nach dem EU-Beitritt 2007.« Und kommen sie nun wieder zurück? Davidkov kann das nicht bestätigen. Im Gegenteil. »Es wurden gerade für 2018 neue Statistiken zur Bevölkerung veröffentlicht«, erzählt er. »Zum ersten Mal in der amtlichen Statistik gibt es in Bulgarien unter sieben Millionen Menschen. Die Prognosen sind nicht optimistisch.« Doch das liegt nicht nur an Auswanderern, sondern auch an der geringen Geburtenrate des Landes und der Tatsache, dass auch Frauen in Bulgarien immer später ihr erstes Kind bekommen, da sie sich beruflich verwirklichen können. Trends, die im gesamten Europa zu beobachten sind.
»Wenn ich mit Kollegen in anderen Ländern über Abwanderung von Bulgaren spreche, bekomme ich oft Folgendes zu hören: ‚Es war bei uns nach dem zweiten Weltkrieg dasselbe – es gab keine Arbeit, viele Menschen sind abgewandert und dann begannen sie, zurückzukehren.‘« Dazu muss man wissen, dass das Bulgarien des Jahres 2019 mit der Türkei um den Zuschlag für ein neues VW-Werk kämpft. »Wir sind eben ein gutes Land für Outsourcing«, sagt Davidkov, der auch weiß, dass es für viele gut ausgebildete Bulgaren noch immer rentabler ist, im Ausland in einem minderqualifizierten Beruf schlecht zu verdienen als in der Heimat gut. Von der großen Welle der Heimkehr wie Borislav Pektov spricht Cvetan Davidkov nicht. »Ich glaube nicht, dass immer mehr Menschen nach Hause zurückkehren. Es ist eine Tatsache, dass sich die Bevölkerungszahl Bulgariens in jeder neuen Statistik weiter verringert.«
110 Euro Pension monatlich
Wie groß der Aufholbedarf nicht nur im wirtschaftlichen Bereich ist, zeigt die Geschichte von Veneta Ivanova. Ivanova hat auf einer Parkbank im Zentrums Sofia Platz genommen und beobachtet das rege Treiben am Spielplatz. Ivanova ist eigentlich in Pension. Über 30 Jahre lang hat sie als Steuerberaterin gearbeitet. »Vollzeit«, sagt sie. »Aber ich bekomme nur eine Pension von etwa 110 Euro monatlich. Davon kann man nicht leben.« Ivanova ist deshalb aktuell eigentlich nur auf Urlaub in der Heimat. Bald geht es wieder zurück nach Graz, wo sie bei einer älteren Bulgarin, die schon seit Jahrzehnten in Österreich lebt, als 24-Stunden-Pflegerin arbeitet. Als Begleiterin durch den Alltag der pflegebedürftigen Frau verdient sie ein Vielfaches von dem, was sie in ihrem Beruf einst monatlich lukrierte. »Wenn ich früher von dieser Möglichkeit erfahren hätte«, sagt sie, »hätte ich schon vor meiner Pensionierung als Pflegerin gearbeitet.«
Geringe Sozialleistungen und der niedrigste EU-Mindestlohn sind nur zwei der vielen Herausforderungen, die Bulgarien kennt. Eine ist auch die Integration der ethnischen Minderheit der Roma. Etwa 750.000 Menschen mit Romahintergrund sollen in Bulgarien leben, bei der letzten Volkszählung gaben aber nur etwa halb so viele Menschen an, Rom oder Romni zu sein. Wer es einmal aus der Mitte der Minderheit zumindest in die Nähe des Bürgertums geschafft hat, leugnet oft seine Herkunft. Die Gründe dafür sind in der Mitte der Gesellschaft ebenso zu finden wie in der Politik. Denn so wie in Mitteleuropa rechtspopulistische Parteien gerne Flüchtlingen die Verantwortung für jegliche Probleme eines Landes geben, sind in Bulgarien Roma das beliebteste Feindbild. Gerade in Wahljahren wie 2019.
Bereits Anfang Jänner des heurigen Jahres kam es im Dorf Voyvodinovo, nahe der aktuellen europäischen Kulturhauptstadt Plovdiv, zu Protesten gegen Roma. Zwei Roma hatten einen bulgarischen Soldaten geschlagen. Kollektiv wurde allen Roma des Ortes die Schuld gegeben. Dutzende Menschen mussten aus ihren Häusern und Wohnungen fliehen. Im April kam es in der zentralbulgarischen Stadt Gabrovo nach einer Schlägerei von drei Roma in einem Supermarkt sogar zu pogromartigen Aufständen. 1.200 Menschen zogen durch die Straßen und wollten ihre eigenen Nachbarn aus der Stadt jagen. »Kommt raus, wir machen Seife aus euch«, skandierte der aufgebrachte Mob. Viele Fenster wurden mit Steinen eingeschlagen, zwei Häuser von Roma wurden sogar niedergebrannt.
Daniela Mihaylova ist Anwältin und setzt sich mit ihrer NGO für die Rechte der ethnischen Minderheit ein. »Die Situation wird immer schlimmer«, sagt sie. »Weil es der einfachste Weg für Politiker ist, den durchschnittlichen Bulgaren zu erreichen.« Und sie weiß auch, warum ethnische Bulgaren einen Sündenbock suchen. »Vor 1989 schätzten die Bulgaren die Fürsorge des Staates – es gab Arbeit, Bildung und Urlaub.« Als der Eiserne Vorhang fiel, stand sie gerade vor dem Beginn ihres Studiums. »Meine Klassenkameraden und ich waren damals großer Hoffnung, dass wir eine Gesellschaft werden, in der Menschen dieselben Möglichkeiten haben. Doch die Demokratie stellte dem Land und seiner Bevölkerung viele Hürden in den Weg. Staatliche Betriebe wurden privatisiert, Arbeitsplätze eingespart, der Wirtschaftsmotor stotterte. Wo man ansetzten muss? In der Bildung.
Das weiß auch Dejan Kolew. Der Gründer der Bildungseinrichtung Amalipe – das Romanes-Wort für Freundschaft – ist gerade zu einer Konferenz geladen. In einem schönen Anwesen nahe der Hauptstadt der zweiten bulgarischen Republik, der historischen Stadt Veliko Tarnovo. Kolew stammt selbst aus einer Romafamilie. Seine Anwesenheit bei der Veranstaltung allein spricht für seinen persönlichen Aufstieg und noch mehr für seine Arbeit. Mit fast 280 Schulen in ganz Bulgarien kooperiert seine Organisation, um Kinder aus Romafamilien eine Ausbildung zu garantieren. Kolew war ursprünglich einmal Lehrer, seine Organisation bemüht sich, Kindern aus Romafamilien bei der Einschulung zu helfen und sie in der Schule zu halten. Und schafft es in manchen Städten gar, Ghettoschulen mit ausschließlich Romakindern aufzulösen und die Kinder in andere Schulen aufzuteilen. Es gibt nicht den einen typischen Roma Bulgariens, sondern unterschiedliche Gruppen, die mal stark bürgerlich geprägt sind, mal aber gar nur schlechte Bulgarischkenntnisse haben. Und doch ist etwa das Thema der Familiengründungen im sehr jungen Alter nicht nur Vorurteil, sondern in manchen Romafamilien weiterhin präsent.
Hier sind Roma gerade alles andere als präsent. Es ist ein sonniger Frühlingstag in der Hauptstadt Sofia. Junge Frauen und Männer haben sich in Schale geworfen und stehen inmitten ihrer Familien, sie lachen und sind bester Laune. Kein Wunder, an diesem Freitag ehrte die Universität gerade ein paar frische Absolventen. Hristina Peleva steht ihre Sponsion noch bevor. Sie studiert Journalismus. »Es gibt keine klare Tendenz, ob junge Menschen lieber ins Ausland gehen oder hier bleiben. Es hält sich in etwa die Waage«, sagt sie. Ihr Blick streift das historische Gebäude vor ihr. Zwei imposante, steinerne Löwen wachen dort links und rechts am Eingang. Und mit dem gleichen Stolz, dem man auch dem Wappentier der Bulgaren zuspricht, sagt sie eindringlich: »Ich habe mich entschieden, in Bulgarien zu bleiben. Weil ich glaube, dass ich es auch von hier aus schaffen kann.«
Fazitthema Fazit 153 (Juni 2019), Foto: Adobe-Stock
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