Anständig angezogen
Volker Schögler | 9. Juli 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 154, Fazitportrait
Seit mehr als 80 Jahren trotzt das Baby- und Kindermodengeschäft Gerstner am Grazer Franziskanerplatz den Stürmen der Modebranche und dem Onlinehandel. Der Familienbetrieb in dritter Generation setzt so konsequent wie erfolgreich auf Kindertrachten, Anlassmode und Qualität.
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Wenn es stimmt, was der Philosoph Ernst Bloch gesagt hat, nämlich dass das eigentliche Paradies, die Heimat, in die wir zurückkehren wollen, die Kindheit ist, dann ist das Paradies am Franziskanerplatz in Graz. So erscheint es zumindest vielen frischgebackenen Eltern, die das Kindermodengeschäft Gerstner »Zum Storch« noch aus eigenen Kindheitstagen kennen und dort vielleicht sogar eingekleidet wurden. Oder Großeltern, die von sich Gleiches behaupten können. Oder Urgroßeltern. Und – man glaubt es kaum – deren Eltern, die dort zumindest eingekauft haben könnten, denn irgenwer muss bereits im Jahr 1938 Kundschaft gewesen sein.
Damals, vor 81 Jahren, entschloss sich eine 35-jährige Abteilungsleiterin vom Kaufhaus Kastner und Öhler, selbständig zu werden. Ihre Name: Grete Gerstner. Ihre Geschäftsidee: ein Kindermodengeschäft. Unmittelbar an die Außenmauern der Franziskanerkirche schmiegten sich schon damals kleine, aus heutiger Sicht romantische Läden aus dem 19. und 20. Jahrhundert. In einem dieser Läden fand sie sprichwörtlich Unterschlupf, denn damals war das Geschäft noch wesentlich kleiner als es sich heute präsentiert. Wer konnte schon wissen, dass ein Jahr später der Zweite Weltkrieg ausbrechen und vom Geschäft nur Schutt und Asche übrigbleiben würde? Es folgte eine sogenannte »Umquartierung« auf den nahegelegenen Kapaunplatz, wo sich heute noch Lager und Auslagen befinden. Die zerbombten Anbauten an die Franziskanerkirche wurden wieder aufgebaut und neben den zahlreichen Fleischereien im sogenannten »Kälbernen Viertel« etablierte sich das winzige Kindermodengeschäft unter der strengen Führung von Grete Gerstner von Neuem.
Altmodische Werte
Die alte »National«-Registrierkassa für das Bargeld links neben dem Eingang, die noch in Kronen und Heller rechnen würde, repräsentiert nach wie vor die Tradition des Familienbetriebes und steht auch für vorgeblich altmodische Werte wie Qualität und Verläßlichkeit, Eigenproduktion und Stolz, aber auch für persönliche Bedienung auf der einen Seite und Kundentreue auf der anderen. Tatsächlich versteckt sich unter der Kassa ein Computer mit Bildschirm und zeitgemäßer Rechnersoftware. Die »gute alte Zeit«, die bekanntlich so gut auch wieder nicht war, ist gerne Gast im Franziskanerviertel, weil die Sehnsucht nach einer glücklichen Vergangenheit zumeist größer ist als die Sehnsucht nach dem Glück der Gegenwart. Im Geschäftsleben bleibt für derartige Romantisierungen allerdings wenig Platz. Ausdruck dafür ist nicht nur der Computer, sondern viele kleine Nachjustierungen im Geschäft, die auf den ersten Blick gar nicht auffallen – genau das ist ja auch das Kunststück, das gelingen muss, wenn Althergebrachtes so erhalten bleiben soll, dass der Romantiker in uns nicht enttäuscht wird, und der überzivilisierte Wohlstandsneurotiker trotzdem auf seine Kosten kommt.
Man kann sich vorstellen, wie ungemütlich es seinerzeit in diesen kleinen Geschäften war, eiskalt im Winter, unerträglich heiß im Sommer, jedes Öffnen der Eingangstür eine klimastrategische Überlegung. Kein Wunder, dass die alten Geschäftsleute gern ein strenges Regiment geführt haben, im Innenverhältnis mit ihren Angestellten, im Außenverhältnis mit den Kunden. Letztere durften bestenfalls Könige sein, niemals aber Partner so wie heute, aber auch nicht verzweifelte Selbstbesorger wie im Baumarkt. In einer selbstbedienungsgewohnten, aber nicht mehr alltagstauglichen, weil überspezialisierten Gesellschaft, deren letzte Generation einen Tankwart gerade einmal für einen Panzermechaniker hält, ist Kundenbedienung heute zu einem heiklen Balanceakt zwischen Aufdringlichkeit und Vernachlässigung geworden. Auch hier sorgen kleine Veränderungen der jetzigen Chefin für große Wirkung.
Hängen und/oder legen?
Eva Tiefnig, die seit 1983 im Geschäft ist, hat 1996/97 von ihrer Mutter Margarete Zaunschirm in dritter Generation Kindermoden Gerstner übernommen und einen klugen Kompromiss gewählt. Der zunächst wirklich winzige Laden konnte sein Raumangebot in der 1970er Jahren zwar um das rechts daneben gelegene ehemalige Geschäftslokal einer Fleischerei auf 37 Quadratmeter verdoppeln, aber aufgrund der noch immer geringen Verkaufsfläche wurde die Ware nach wie vor nicht hängend, sondern im Regal untergebracht – also stark personalgebunden, wenn auch näher am Kunden. Das änderte sich erst ab 2008, als die an der linken Flanke angrenzende Trafik schloss, und damit ein weiterer Raum dazukam, sodass nunmehr rund 55 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Damit war endlich genug Platz, um die mannigfaltige Ware zum Teil auch hängend zu präsentieren. So kann die Kundschaft auch selbständig gustieren und muss sich nicht jedes Stück extra vorlegen lassen, was heutzutage kaum jemand mehr gewohnt ist. Trotzdem ließ Eva Tiefnig die personalintensive Fachbedienung bestehen, wodurch neben ihr selbst und ihrer Mutter immer auch drei Verkäuferinnen im Geschäft sind, un d die Kundennähe sowie die traditionelle Atmosphäre über die Jahre erhalten blieben. »Das mag konservativ oder altmodisch sein, aber im positiven Sinn!«, strahlt die Chefin und man glaubt ihr aufs Wort.
Eigene Kleiderproduktion
Angesichts der soziokulturellen Umbrüche und der grundlegenden Änderung so vieler anderer Rahmenbedingungen in den letzten 81 Jahren grenzt es an ein Wunder, dass das Kindermodengeschäft Gerstner nach wie vor Bestand hat. Zum einen mag es an der vorwiegend traditionell ausgerichteten Kleidermode liegen. Dirndl, Lodenjanker, Lederhosen und sonstige Trachtenstücke sind nicht so sehr den rasant wechselnden Modetrends ausgeliefert, Erstausstattungen vulgo Nachhausegewand und Babystandards sind beliebte Geschenksideen und Mitbringsel.
Auch Anlassgewand für Taufe, Kommunion oder Hochzeit sind fixe Posten, denen offenbar nicht einmal der Gottseibeiuns der Handelsleute, der Onlinehandel, allzu nahe kommt. Zum anderen hat der Erfolg von Gerstner, dessen Umsatz mit insgesamt zehn (Teilzeit-)Mitarbeitern kontinuierlich weit über der Halbmillioneneurogrenze liegt, auch etwas mit Kontinuität und mit Konsequenz zu tun: in der Auswahl der Kernmode, in der Unternehmensführung und in der eigenen Geschichte, vor allem der Gründerin. Deren Tochter Margarete Zaunschirm, die seit 1955, ihrem 14. Lebenjahr im Geschäft steht, weiß, wie Grete Gerstner ihren Ruf gefestigt hat, auch in schweren Zeiten für alle etwas zu haben: »Die Mutter konnte aus alten Sachen, die gewendet wurden, neue machen.« Bis heute gehört neben dem Handel die Erzeugung der Bekleidung zu den großen Stärken des kleinen Betriebes. Insbesondere die in dieser Ausgestaltung sonst nirgends erhältlichen Kindertrachten mit den dazupassenden Accessoires – vom exakt abgestimmten Kapperl bis zum Hemd mit dem gleichen Muster wie die Aufschläge der Hose oder Partnerlook zwischen Mutter und Tochter – bringen das Elternherz zum Schmelzen. Ebenfalls bis heute gelten die Maximen von Grete Gerstner: »Wenn jemand in dieses Geschäft hereinkommt, dann muss er was wollen.« Oder: »Von Das-hamma-net-Kunden können wir nicht leben.«
Männer, die einkaufen
Durch diese Schule des Verkaufs ging in den 1960er Jahren übrigens auch jemand als Lehrling, der beziehungsweise die es in der Folge ganz schön weit gebracht hat: Waltraud Klasnic, später bekanntermaßen Landeshauptmann der Steiermark. Heute würde man Landeshauptfrau sagen – auch so etwas, was sich geändert hat, wie etwa der Umstand, dass heute auch Männer zur Stammkundschaft vom Gerstner gehören, während sie früher vor der Tür gewartet haben, bis die Frau den Einkauf für das Kind erledigt hat. Bei aller Traditionsverbundenheit hat Eva Tiefnig auch ein Gefühl gegenüber überkommenen Einschränkungen, sowohl das Personal als auch die Kundschaft betreffend. Etwa wenn es an heißen Sommertagen für die Mitarbeiterinnen schon einmal eine Eispause während der Geschäftszeit gibt. Und wenn dann ein ebenfalls mit einem Eis »ausgestatteter« Kunde eintritt, darf weiterbedient werden – früher undenkbar.
Nachhaltigkeit und Qualität
Letztlich ist es aber doch das märchenhafte Warenangebot, das die Kundschaft aus nah und fern anzieht. Beim Gerstner lassen sich Kinder von 0 bis 16 Jahren von der Unterwäsche bis zum Mantel vollständig einkleiden und das in einer Qualität, die ihresgleichen sucht. Gerade Naturmaterialien wie Baumwolle und Leinen ermöglichen zum Beispiel bei einem Dirndl eine weitere Nutzung für die kleinen Schwestern und entsprechen in puncto Nachhaltigkeit dem Trend der Zeit. Das ist eine der weiteren Stärken gegenüber der Billigkonkurrenz. Ein weiterer Wettbewerbsvorteil ist die eigene Schneiderei, in der viele Modelle entworfen und zugeschnitten werden, um dann im Inland in Heimarbeit zusammengenäht zu werden. Außerdem wird die Kleidung in allen Größen, von XS bis XXL, angeboten, schließlich ist das Einheitsgrößenkind noch nicht erfunden. Auch Touristen zieht dieses Kindermodengeschäft wie ein Magnet an – denn wissen Sie, was es hier noch gibt? Stutzen. Richtige Kinderstutzen!
Kindermoden Gerstner GmbH
8010 Graz, Franziskanerplatz 15
Telefon +43 316 824440
gerstner-kindermoden.at
Fazitportrait, Fazit 154 (Juli 2019) – Fotos: Heimo Binder
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