Design formt Gesellschaft. 100 Jahre Bauhaus
Redaktion | 9. Juli 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 154
Ein Essay von Friedrich von Borries. Mit der »Bauhaus-Idee« verbinden sich vor allem schnörkellose, in Form und Farbe reduzierte Architektur, schlichte wie elegante Funktionalität sowie klares und scheinbar zeitlos modernes Design. Anläßlich ihres 100jährigen Bestehens will der Berliner Architekt Friedrich von Borries die Begriffe Design und Gestaltung radikal neu denken.
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Friedrich von Borries, geboren 1974 in Berlin, ist deutscher Architekt, Kurator und Hochschullehrer. Er studierte Architektur an der Universität der Künste in Berlin und promovierte an der Universität Karlsruhe. Seit 2009 lehrt von Borries als Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und leitet das Projektbüro Friedrich von Borries in Berlin. friedrichvonborries.de
Ich sitze am Schreibtisch und bin müde. Der Tag war lang, die Nacht zuvor haben die Kinder schlecht geschlafen und ich deshalb auch. Nun sind sie wieder im Bett. Endlich Zeit zum Arbeiten. Ganz oben auf meiner To-do-Liste steht dieser Text über das Bauhaus und die Frage, ob Gestaltung Gesellschaft verändern kann – und der Esstisch, der noch nicht abgedeckt ist. Wie lässt sich die Fallhöhe zwischen dem historischen Bauhaus, dem Gesellschaftsdesign und dem dreckigen Geschirr aushalten? Oder anders gefragt: Warum soll man sich mit dem Bauhaus beschäftigen, wenn noch so viel anderes zu tun ist? Und ist für das, was heute zu tun ist, ein Blick auf das Bauhaus sinnvoll?
Das historische Bauhaus stand, verkürzt ausgedrückt, vor der Frage, mit welchen neuen, unkonventionellen Gestaltungsansätzen die in seiner Zeit virulenten Probleme industrieller Produktion gelöst und eine moderne Kultur und gerechte Gesellschaft erschaffen werden könne. Es ging also darum, wie man Gestaltung so weiterentwickelt, dass sie nicht mehr bürgerliche oder gar aristokratische Repräsentationswünsche erfüllt, sondern den Idealen und der Verfasstheit der entstehenden demokratischen Gesellschaft einen Ausdruck verleiht. Oder besser noch: wie man deren hehre Ideale und Vorstellungen in gelebte Wirklichkeit und materielle Kultur übersetzt. Dazu gehörten der Wohnungsbau, aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfes. Etwa die berühmten Möbel wie der Freischwinger, auf dem man nicht sitzt wie auf einem Thron, sondern, wie der Name schon sagt, frei schwingt; etwas unsicher vielleicht, immer in Bewegung – aber dafür auch frei. Der Versuch, die moderne Industrieproduktion zu reformieren und der modernen Gesellschaft mittels der neuen Gestaltung einen eigenen ästhetischen Ausdruck zu verleihen, schlug sich auch im Umgang mit Form und Materialität nieder. Die Bauhäusler nutzten moderne Materialien und Technologien. Es entstanden einfache, minimalistische Formen, auf überflüssigen Dekor wurde verzichtet.
Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen der weltweiten Modernisierung, die es weder geschafft hat, im globalen Maßstab die Deckung eines Mindestbedarfes (Versorgung mit Wohnraum, Bildung, Gesundheit) zu gewährleisten, noch eine gerechte Gesellschaft zu bauen. Im Gegenteil: Die Moderne hat eine Spur der ökologischen und psychosozialen Zerstörung gelegt und die globale Ungerechtigkeit verstärkt, an der die zukünftigen Generationen sich werden abarbeiten müssen. Gleichzeitig haben sich die technologischen Möglichkeiten weiter entwickelt, als man vor 100 Jahren ahnen konnte oder träumen wollte. Mit künstlicher Intelligenz, synthetischer Biologie, Nanocomputing und Neuroengineering stellt sich die Frage nach dem »neuen Menschen« in einer ganz anderen Weise, als es sich die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts vorstellten. Das alles führt dazu, dass wir heute – vergleichbar, aber eben doch ganz anders als vor einem Jahrhundert – die Begriffe »Design« und »Gestaltung« radikal neu denken müssen. Im Folgenden werde ich dazu einen Vorschlag skizzieren.
Um welche Gestaltung geht es?
Überlebensdesign Um das bedrückende, ja erdrückende Erbe der Moderne – die industrielle, weltzerstörende Massenproduktion und die naturvergessene Wachstumslogik – zu bewältigen, steht Design heute vor einer grundsätzlichen Aufgabe: Es gilt, das Überleben der Menschheit zu sichern. Diese Überlebenssicherung setzt beim Kampf gegen die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen an, die unsere Gesellschaft nach wie vor betreibt. Plastikmüll, Klimawandel, Überfischung – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Designer der Gegenwart müssen die Ausrüstungsgegenstände für einen Lebensstil entwickeln, der eben nicht die eigenen Lebensgrundlagen zerstört, sondern sie zumindest erhält – und gleichzeitig diesen neuen Lebensstil begehrlich, attraktiv, lebenswert erscheinen lässt.
Sicherheitsdesign Während beim Überlebensdesign gesellschaftlich ein ziemlich großer Konsens zu herrschen scheint – wenngleich zu diesem Konsens gehört, sich den Konsequenzen aus den von einer großen Mehrheit unbestrittenen Erkenntnissen zu verweigern –, herrscht über die Frage, was »Sicherheit« ist und wie diese zu erreichen sei, große Uneinigkeit. Das Spektrum der – klassischen, weil materiellen – Designaufgaben reicht vom Bau von Mauern (seien sie nun an der Grenze zwischen Mexiko und den USA oder an den Grenzen der EU) oder Pollern (in Fußgängerzonen, vor Botschaften und Weihnachtsmärkten) bis hin zur Gestaltung von Auffanglagern und Flüchtlingsunterkünften. Weniger dinglich – und damit schwerer zu fassen – ist die Gestaltung unsichtbarer Formen der gegenwärtigen »Sicherheitskonstruktion«; die subtilen Formen der Überwachung – von Videoüberwachung, Payback-Karte bis Smartphone. Die als Serviceleistung bemäntelte Überwachung dient vor allem dazu, Profile von uns anzulegen, die der Kontrolle, Vorbeugung und Steuerung dienen. Dies sind, ob man will oder nicht, Formen von Sicherheitsdesign und gehören zu dem, was vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt in den 1980er Jahren als »unsichtbares Design« beschrieben wurde. Es sind aber Formen von Sicherheitsdesign, die nicht in die Freiheit, sondern in die Unterwerfung führen. Eine Aufgabe von Design in der Gegenwart ist deshalb, sich der Versicherheitlichung in allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen entgegenzustellen. Dazu zählen Projekte, die die Strategien der Abschreckung aushebeln, wie, um ein Beispiel zu nennen, die materiellen Manifestationen der Willkommenskultur in Form von Initiativen, Veranstaltungen und Netzwerkarbeit. Zu einem demokratischen Sicherheitsdesign gehört aber auch, die reale Unsicherheit auszuhalten und Werkzeuge zu entwickeln, die uns dabei helfen.
Gesellschaftsdesign Die Art, wie wir Sicherheit denken und in unserem Alltag herstellen, bestimmt oder – um einen designaffinen Begriff zu benutzen – bedingt den Freiheitsgrad unserer Gesellschaft. Ob sichtbar oder unsichtbar: Design kontrolliert, formt und steuert die Gesellschaft und die Individuen. Es beeinflusst auf materieller und immaterieller Ebene die Arten und Weisen unseres Zusammenlebens. Ob wir ängstlich oder mutig sind, frei oder unfrei, vereinsamt oder in Gemeinschaft, wird zwar nicht nur, aber auch von Design gelenkt, ganz im Sinne des Marx’schen Diktums »das Sein bestimmt das Bewusstsein«. Zu abstrakt formuliert? Ein paar konkrete Beispiele: Nehmen wir den Wohnungsbau. Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Art Rentner-WG aufmachen, also mit anderen Menschen zusammenleben, aber nicht mehr auf studentischen Niveau, sondern mit eigenem Bad und einer großen Küche, in der man gemeinsam kocht und isst. Kennen Sie einen Neubau, der dafür den passenden Grundriss anbietet? Oder denken Sie sich in eine junge Familie hinein, bei der sich die Eltern gerade trennen. Zwei Wohnungen mit Kinderzimmern können sie sich finanziell nicht leisten, aber ein Wohnungskonzept, das patchworkgeeignet ist – zum Beispiel mit getrennten Eingängen – gibt es nicht. Das Ergebnis: Die Kinder bleiben mit einem Elternteil in der Wohnung leben, das andere Elternteil nimmt sich eine Kleinstwohnung, die Kinder kommen alle 14 Tage am Wochenende zu Besuch und schlafen auf der Couch. Ja, das ist doch normal, werden Sie jetzt vielleicht sagen – aber es ist nicht normal, weil es der Wunsch der Betroffenen ist, sondern weil im Massenwohnungsbau keine Grundrisse geplant werden, die vom tradierten Familienmodell abweichen. Doch ändern würde sich das nur, wenn neben der Imaginationskraft der Architektinnen und Architekten auch die Fördergrundsätze im sozialen Wohnungsbau und die wohnungspolitischen Rahmenbedingungen geändert werden würden – weil Gestaltung eben mehr umfasst als Räume und Dinge.
Selbstdesign Design muss in unserer Zeit aber auch radikal neu gedacht werden, weil sich die Gegenstände der Gestaltung geändert haben. Das Bauhaus, die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, träumten vom »neuen Menschen«, der nun erneut am Horizont erscheint – wenn nicht gleich als Cyborg, als Mischwesen aus Mensch und Maschine, dann doch als halbsynthetisches Produkt zwischen Mind-Enhancement, plastischer Chirurgie und moderner Prothetik. Und wem das immer noch zu abgedreht erscheint, der sei an das Selbstdesign erinnert, das zwischen Fitnessstudio, Anorexie und Selfie-Wahnsinn zur zeitgenössischen Alltagskultur geworden ist. Wir alle sind Designobjekte – und wir alle sind, ob wir es wollen oder nicht, zu den Designerinnen und Designern unserer Selbst geworden. Und das ist gar nicht so einfach, es muss gelernt und geübt werden, sonst drohen die Möglichkeiten des Selbstdesigns in einen Zwang zur Selbstoptimierung abzudriften. Denn es besteht die große Gefahr, dass wir uns mehr und mehr der Smartifizierung unterwerfen, anstatt mit Hilfe der neuen Technologien Momente der Freiheit zu entwerfen.
Wofür 100 Jahre Bauhaus?
Kann uns bei diesen Aufgaben das Bauhaus helfen? Oder, da es das historische Bauhaus ja nicht mehr gibt, zumindest eine Auseinandersetzung mit ihm? Um es gleich vorauszuschicken: Ich habe da so meine Zweifel. Das Bauhaus beziehungsweise die Auseinandersetzung mit dem historischem Phänomen Bauhaus, so scheint mir, hat inzwischen eine rituelle Funktion, nämlich die der Selbstvergewisserung. Das Bauhaus ist Teil der deutschen und westlichen Identitätskonstruktion geworden, Zeuge, dass es nicht nur ein rechtskonservatives, faschistisches und nationalsozialistisches Deutschland gab. Allerorten wird deshalb »das Bauhaus« als Inkorporation oder Emanation des Wahren, Schönen, Guten präsentiert. Übertrieben gesagt: Jede Kleinstadt, in der zwischen 1919 und 1933 ein weißes Haus gebaut wurde, bekommt eine Bauhaus-Plakette. Es stehen große Fördertöpfe bereit, um das überall entdeckte Bauhaus-Erbe für den Tourismus zu erschließen. Diese Vereinnahmung für die nationale Identitätskonstruktion und das regionale Standortmarketing spiegelt nicht unbedingt das wider, was das Bauhaus in seiner Zeit relevant gemacht hat. Nun gut. Gehen wir mit dem Philosophen Theodor Lessing davon aus, dass Geschichte immer im Nachhinein ein Sinn gegeben wird, so wird verständlich, warum die Auseinandersetzung mit dem Bauhaus häufig auch Züge einer Selbstlegitimation trägt. Gegenwärtig sind dabei zwei miteinander konkurrierende Deutungs- und Vereinnahmungsversuche zu erkennen. Auf der einen Seite stehen die kritischen Geister, die ihre eigene Arbeit in eine gesellschaftlich akzeptierte Tradition stellen, um ihre kritische Positionierung zu Gegenwartsfragen unter die Leute zu bringen – das Bauhaus als Trojanisches Pferd. Das ist zwar schlau, bewegt sich aber letztlich auf dem gleichen Niveau wie die andere Form der Selbstlegitimation, der man zurzeit nicht entgehen kann: die Marktschreier der Re-Editionen, die nun – zu 100 Jahren muss man ja was machen – alte Bauhaus-Produkte neu auflegen, schick bedruckt oder in feschen Farben, damit die Lifestyle- und Designmagazine mit Hochglanzfotos kostenlos dafür Werbung machen. Muss das alles wirklich sein? Mein Vorschlag: Lassen wir das Bauhaus doch einfach mal Vergangenheit sein.
100 Jahre Bauhaus, alles umsonst, also? Vielleicht nicht ganz. Ein Hoffnungsschimmer bleibt, dass zwischen allem Getöse doch noch etwas anderes durchscheint, was es lohnenswert macht, sich auch heute noch mit dem Bauhaus auseinanderzusetzen. So ließe sich etwa erfahren, dass es einmal eine Zeit gab, in der man nicht nur mit »Sachzwängen« argumentierte und sich auf die Suche nach der »marktgerechten Demokratie« machte, sondern in der Gestalter glaubten, dass sich die Welt durch ihre Arbeit zum Besseren verändern lässt. Es ließe sich zeigen, dass man unter Design auch mehr verstehen kann als kapitalistische Verkaufsförderung. Nicht zuletzt wird man erkennen, dass das Bauhaus ein Ort war, an dem Menschen aus aller Welt zusammenkamen, um gemeinsam an der Umsetzung einer utopischen Idee zu arbeiten. Zumindest für mich war diese Erkenntnis ausschlaggebend für die Entscheidung, Architektur zu studieren – verbunden mit der Hoffnung, mit Gestaltung, mit gutem Design, die Gesellschaft verändern zu können.
Welche Utopie?
Aber wohin die Gesellschaft verändern? Und was bitte ist gutes Design? Für gutes Design gibt es viele Kriterien. Es kann nach ökologischen, ökonomischen oder ästhetischen Kriterien »gut« sein. Mich interessiert eine andere Perspektive, nämlich die politische. Was ist demnach gutes Design? Die Kriterien sind vielleicht nicht so leicht objektivierbar, denn sie sind abhängig von den normativen Grundlagen und kulturellen Prägungen. Ich würde wahrscheinlich etwas anderes als »politisch gut« definieren als – zum Beispiel – Donald Trump. Um diese Differenz zu präzisieren, habe ich in meinem Buch »Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie« (2016) versucht, eine nachvollziehbare Argumentation zu entwickeln. Sie basiert auf einem einfachen Gegensatz: nämlich dass gutes Design entwerfendes Design sei und das Gegenteil zu unterwerfendem Design; Design also ein Akt der Befreiung aus der Unterwerfung. Und das ist – siehe die oben umrissenen Gestaltungsaufgaben der Gegenwart – auch dringend notwendig. Gerade für diesen Ansatz kann eine Auseinandersetzung mit dem Bauhaus eine wichtige Funktion haben – wenn man das Bauhaus nicht überhöht und glorifiziert, sondern sich mit dem wiederholten Scheitern dieser Hochschule auseinandersetzt. Es muss ja nicht gleich eine neue Gesellschaft sein, die man entwirft. Das 20. Jahrhundert zeigt, dass die großen Entwürfe meist scheitern. Vielleicht reichen ja pragmatische, konkrete Utopien: Verhindern, dass Menschen verhungern. Verhindern, dass Menschen ertrinken. Verhindern, dass unsere Gesellschaft noch chauvinistischer wird und in einen Wohlstandstotalitarismus abrutscht. Verhindern, dass der Mensch zum Gegenstand genetischer und neuropsychologischer Optimierung wird. Dazu braucht es einen Gegenentwurf zu den herrschenden Bedingungen des totalen Kapitalismus, in dem alles und jedes Ware ist und auf seine Verwertbarkeit hin geprüft wird. Es braucht Ausweichräume, in denen Offenheit möglich ist, die Gelassenheit, Menschen einfach etwas machen zu lassen, und der Mut, Ideen auch im Unfertigen, Unbestimmten, aber damit eben auch Offenen zu belassen. Wenn man sich also damit abfindet, statt nach den großen Zukunftsentwürfen die pragmatischen Utopien im Vorhandenen zu suchen, kommen einem die Verkrustungen unserer Demokratie in den Sinn – also die Frage, ob man sich als Designer, als Architektin, als Gestalter, nicht auch den merkwürdig veralteten Repräsentationsformen unserer Demokratie widmen müsse. Nehmen wir die zu »Wahlurnen« umgenutzten Mülltonnen, in die man an Wahltagen seinen Stimmzettel wirft: Ließe sich für die Wahlurne nicht eine Form finden, die dem wichtigen Akt des Wählens angemessen ist? Auch die Form, in der versucht wird, besonders engagierten Bürgerinnen und Bürgern eine Wertschätzung zuteil kommen zu lassen: Noch immer geschieht das häufig durch die Übergabe von Blechkreuzen. Entsprechen Ordensverleihungen, und vor allem der teils intransparente Vorgang der Auswahl der Empfängerinnen und Empfänger, noch heutigen Anforderungen an Kommunikation und Repräsentation? Könnten wir nicht Rituale, Zeremonien, eigene kulturelle Ausdrucksformen entwickeln, die die Demokratie stärker in Wert setzen? Es ist ja nicht so, dass es in unserer Demokratie keine Zeremonien gäbe – man denke nur an das Format »Staatsempfang« –, sie sind nur vielleicht nicht mehr zeitgemäß.
Die To-do-Liste für das Redesign der überkommenen Formen symbolischer Repräsentation von Demokratie ist lang und endet bestimmt nicht bei überdimensionierten Dienstwagen und sinistren Businessanzügen, die nach wie vor zum Repräsentationsrepertoire zu gehören scheinen. Doch wer nun denkt, mein Vorschlag zum Redesign der Demokratie beschränke sich auf die dinglich-materielle Repräsentation, irrt. Es gilt, auch über die Zukunft der Parteien, von Wahlverfahren und über neue Formen der politischen Willensbildung nachzudenken. In einer Zeit, in der milieuspezifische Bindungen an Kraft verlieren und die Bereitschaft sinkt, sich dauerhaft in der Organisationsstruktur »Partei« zu engagieren, während gleichzeitig neue, meist rechtsextreme, nationalistische oder populistische Bewegungen erstarken, ist auch das System der »Repräsentation« kritisch zu befragen. Hier wird es nicht reichen, nur das Mantra von »den Bürger ernstnehmen« zu wiederholen und Formen symbolischer, oberflächlicher Partizipation zu entwickeln. Es braucht die Möglichkeit echter Teilhabe. Warum nicht Räume öffnen, in denen andere, bekannte demokratische Verfahren experimentell weiterentwickelt und neu erprobt werden, vom Rätesystem bis zum Losverfahren? Wenn man an den vorhandenen Strukturen klebt, obwohl man sieht, dass sie teils dysfunktional geworden sind, verspielt man die Errungenschaften unserer Demokratie. Doch Demokratie ist nicht nur ein politisches System, nicht nur eine Verwaltungsform, sondern auch eine Lebenspraxis. Der Alltag ist ein anderes Feld, in dem unsere demokratische Gesellschaft sich weiterentwickeln könnte: Es steht an, auch die Lebenswelt der Vielen weiter zu demokratisieren, also die hierarchischen Strukturen in öffentlichen Institutionen und in Unternehmen aufzubrechen. Denn womöglich ist es der Demokratie nicht zuträglich, wenn man zwar alle vier Jahre wählen gehen darf, aber ansonsten den Großteil seines Alltages in hierarchischen, top-down-organisierten Strukturen verbringt. Also: Warum nicht als pragmatische Utopie die Sicherung und Weiterentwicklung unserer Demokratie in Angriff nehmen?
Ästhetik der Demokratie
Ähnlich wie das Bauhaus einen ästhetischen Ausdruck für seine Zeit gesucht hat, stellt sich auch heute die Frage, was der ästhetische Ausdruck unserer Gesellschaft – oder der Idealvorstellung unserer Gesellschaft von sich selbst – sein könnte. Es ist mit Sicherheit nicht der blitzende Stahl der sogenannten Bauhaus-Möbel. Die Ästhetik der Demokratie der Gegenwart ist sicherlich auch nicht im ästhetischen Minimalismus der Gegenwart zu suchen, der eine seiner Wurzeln ebenfalls im historischen Bauhaus hat. Dass die für den Bedarf breitester Bevölkerungsschichten gedachten Möbel zu Repräsentationsobjekten der Oberschicht wurden, ist eine paradoxe Geschichte, die – was diesen Anspruch angeht – vom Scheitern des Bauhauses zeugt.
Eine zu unserer diversen, demokratischen Gesellschaft passende Ästhetik würde sicher nicht so perfekt, so ausgewogen, so »schön« sein, wie viele der Dinge, die das Bauhaus hervorgebracht hat. Die Ästhetik der demokratischen Gegenwart wäre vielleicht in vielem gerade das Gegenteil zum »Bauhaus-Stil«, weil die Gesellschaft, in der wir heute leben, nicht den Anspruch hat, »perfekt« zu sein und einen »neuen Menschen« zu schaffen. Sie lässt zu, dass Menschen so divers und unterschiedlich sind, wie sie sind, und dass Gesellschaft deshalb zwangsläufig brüchig und widersprüchlich ist. Unsere Gesellschaft versteht diese Widersprüchlichkeit aber als Stärke, weil es Teil ihrer Offenheit ist, das Andere zuzulassen. Diese Haltung findet im Idealfall auch ihren Ausdruck in der Gestaltung. Um nochmal zur Architektur zu kommen: Ein zeitgemäßes Gebäude muss nicht harmonisch, nicht »schön« sein, sondern es kann auch vielfältig, vielstimmig und irgendwie widersprüchlich sein. Gestalterische Prozesse, die Werte und Prinzipien einer Demokratie in den Alltag einzubinden versuchen, erfordern Offenheit. Diese Offenheit, die zulässt, dass Dinge, Strukturen, Zustände verändert werden können, sucht noch ihren spezifischen ästhetischen Ausdruck. Zu diesem Ausdruck, so glaube ich, würde auch ein Moment des Unfertigen, des Unabgeschlossenen gehören, weil das Unfertige ausstrahlt, erlaubt, ja fordert, dass es angeeignet und fortgesetzt wird.
Aber eine solche Ästhetik der Offenheit kann anstrengend sein. Sie ist weder steril noch gemütlich, sondern herausfordernd. Sie widerspricht unseren Sehgewohnheiten. Sie muss deshalb erprobt, geübt werden. Und auch ein Selbstdesign, das Offenheit zulässt, das, um mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach zu sprechen, »porös« ist, will gelernt sein. Und dazu braucht es vielleicht etwas, das für unsere Zeit das sein könnte, was das Bauhaus für seine Zeit gewesen ist. Denn das Bauhaus war vor allem eine Schule, also ein Ort des Lernens, der Übung und des Ausprobierens. Und solche Einrichtungen brauchen wir auch. Natürlich heute ohne Meisterhäuser, ohne Abschlussdiplom und auch nicht nur für Menschen, die eine Berufsausbildung machen müssen. Heute brauchen wir etwas, wo Menschen in jeder Lebensphase für, sagen wir, einen Monat im Jahr hingehen, um ihre alltäglichen Strukturen zu verlassen, andere Erfahrungen zu sammeln. Etwas, wo man sich nicht – wie im Bauhaus – mit Gestaltung aus der Perspektive des Handwerks, der Kunst, der Architektur auseinandersetzt, sondern mit Gestaltung auch aus Perspektive der Informatik, der Biotechnologie, der Neurowissenschaften und vieler anderer mehr. Etwas, wo man sich aber auch mit dem eigenen Körper und dem Miteinander von Menschen und anderen Spezies auseinandersetzt. Etwas, wo der Verzicht auf Konsum geprobt wird. Ich schreibe »etwas«, weil dieses Etwas keinen festen Ort braucht, kein Gebäude, sondern an verschiedenen Orten auftauchen und wieder verschwinden könnte, und weil es keine Einrichtung, sondern sicherlich eine Mehrrichtung wäre. Dieses Etwas wäre ein Übungsraum, offen und unfertig.
Es gibt also genug zu tun – im Großen und im Kleinen, im Utopischen und im Alltäglichen, im Konkreten und im Abstrakten. Nicht weniger als die Demokratie neu zu entwerfen und eigentlich auch ein neues Bauhaus zu gründen, das dann eben nicht mehr »Bauhaus« heißt und sich auch nicht auf das Bauhaus beruft. Und nach all den großen Worten, und der (hoffentlich auch) ermutigenden Perspektive, dass es nicht nur um die großen Utopien, sondern auch um das beständige Üben im Alltäglichen geht, gehe ich jetzt in die Küche und mache endlich den Abwasch.
Dieser Text erschien erstmals in der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte«, Ausgabe 13–14/2019, »Identitätspolitik« vom März 2019. bpb.de
Essay, Fazit 154 (Juli 2019), Foto: Projektbüro Borries
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