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Sozialismus? Natürlich!

| 30. Oktober 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 157

Foto: Helena WimmerEin Essay von Robert Misik. Ein wildgewordener Kapitalismus zerstört Leben, macht uns zu Konkurrenzzombies und ruiniert den Planeten. Reicht es, ihn zu zähmen? Wir brauchen wieder eine klare Alternative als Ziel.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Robert Misik, geboren 1966 in Wien, ist Journalist und politischer Autor. 2009 veröffentlichte er »Politik der Paranoia«, im selben Jahr erhielt er den Staatspreis für Kulturpublizistik. Für den Standard produzierte er von 2008 bis 2019 einen wöchentlichen Video-Podcast. Sein nächstes Buch »Die falschen Freunde der einfachen Leute« erscheint in Kürze bei Suhrkamp. Robert Misik bloggt regelmäßig unter misik.at

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Die Kritik am Kapitalismus ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Er gibt ja auch zu verschiedenen Spielarten der Wut Anlass. So lässt er die Schere zwischen Armen und Reichen immer mehr aufgehen, und er produziert Mangel und Not inmitten des größten Reichtums. Aber er hat auch Effekte auf unser Leben: Er macht Menschen zu Wettbewerbszombies, alles wird nur mehr nach dem ökonomischen Vorteil beurteilt. Und alles, was er nicht profitabel verwerten kann, ruiniert er, von – aus seiner Sicht – »unnützen Menschen«, über jene Sparten der Kultur, die nicht zur Ware gemacht werden können bis zur Umwelt, die er verpestet, weil es ihn ja nichts kostet (während Klimaschutz teuer wäre).

Aber all diese Kritiken am Kapitalismus haben auch ein paar Probleme. Erstens: natürlich hat der Kapitalismus auch seine positiven Seiten. Er hat über die Jahrhunderte den Wohlstand explosionsartig vermehrt, ihm wohnt ein Stachel zur Innovation inne, wer nicht rennt wie im Hamsterrad der wird untergehen, und das macht ihn auch erfolgreich. Zweitens: Gerade weil er Menschen in seinem Sinne zu Wettbewerbszombies ummontiert, die perfekt in seiner Logik funktionieren, sind viele Menschen sogar mit dieser Welt in einem gewissen Sinne zufrieden, sie machen freudig mit. Vor allem aber: es gibt, anders als in früheren Zeiten, keine realistische Alternative zum Kapitalismus im Angebot. Man könnte auch sagen: sogar seine Kritiker glauben nicht daran, dass er durch etwas Funktionstüchtigeres ersetzt werden kann.

»Wahrscheinlich haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemals so viele Menschen gleichzeitig über die sozialen und politischen Folgen empört, die mit der global entfesselten Marktökonomie des Kapitalismus einhergehen«, schreibt der Frankfurter Philosophieprofessor Axel Honneth in seinem Buch »Sozialismus«, und weiter: »Andererseits aber scheint dieser massenhaften Empörung jeder normative Richtungssinn, jedes geschichtliche Gespür für ein Ziel der vorgebrachten Kritik zu fehlen, sodass sie eigentümlich stumm und nach innen gekehrt bleibt (…); man weiß zwar ziemlich genau, was man nicht will und was an den gegenwärtigen Sozialverhältnissen empörend ist, hat jedoch keine auch nur halbwegs klare Vorstellung davon, wohin eine gezielte Veränderung des Bestehenden« führen sollte.

Intellektuelle Antikapitalisten haben daher oft etwas Nörglerisches. Man findet das Existierende schlecht, aber wie es besser ginge und wie man vor allem realistisch zu etwas Besserem käme – Sendepause. Radikale antikapitalistische Aktivisten findet man nicht allzu viele und sie strahlen deshalb etwas Verlorenes aus, so ähnlich wie Leute, die gegen Windmühlen kämpfen. Und die Sozialdemokraten und andere demokratische Sozialisten haben sich längst damit abgefunden, den Kapitalismus zu »zähmen«, also seine ärgsten Übel abzufedern, durch Sozialmaßnahmen, Umverteilung, Regeln da und Regeln dort, durch Tarifverträge usw. Diese Zähmung gelang zeitweise ja ganz gut, funktioniert letztlich bis heute und ist überdies auch noch zum Vorteil des Kapitalismus selbst, der davon profitiert, wenn kluge Politik seine selbstzerstörerischen Tendenzen abfedert und für stabile Prosperität sorgt statt für dauerndes Krisen-Auf-und-Ab. Das Problem dabei ist nur: Wenn man keine großen Ziele mehr hat, funktioniert auch das mit der Zähmung schlechter.

Wir sehen aber heute auch deutlicher, wie begrenzt die Möglichkeiten der Zähmung sind, und zwar nicht nur da, wo der Kapitalismus die ärgsten Verheerungen anrichtet, sondern auch in den gut funktionierenden Gesellschaften etwa Westeuropas. Irre gewordene Finanzmärkte hätten das System beinahe zum Einsturz gebracht wie ein Kartenhaus. Während für wichtige soziale Aufgaben, für Lohnsteigerungen, für Renten, für ordentliche Pflege angeblich nie Geld da ist, standen für die Banken und Investmenthäuser über Nacht Phantastilliarden bereit, um einen Kollaps zu vermeiden. Immer mehr Menschen müssen sich auf immer instabileren Arbeitsmärkten durchschlagen, mit prekären Jobs. Müssen zehn Stunden arbeiten, Extraschichten und Überstunden schieben, um den Standard gerade noch zu halten. In das Leben vieler Familien schleicht sich immer mehr Stress ein. Die Frauen machen morgens Schicht, die Männer Spätschicht, die Kinder werden gerade so geschaukelt. Die Mietkosten steigen jedes Jahr, Immobilienpreise schießen durch den Himmel. Wer über fünfzig Jahre alt ist, wird aussortiert, zum alten Eisen. Sehr viele Menschen wissen, dass sie austauschbar sind. Viele werden einfach ausgetauscht und weggeworfen. Sie erfahren nicht nur ökonomischen Abstieg, sondern damit auch Respektlosigkeit, werden als wertlos abgestempelt. In den Gemeinschaften, den Vierteln, in den Straßenzügen, leben die Leute nur mehr nebeneinander her, weil jeder nur mehr um sich selbst kämpft. Letztlich sogar in den Betrieben, wo die Kollegialität abnimmt, wenn jeder nur darauf achtet, selbst zu überleben. Und zudem huldigt das System einem Wettbewerbsindividualismus, der fragwürdige Seiten in den Menschen fördert, etwa, dass man sich dauernd mit anderen vergleicht, permanent auf 150 Prozent läuft, um nur ja nicht ins Hintertreffen zu gelangen; oder die Tugend einer absoluten Unabhängigkeit, die Bindungen verkümmern lässt. In einer solchen Kultur ist der Nachbar entweder ein Konkurrent, also eine Gefahr, oder jemand, der einem ökonomisch nützlich sein könnte, also jemand, den man nur nach materiellen Nützlichkeitserwägungen betrachtet. Eigentlich eine Horror-Kultur. Einkommen stagnieren, wegen der internationalen Konkurrenz. Überall gibt es schließlich jemanden, der es billiger machen würde als du.

Sehr viele Menschen sehen das so. Man muss nur mit den berühmten »einfachen Leuten« gelegentlich plaudern, dann merkt man, dass die in dieser Hinsicht sehr viel »linker« sind, als man denkt. Sogar Arbeiter, die rechtspopulistische Parteien wählen, tun das oft, weil sie meinen, dass in unserer Welt die normalen Arbeiter nichts mehr zählen, dass sie nicht geachtet werden, dass nur mehr das Geld zählt, jeder nur mehr eine Nummer ist und es keine Menschlichkeit mehr gibt.

Eric Olin Wright, ein linker amerikanischer Wissenschaftler, der mit seiner großen Studie über »Reale Utopien« ein wichtiges Standardwerk progressiver Politikkonzepte geschrieben hat, verfasste kurz vor seinem Tod im vergangenen Januar noch eine Art kleines Manifest: »How to be an Anticalitalist in the 21st Century« – »Wie man im 21. Jahrhundert ein Antikapitalist sein kann.« Wright unterscheidet – jetzt einmal abseits von der bloßen Kritik am Kapitalismus – historisch mehrere Strategien des Antikapitalismus. Ihn zu »zerstören« (so hat man sich das mit den gewaltsamen Revolutionen vorgestellt), ihn »überwinden«, ihn »zähmen«, sich ihm einfach zu »widersetzen« oder ihm zu »entfliehen« (also etwa nach der Art von Hippies, die auf einem Selbstversorgerbauernhof aus dem »System« aussteigen).

Wright schwebt als realistische, aber auch erstrebenswerte Strategie eine Mischung aus »Zähmung« und »Überwindung« vor. Und dafür gibt es ja auch schon in existierenden Gesellschaften Ausgangspunkte. Denn eine »kapitalistische Gesellschaft« – also die Gesellschaften, in denen wir leben – ist ja nicht durch und durch kapitalistisch. Es gibt private Unternehmen und große globale Konzerne, aber die sind auch Regeln unterworfen. Und es gibt noch einen öffentlichen Sektor, der zwar nicht völlig jenseits dieses Gewinn-und-Verlust-Systems existiert, aber dennoch anderen Regeln folgt. In Wirklichkeit spielt sich ein wesentlicher Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten in diesen Sektoren ab, man denke nur an die Schulen und das gesamte Bildungssystem, den öffentlichen Verkehr, die Strom- und Gasnetze, die öffentliche Infrastruktur bis hin zur Bahn, von der Abwasserwirtschaft bis zum Gesundheitssystem und den Pflegediensten, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zu den ganzen Investitionen des Staates in Forschung und Entwicklung, ohne die kaum eine privatwirtschaftliche Firma irgendetwas »erfinden« könnte. Das ist heute schon ein riesiger gemeinwirtschaftlicher Sektor den die Autoren eines jüngst erschienenen Suhrkamp-Bandes »Fundamentalökonomie« nennen. Der deutsche Wirtschaftsforscher Wolfgang Streeck nennt das, etwas ironisch, den »alltäglichen Kommunismus«, der den alltäglichen Kapitalismus trägt. Hinzu kommen Sektoren, die den Markt massiv beeinflussen oder sogar ausschalten, wie etwa der starke kommunale Wohnungsbestand in Wien, oder jene Institutionen, die brutale Resultate von Marktgeschehnissen abfedern, wie die Arbeitslosen- und Rentenversicherungen und vieles mehr. Altenheime, Museen, Theater, eine endlose Liste von Dingen, die entweder vom Staat, von gemeinnützigen Vereinen oder anderen Trägern betrieben werden.

Nun machen solche Sektoren der Gemeinwohlwirtschaft aus einem Kapitalismus noch keinen Sozialismus und auch keinen sonstigen -ismus. Oft bleibt es bei einem Tropfen auf dem heißen Stein. Vielleicht ist es heute wieder an der Zeit, sie im Kontext antikapitalistischer Strategien zu denken. Denn der Radius dieser Maßnahmen kann natürlich ausgebaut werden. Sie können durch noch mehr kommunalen Wohnbau ergänzt und durch rigide Regulierungen bei Mietpreisen im privaten Wohnungsbestand ergänzt werden; sie können sogar, wie seinerzeit im Roten Wien, mit hohen Steuern für private Besitzer einhergehen, Gelder, die man dann wieder zum Bau städtischer Wohnungen benützt – womit graduell die Marktkräfte am Immobilienmarkt ausgeschaltet werden. Große Unternehmen können durch Betriebsverfassungen dazu gezwungen werden, die Beschäftigten am Management zu beteiligen. Genossenschaften können gefördert werden, ein dritter Sektor, und gemeinwohlorientierte staatliche Banken können gerade diese Sektoren besonders unterstützen. Jährliche tarifliche Lohnerhöhungen können auch so gestaltet werden, dass die Beschäftigten einerseits mehr Geld erhalten, aber auch Anteile am Unternehmen, sodass nach einigen Jahrzehnten langsam die Unternehmen in den realen Co-Besitz ihrer Beschäftigten übergehen – ein solcher Plan wurde in Schweden vor einigen Jahrzehnten unter Premierminister Olaf Palme ausgearbeitet, er blieb aber leider in den Kinderschuhen stecken. Eine Reihe wichtiger öffentlicher Dienstleistungen können gratis bereit gestellt werden, wie heute schon die Schulen – die Kindergärten, der öffentliche Verkehr und vieles mehr. Non-Profit-Unternehmen, etwa Konsumgenossenschaften, können in Stellung gebracht werden, den großen Handelsmultis Konkurrenz zu machen. Gesetze wie das Angestelltengesetz können so gestaltet werden, dass Auswüchse an Ausbeutung, wie wir sie heute erleben, einfach nicht mehr möglich sind und Beschäftigte wieder einer sicheren Boden unter den Füßen haben. Eine Erbschaftssteuer kann eingeführt und sogar so gestaltet werden, dass sie die Übergabe kleinerer Unternehmen in den gemeinsamen Besitz der Beschäftigten anstachelt. Es gibt also tausend Möglichkeiten, wie in kleinen kumulativen Effekten die Logik kapitalistischer Konkurrenzökonomie gegenüber einer gemeinwohlorientierten Ökonomie zurück gedrängt werden kann, sodass das alltägliche Leben der Menschen nicht mehr nur vom Wettstreit im Hamsterrad und vom Kampf jeder gegen jeden geprägt ist; sodass am Ende eines schleichenden Prozesses eine andere Konfiguration des Lebens steht. »Die kumulativen Effekte dieses Zusammenspiels zwischen Wandel von oben und Initiativen von unten können einen Punkt erreichen, bei dem die sozialistischen Beziehungen innerhalb eines ökonomischen Ökosystems so tragfähig und so bestimmend für die Leben der Individuen und der Gemeinschaften werden, dass der Kapitalismus nicht mehr dominant ist«, schreibt Eric Olin Wright.

Ein solches Ziel wäre nicht nur erstrebenswert, es hätte sofort eine Reihe positiver Aspekte. Erstens gäbe es mit einem mal wieder ambitionierte politische Konzepte, für die es sich zu begeistern lohnt. Viel zu lange haben sich progressive politische Kräfte damit begnügt, »das Schlimmste zu verhindern«, und dabei vergessen, dass Menschen auch gerne ein Ziel haben, das ihnen plastisch vor Augen führt, dass die Welt von morgen eine bessere sein könnte als die von heute. Statt Angst wäre Hoffnung plötzlich wieder eine politische Energie – und die ist das beste Gegenmittel gegen radikale Nationalisten.

Und es kommt noch etwas hinzu: Früher hatten sozialdemokratische Parteien immer Angst, mit radikalen Ideen moderate Wähler verschrecken zu können. Aber heute ist es eher umgekehrt: Wegen des Mangels ambitionierter Ziele glaubt man ihnen im Grunde nicht mehr, dass sie wirklich etwas Signifikantes gegen einen wild gewordenen Kapitalismus ausrichten können – und deswegen verlieren sie an Zuspruch. So etwas wie eine »gemäßigte Radikalität« würde dagegen deutlich machen, dass die verschiedenen Spielarten des demokratischen Sozialismus auch heute noch eine Idee haben, wie sie die Lebenswirklichkeiten der normalen Menschen nachhaltig verbessern können.

Der vorliegende Text ist am 26. September dieses Jahres auf der Webseite des Autors erschienen. Wir danken für die freundliche Genehmigung, ihn abdrucken zu dürfen. misik.at

Essay, Fazit 157 (November 2019), Foto: Helena Wimmer

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