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Stadt der Spiele

| 19. August 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 155, Fazitgespräch

Fotos: Marija Kanizaj

Spieleforscherin Johanna Pirker über das Potential von Graz für die internationale Spieleindustrie, Virtual-Reality-Labore an den Schulen und die Bedeutung von Videospielen für völlig andere Branchen.

Das Gespräch führten Volker Schögler und Peter K. Wagner.
Fotos von Marija Kanizaj.

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Geht es nach Johanna Pirker, soll sich in Graz eine Spieleindustrie entwickeln, die es ermöglicht, am riesigen Kuchen der Computerspielbranche kräftig mitzunaschen.

Die im Vorjahr vom Forbes-Magazin geadelte Assistenzprofessorin an der TU Graz erkennt in der steirischen Landeshauptstadt ein enormes Potential mit perfekter Infrastruktur für diese Industrie, deren Größe sträflich unterschätzt wird. Und sie erklärt, warum sie in Harvard ausgerechnet mit Archäologen zusammengearbeitet hat.

Und warum Programmieren und Computational Thinking auf die Stundenpläne unserer Schulen gehören.

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Vor eineinhalb Jahren wurden Sie vom internationalen Forbes-Magazin unter die besten 30 unter 30 gewählt. Und erhielten erst dadurch auch in Österreich viel Aufmerksamkeit. Gilt der Prophet im eigenen Land nichts, ehe er im Ausland entdeckt wird?
Ich weiß nicht, ob das mit der Forschung oder der Qualität zu tun hat. Ich würde mir allgemein für die Zukunft wünschen, dass die Forschung selbst als Werk und die Forscher als Personen mehr gefeiert werden.

Ist das nicht eine Frage der PR und des Marketings der Hochschulen?
Es gab vorher schon Pressemeldungen über meine Aktivitäten, aber Forbes hat die Aufmerksamkeit gebracht, was die These mit dem Propheten bestätigen würde. Ich glaube schon, dass sich gerade die lokalen Medien mehr in der Region umsehen sollten.

Auf Ihrem Schreibtisch im Büro sieht man einen Controller für eine Spielkonsole ebenso liegen wie VR-Brillen. Einen Arbeitsplatz wie diesen würden sich viele videospielaffine Menschen wünschen. Aber wie kann man sich den Alltag von Ihnen vorstellen?
Ich kann schon ehrlich sagen, dass ich versucht habe, mein Hobby zum Beruf zu machen. Spiele waren mir schon immer extrem wichtig und es hat mich etwa frustriert, dass Spiele nicht als das wahrgenommen wurden, was ich in ihnen gesehen habe. Ich habe mit drei Jahren meine ersten Videospiele gespielt.

Am DOS-Computer des Vaters »Prince of Persia« …
Genau. Ich bin von vielen Seiten als Nerd bezeichnet worden, aber für mich waren Spiele immer mehr. Wenn ich ganz ehrlich bin, will ich das auch aufzeigen. Es ein extrem interessantes Forschungsgebiet. Wenn ich mir ein großes Videospiel anschaue: Das motiviert Millionen von Menschen. Wenn ich beispielsweise mittels Datenanalyse herausfinden kann, warum das so ist, kann ich mit denselben Mechaniken, die aus dem Gamedesign bekannt sind, etwa Therapien oder Lernen interessanter gestalten. Das sind nur zwei der vielen Potentiale.

Welche Spiele liefern aktuell wichtige Erkenntnisse, weil sie unheimlich beliebt sind?
Wir haben zum Beispiel in meiner Branche viel mit »Destiny« gearbeitet, ein Open-Online-Shooter, wo Menschen gegeneinander spielen können. Aber gerade die Multiuser-Spiele wie »Fortnite« sind auch ein gutes Beispiel.

Und was sagen diese Spiele über die Gesellschaft?
Es gibt extrem hohes Interesse, dass man miteinander oder zumindest in sozialen Konstruktionen spielt. Das finde ich total schön und spannend. Ich werde öfter von beunruhigten Eltern gefragt, warum Kinder mit diesen Spielen so viel Zeit verbringen. Die heutigen Teenager haben kein Facebook-Konto mehr, das ist unfassbar alt und out. Es werden Technologien wie Instagram verwendet – oder man spricht mit Kollegen aus der Schule oder Freunden mittels »Fortnite«. Das gilt für Burschen wie für Mädchen. Früher waren es Telefone, dann kamen Dinge wie der Ö3-Chat auf und noch zuletzt der Facebook-Messenger – und die aktuelle Generation tauscht sich eben lieber über ein interaktives Medium aus.

Spiele wie »Fortnite« und »Destiny« sind furchtbar – es geht dabei um Krieg und Menschen abschlachten.
Es ist eher teilweise wie Versteckenspielen …

… mit tödlichem Ausgang.
Es geht nicht darum, dass jemand tot ist, aber es ist ein Action-
spiel, ja. Es ist eher wie beim Versteckenspielen: Die erste Person, die ich gefunden habe, ist weg. Sie ist deshalb aber nicht tot.

Bei »Destiny« geht es aber definitv darum, andere Leute zu erschießen. Warum ist dieses Genre noch immer so beliebt?
Ich vergleiche die Spielindustrie gerne mit der Filmindustrie. In der Filmindustrie gibt es extrem viele Actionfilme, aber auch Dokumentarfilme oder Dramas. Die Spielindustrie kennt dieselben Formate. Die aktuelle gesellschaftliche Debatte bezieht sich stets auf Actionspiele, das wäre dasselbe, wenn man sagen würde, Actionfilme dürfen nicht mehr angeschaut werden, weil sie gewaltverherrlichend sind. Die Spielindustrie wird außerdem wesentlich bunter. Es wurden – ähnlich wie in der Filmindustrie – Möglichkeiten geschaffen, damit Spiele leichter entwickelt werden können. Man kann es sich etwa vorstellen wie Youtube, wo billiger werdendes Kameraequipment für immer mehr Videos gesorgt hat. Heute können auch Einzelteams oder -kämpfer Spiele entwickeln.

Welche Spiele entstehen dabei?
Ein Spiel, das ich sehr wichtig finde, ist »Path Out« – ein österreichisches Indiegame. Das Spiel kann gratis auf der Plattform »Steam« gespielt werden und dauert etwa ein oder zwei Stunden. Ich spiele extrem viel und gerne, aber für mich ist es wie Lesen oder Fernsehen, daher ist gerade diese Spiellänge auch interessant.

Fotos: Marija Kanizaj

Was macht dieses Spiel bedeutsam?
Der Hauptentwickler ist der syrische Flüchtling Abdullah Karam. Er kam 2014 nach Österreich und erzählt über das Videospiel, welche schwierige Reise er hinter sich hat. Ein Film ist extrem emotional, aber man ist nicht selbst die Person. Bei »Path Out« laufe ich mit Abdullah durch einen Wald, begegne einer Person und werde plötzlich erschossen. In diesem Moment poppt ein Realvideo von Abdullah auf, der sagt: »Wenn ich im realen Leben so ungeschickt gehandelt hätte wie du in meinem Spiel, wäre ich nicht mehr am Leben.« Aus diesem Grund werden Spiele und Virtual Realities oft als Empathiemaschinen bezeichnet. Solche Erfahrungen können uns eine Idee geben, wie es wäre, in Schuhen von anderen zu laufen. Spiele können mich noch trauriger machen als Filme. Bei VR muss man eigentlich schon aufpassen, was man sich selbst zutraut.

Sie erlebten mit Ihren jungen 31 Jahren bereits eine beeindruckende Karriere, sind nicht nur an der TU Graz angestellt, sondern auch als Vortragende auf der ganzen Welt gefragt – bis nach Harvard. Hatten Sie auf Ihrem Karriereweg besondere Förderer?
An das MIT bin ich über meinen Dissertationssupervisor Christian Gütl gekommen. Er war mein Masterarbeitsbetreuer und hatte die Kooperation mit dem MIT aufgebaut und mich dorthin geschickt. Mit dieser Offenheit gegenüber Internationalisierung hat er mich gefördert. Ich habe aber auch selbst Initiative gezeigt ins Ausland zu gehen, Neues zu lernen, zum Beispiel durch die Arbeit bei Electronic Arts oder den Unterricht an deutschen Unis, das waren Projekte von mir. In Harvard habe ich mit Archäologen zusammengearbeitet, in Berlin auch.

Warum Archäologen?
Die von mir verwendeten Tools sind auch für andere Dinge praktisch, z. B. für den medizinischen Bereich oder den kunsthistorischen oder eben den archäologischen. Denn damit kann ich digitalisieren, das heißt ich kann mit den gleichen Tools, mit denen ich eine Spielumgebung erstelle, eine Ausgrabungsstätte darstellen. Ich habe ein Lehrkonzept entwickelt, mit dem man ohne Programmierkenntnisse kleine digitale virtuelle Museen erstellen kann. Ich kann etwa ein Fundstück 3-D-scannen und digitalisieren. Das bringe ich in eine Spieleentwicklungsumgebung, eine sogenannte Gameengine, und kann das so wie ein Spiel veröffentlichen, damit es Menschen auf der ganzen Welt über einen Webbrowser spielen können. Dieses Konzept habe ich etwa in Harvard unterrichtet.

Wie weit ist diese Entwicklung in der Praxis bereits gediehen?
Archäologische Institutionen verwenden tatsächlich bereits Spiele-Engines, um alte Gebäude oder Ausgrabungsstätten digital erlebbar und immersiv zu machen, das heißt, das Gefühl zu vermitteln, völlig eintauchen zu können. Die VR-Brillen werden bald noch flexibler werden, nicht an Kabel gebunden, mit einer Art Handschuh bekomme ich ein Druckfeedback. Visuell und beim Sound sind wir schon sehr weit, aber spannend kann es auch werden, wenn wir zum Beispiel Gerüche wahrnehmen können. Dieser Bereich steckt aber noch in den Kinderschuhen.

Wie weit ist denn jetzt nach rund eineinhalb Jahren das »physikalische Klassenzimmer Maroon« gediehen, das Grund für Ihre Forbes-Auszeichnung war?
Wir sind im Entwicklungsstadium, waren jetzt zum ersten Mal an den steirischen Schulen, wobei es uns wichtig ist, zuerst zusammen mit den Schülern und Lehrern zu optimieren, bevor es sozusagen in die Masse geht. Das interaktive Physikklassenzimmer ist bei der Zielgruppe jedenfalls gut angekommen und wir sind in Phase 2, wo das Feedback umgesetzt werden soll. Es ist aber nicht nur ein Physikklassenzimmer, es soll auf Chemie und Computerscience, also Informatik, erweitert werden.

Wie digital sollte die Zukunft der Schulen sein?
Mein Wunschszenario wäre, dass es so, wie es ein reales Physiklabor und ein reales Chemielabor gibt, an jeder Schule auch ein Virtual-Reality-Labor mit VR-Brillen und -Setups gibt, wo die Schüler in Projektstunden oder vielleicht auch nach der Schule hingehen und selbständig lernen können. Virtual Reality hätte den Vorteil, dass einerseits Experimente gezeigt werden können, die in einem realen Labor zu teuer, zu gefährlich oder gar nicht durchführbar sind. Andererseits kann man mit diesen Setups auch völlig andere Erfahrungen machen: Man kann zum Himalaya und man kann die Maya-Stätten besuchen, das heißt, das Labor wäre nicht nur für den Physikunterricht interessant, sondern für alles Mögliche, es ist fast grenzenlos.

Konnten Sie von den amerikanischen Universitäten zusätzlich etwas mitbringen, das auch bei uns umsetzbar ist?
Doch, ich habe dort das erste Mal Hackathons und Gamejams gesehen. Das sind Events, wo es darum geht, zusammen mit 30, 40 Leuten aus ganz verschiedenen Disziplinen an bestimmten Problemstellungen zu arbeiten und innerhalb von 48 Stunden in Kleingruppen ein Spiel zu einem bestimmmten Thema oder Begriff, wie zum Beispiel »Superpower«, zu entwickeln. Solche Gamejams und Hackathons veranstalten wir jetzt alle drei bis sechs Monate auch hier bei uns. Ziel ist es immer, einen Spieleprototypen zu entwickeln.

Sollte Programmieren auf dem Stundenplan aller Schule stehen?
Ja, auf jeden Fall, das ist uns ein großes Anliegen. Programmieren und Computational Thinking wird immer wichtiger, deshalb ist es gut, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man mit Strukturen, die wir auch in der Programmierung verwenden, arbeiten kann. Zum Beispiel, wie kann ich sortieren, wie arbeitet ein Computer – das ist eine Denkweise, die ein bisschen anders ist, aber nicht nur für das Programmieren wichtig und spannend. Das gehört früh genährt. Für mich ist Coding das Schönste, was man machen kann. Ich kann meine Gedanken interaktiv begehbar machen und das ist eigentlich ziemlich cool.

Haben Sie Mathematik in der Schule gemocht? Und hätten Sie einen Tipp für Schüler, der dem meistgefürchteten Schulfach zumindest teilweise den Schrecken nimmt?
Ich war nicht übernatürlich begabt und habe in der Schule noch nicht verstanden, wo überall man die Mathematik verwenden kann. Ich glaube, es gibt da extrem viel Nachholbedarf, was die Kommunikation bezüglich Mathematik und auch Programmieren anbelangt. Mir hat erst die – zugegeben sehr attraktive – Spieleentwicklung eine erste Idee gegeben, wofür ich mathematische Konzepte und Programmieren verwenden kann. Und die Anwendungsgebiete für Mathematik wie auch Coding umfassen alle möglichen Disziplinen und Interessen und sind äußerst weitreichend. Deshalb lade ich Schüler ganz gern hierher ein und habe aktuell auch fünf Praktikantinnen, um ihnen einen Einblick zu geben.

Fotos: Marija Kanizaj

Was sind Ihre Zukunftspläne und welche Rolle spielt Graz dabei?
Ich sehe schon viel Sinn in dem, was ich mache. Natürlich könnte ich in die Industrie gehen, ins Ausland gehen, aber ich möchte lieber hier etwas Großes aufbauen. Ich möchte an der TU Graz die Gamesforschung und Gameslehre weiterbringen und glaube, dass ich dabei gut als Multiplikator fungieren kann. Und ich will auch, dass auf der einen Seite die Spiele von mehr Menschen so wahrgenommen werden wie von mir und dass deswegen auf der anderen Seite die Spieleindustrie in Österreich und vor allem in der Steiermark einen großen Platz einnehmen kann. Vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus sehe ich eine Megaindustrie, warum sollen wir da kein Stück vom Kuchen kriegen? Gerade in Graz haben wir das Megapotential. Wir haben eine verdammt gute technische Uni, wir haben verdammt gute Einrichtungen für die künstlerischen Aspekte, wie 2D-Grafiken oder 3D-Modellieren, wir haben großartige musikalische Ausbildungsstätten – wichtig für die Audiokomponente von jedem Spiel – und wir haben interessante Business-Ausbildungsstätten. Das heißt, wir hätten eine perfekte Infrastruktur für diese Industrie. Das möchte ich so weit wie es geht unterstützen.

Was wird diesbezüglich unternommen?
Wir veranstalten zum Beispiel schon zum fünften Mal die österreichweit größte Spielentwicklerkonferenz in Graz, das sind die jährlichen internationalen »Game Dev Days«, heuer von 6. bis 8. September. Die Konferenz ist gratis, aus Raumgründen auf 500 Personen limitiert, wir haben internationale Speaker von sehr bekannten Spielen, sowohl von Triple-A-Spielen als auch von Indie-Spielen. Wir zeigen aber auch die Entwicklungen in Österreich, die Entwickler selbst, auch die Spiele werden ausgestellt. Mit der Etablierung dieses Events können wir zeigen: Es gibt eine Szene, die Szene wächst und sie produziert verdammt gute Sachen.

Hätten Sie ein Beispiel?
Zum Beispiel hat einer unserer Studenten einen internationalen Apple-Design-Award gewonnen, das ist eine von den Megaauszeichnungen, die es überhaupt gibt. Die Ironie ist, dass dieser Award international beachtet wird, bei uns aber untergeht.

Wer ist das?
Das ist Klemens Strasser, ein Indie-Developer, ein Einzelkämpfer, der mit »Subwords« ein Spiel kreiert hat, das aktuell in jedem Handy vorinstalliert ist – egal in welchen Applestore weltweit man geht. Oder ich denke an den sehr bekannten Mario Zechner, der eine eigene Spiele-Engine entwickelt hat, die weltweit verwendet wird. Im Übrigen sitzt mit »Bongfish« auch das größte österreichische Spieleentwicklungsunternehmen in Graz. An diesen Beispielen sieht man, wie stark die Szene bei uns schon ist.

Also ist hierzulande Graz und nicht etwa Wien das heimliche Mekka der Branche?
Deshalb ist es für mich auch viel reizvoller, mich hier als Multiplikator einzubringen, statt ins Ausland zu gehen und mit vorhanden Ressourcen zu arbeiten. Wenn man bedenkt, dass die Computerspielbranche mittlerweile höhere Umsätze erzielt als die Filmindustrie Hollywoods, ist das eine Riesenchance für Graz.

Frau Pirker, vielen Dank für das Gespräch!

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 Johanna Pirker wurde am 26. Juni 1988 geboren. Nach der Schulzeit in Graz studierte Pirker an der TU Graz und machte ihre Masterarbeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Nach dem Doktorat an der TU Graz, erhielt sie eine Assistenzprofessur an der Hochschule am Institut für interaktive Systeme und Datenwissenschaften. 2018 wurde sie vom internationalen Forbes-Magazin unter die besten 30 unter 30 gewählt.

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Fazitgespräch, Fazit 155 (August 2019), Fotos: Marija Kanizaj

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