Zur zweiten Schuhchance
Volker Schögler | 30. Oktober 2019 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 157, Fazitbegegnung
Franziskanergasse. Allein das Wort hat so heiliges, so historisches Gewicht, dass man es nur mit Füllfeder schreiben dürfte, mit königsblauer Tinte. Selige Zeiten, brüchige Welt, der Pferdefleischhauer ist längst weg, der Schuster – er hat nur die Straßenseite gewechselt?
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Tatsächlich, auf Nummer 3 baumelt ein Schild: Schuhmacherei. Da lacht das Herz des Flaneurs, des Flagellanten und Flegels, des Bildungsbürgers, des Bohemiens, kurz, aller Träger und Trägerinnen abgetragenen Schuhwerks. Es ist noch nicht zu Ende, eine zweite Chance für die Schuhe!
Schuster stehen schon lange auf der Roten Liste, die letzten ihrer Art sind in der Grazer Innenstadt an zwei Fingern abzuzählen. Brigitte Pucher hat ihr Handwerk ab 1984 bei Humanic erlernt, als in der ehemaligen Schuhfabrik noch zweieinhalbtausend Leute allein in der Produktion tätig waren. Als das Werk 1992 zugesperrt wurde, übernahm sie zuerst die Schuhreparaturen von Humanic, in der Folge auch von Salamander, von GEA, von Geox und anderen Händlern und dann den Laden in der Franziskanergasse. Seit dem 1. Mai 2005 stehen die Kunden bei ihr Schlange – eine erfreuliche Entwicklung im Sinne von Nachhaltigkeit, wenn man bedenkt, dass der Schuh schon lang zum Wegwerfprodukt verkommen ist. Die Kundschaft rekrutiert sich aus allen Altersklassen, sämtliche Lederwaren, vom Gürtel bis zur Lederjacke, werden hier repariert, auch Schuhe vom Flohmarkt sind da schon einmal dabei.
Wie die Kundschaft überhaupt hin und wieder etwas ungewöhnliche Vorstellungen von der Serviceleistung eines Schusters hat. Etwa jener junge Mann, der sich einen Hosenknopf annähen ließ, oder jene Dame, die den Riss in ihrem Küchenhandschuh aus Gummi repariert haben wollte. Schusterin Pucher macht das. Ohne lang zu fragen. Weil sie es kann und weil sie es gern tut. Und weil der Ein-Frau-Betrieb über äußerst kompetente Unterstützung verfügt. In Umkehrung der alten Halbweisheit, dass hinter jedem erfolgreichen Mann eine Frau steht, steht hinter Frau Pucher Herr Pucher. Er fährt im Morgengrauen aus der Stattegger Werkstatt mit dem Auto in die winzige Gasse und beliefert den winzigen Laden mit den instand gesetzten Schuhen – und das sind pro Tag zwanzig bis dreißig Paar. Herr Pucher ist Schuhmachermeister und war ebenfalls bei Humanic beschäftigt, als sich die beiden kennenlernten. Seine Maschinen zur Bearbeitung der Schuhe hätten in der 20 Quadratmeter kleinen Franziskanergassen-Räumlichkeit keinen Platz. Hier steht nur eine massive, alte Adler-Nähmaschine mit Freiarm, mit der Frau Pucher die Werkstücke an allen möglichen und unmöglichen Stellen nähen kann – wahlweise mit Strom oder Pedalantrieb.
Zu den häufigsten Reparaturen zählen natürlich Absätze und Sohlen. Bei ersteren muss man mit 10 bis 20 Euro rechnen, neue Sohlen beginnen bei 18 Euro, können aber je nach Aufwand und Ausführung – etwa bei Bergschuhen – auch 50 Euro kosten. Vergleichsweise hat Brigitte Pucher moderate Preise, weil sie a) ohne angestellte Mitarbeiter der Lohn- und Lohnnebenkostenschere entgeht und b) unter die Kleinunternehmerregelung fällt, somit nicht mehrwertsteuerpflichtig ist und diese Steuer daher auch nicht an die Kunden weiterverrechnet.
Die gelernte Schuhmacherin, wie es korrekterweise anstatt Schuster heißt, empfiehlt zur Schuhpflege schlicht die gute, alte, fette Schuhcreme. Neben diversem Zubehör wie Schuhbändern, Pflegemittel, Einlagen oder Lederwaren wie Geldtaschen bietet sie noch ein besonderes Service: die Reparatur von Schirmen. Außer donnerstags, da ist sie bei ihren zwanzig Kühen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
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Brigitte Pucher wurde am 17. September 1969 in eine Semriacher Bauernfamilie geboren und ab 1984 bei Humanic zur Schuhmacherin ausgebildet. Sie betreibt ihr Geschäft in Graz seit 15 Jahren und lebt mit ihrem Ehemann Erwin auf einem Bauernhof, von dem sie jeden Tag 10 Kilometer mit dem Fahrrad in die Stadt und wieder zurück fährt. Pucher hat zwei Kinder.
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Fazitbegegnung, Fazit 157 (November 2019) – Foto: Heimo Binder
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