Ivan, die grandiose, schöne Führungspersönlichkeit
Maryam Laura Moazedi | 9. März 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 160
Ein Essay von Maryam Laura Moazedi. Über die Frage, wie viel Narzissmus und Machiavellismus gutes Management verträgt.
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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin an der Karl-Franzens-Universität. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sind Diversity Management und Human Resources. moazedi.org
Nennen wir ihn der Einfachheit halber Ivan. Ivan ist talentiert, etwas Besonderes, im klassischen Verständnis erfolgreich in Beruf und Eroberung, schöner und intelligenter als andere, zumindest in der Selbsteinschätzung. Ivan ist grandios.
Narzissmus – nicht im klinischen Sinne als narzisstische Persönlichkeitsstörung verstanden – verkürzt erklärt und hier, anhand des fiktiven Herrn Ivan plakativ demonstriert, bedeutet in erster Linie nach außen ein Gefühl der Großartigkeit und Überlegenheit, während das innere Gefühlsleben von Minderwertigkeit beherrscht wird. Damit verbunden sind eine immanente Zerrissenheit, der Drang nach einer permanenten Regulierung des Selbstwertes und das ununterbrochene Bedürfnis nach Bewunderung, der rückgemeldeten Erkenntnis anderer, wie besonders er ist, er, der Auserwählte, dem etwas Göttliches anhaftet. Einer Theorie zufolge dienen Aggression, Dominanzstreben, Anspruchsdenken und Ausbeutung als Mechanismen zum Schutz vor bedrohlichen Emotionen und den tief sitzenden Selbstzweifeln in einem doch eher fragilen Ego. Narzissmus ist paradoxer Natur, der Mensch grandios und zerbrechlich zugleich, das Ich eine chronische Baustelle. Ivan braucht viel Bestätigung.
Narzissmus wird durch Beeinträchtigungen im zwischenmenschlichen Miteinander ausgemacht, Beeinträchtigungen, die Menschen um unseren Protagonisten herum zu spüren bekommen. Ob es sich nun um Beziehungen romantischer oder professioneller Natur handelt, es zeichnen sich Muster und Parallelen ab. Nach John Alan Lees Modell der Liebesstile werden verschiedene Formen unterschieden: Eros (romantische Liebe), Storge (freundschaftliche Liebe), Agape (altruistische Liebe), Mania (besitzergreifende Liebe), Pragma (pragmatische Liebe) und Ludus (spielerische Liebe). Die letzten drei sind die präferierten Stile unseres Ivan: Mania, im Wechselbad der Gefühle, Pragma, ein äußerst nutzenorientierter Zugang zum Objekt der Begierde und Ludus, eine spielerische Annäherung. Zentrales Merkmal ist: Jeder Mensch ist austauschbar. Eine feste Verbindung ist wenig attraktiv, der Sprung zur nächsten Person ein leichter und kurzer, den Kick holt er sich aus der flüchtigen Unverbindlichkeit.
Die Eroberung ist attraktiver als eine potenziell darauf folgende Beziehung mit Vertrautheit, Vertrauen, Nähe, Intimität, übereinstimmenden Weltansichten. Sein Jagdinstinkt steuert ihn, Trophäen sind nicht weiter von Interesse, wenn erreichbar und angesichts der pragmatischen Austauschorientierung, wer weiß, vielleicht findet sich ja jemand mit einem vermeintlich höheren Prestige; Pragma und Ludus. Fallen lassen. Nächste. Selbst wenn seine Ehe lange Jahre hält, ist sie geprägt von Distanz, die, empirischen Studien zufolge, in erster Linie Resultat seiner permanenten Seitensprünge ist. Die erste Frau, die er heiratet entspricht dem Statussymbol eines jungen Ivan: Sie ist reich, sie hebt seinen Lebensstandard. Die zweite entspricht dem Statussymbol eines Ivan in der Midlife Crisis: Sie ist jung. Ivan wird zum Sugar Daddy.
Eine pragmatische Austauschorientierung mit berechnend-ausbeuterischer Haltung und mangelnder Loyalität zu Menschen ist selbstverständlich nicht auf das Privatleben beschränkt. Sie kommt auch im Berufsleben gezielt zum Einsatz. Bestimmten Berufsgruppen wird, im Vergleich zur Allgemeinpopulation, eine besonders starke Tendenz zu dunklen Persönlichkeitseigenschaften nachgesagt, letztere sollen sich beispielsweise in Bereichen wie Politik, Film, Theater und Management überdurchschnittlich gehäuft finden. So soll Untersuchungen zufolge jeder fünfte Geschäftsführer ivanähnlich sein. Daran sind wir nicht unbeteiligt, wirken sicherlich wenig hinterfragte Gemeinplätze vom idealen Manager mit. Bei Vorstellungsgesprächen schneiden Ivans besser ab als Nicht-Ivans, sie wissen, wie man die Oberfläche präpariert und Eindruck macht, sich kompetent und sympathisch inszeniert. Und wenn sie einmal im Unternehmen gelandet sind, übernehmen sie eher eine Führungsrolle und bekommen ein vergleichsweise höheres Gehalt, so die Empirie. Wir belohnen die Darstellung hohen Selbstvertrauens, den Auftritt, den Anspruch auf mehr. Schon zu Beginn der Neunzehndreißigerjahre meinte Sigmund Freud, Narzissten würden anderen imponieren und wären sogenannte Persönlichkeiten, die dazu prädestiniert seien, andere zu führen. Betrachtet man die aktuelle Managementliteratur scheint sich nicht viel an der Klischeevorstellung des geborenen Anführers geändert zu haben: extravertiert, selbstbewusst, unbescheiden, wettbewerbsorientiert, durchsetzungsfokussiert, hart. Ivan entspricht dem Profil des prototypischen Managers und Eigenschaften, – wie arrogant, feindselig, egozentrisch, dominant – die sonst durchwegs negativ bewertet werden, bekommen im Kontext Management und Führung eine kurios-mysteriöse Bewertungsumkehr. Davon bleibt à la longue die Unternehmenskultur nicht unberührt.
Der Begriff »narzisstische Organisation« bezieht sich auf Unternehmen, die durch mangelnde Empathie, Blindheit gegenüber eigenen Schwächen und Erfolg durch Ausbeutung gekennzeichnet sind. Ihrer Wahrnehmung nach befinden sie sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, gehören sie zu den erfolgreichsten Firmen mit den besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; alle träumen davon, für sie zu arbeiten und wer es nicht tut weiß es einfach nicht besser. Wenn möglich unterstreicht das Firmengebäude die Botschaft. Die Selbstdarstellung architektonischer Ausprägung soll helfen, Potenz und Prestige zu demonstrieren; um bessere Arbeitsplatzgestaltung, attraktive Verkehrsanbindung oder Lage geht es nicht vordergründig. Das Gebäude will beeindrucken. Wie Ivan.
Ob Ivan wirklich führen kann ist fraglich. Zwar fällt es ihm relativ leicht, eine Führungsposition zu übernehmen – es steht ihm schließlich zu, und wir lassen uns ja gerne blenden – sich langfristig zu halten will dann doch eine andere Sache sein. Ivan glänzt eher kurz- bis mittelfristig, Studien zeigen bestenfalls einen kurvilinearen Zusammenhang, der mit der suboptimalen Beziehung zwischen ihm und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erklärt wird. Ach, Menschen … nicht so ganz sein Ding. Zu Beginn wirkt er charismatisch auf andere, weil er wenig ängstlich, dafür leidenschaftlich, mutig, risikofreudig und wenig zögerlich erscheint, der Mann, der alles lösen und Menschen auf den richtigen Weg führen kann: Ivan, eine Lichtgestalt. Häufig wird er als visionär bezeichnet, diese Vision ist allerdings eine, der es in aller Regel an Umsetzung mangelt, da Ivan nicht dazu imstande ist, längere Zeit eine größere Gruppe anzusprechen, Interesse an ihr zu zeigen, sie für sich zu gewinnen, sie zu mobilisieren. Es bleibt bei der Vision, an diese anzuschließen ist schwer möglich, er vermag ja nicht wirklich eine Verbindung zu seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, zu Menschen, aufzubauen, die schlussendlich die Vision umsetzen sollen. Zudem orientieren sich seine Pläne stark nach seinen Affekten, werden gesteuert von seinen persönlichen Bedürfnissen, davon, was er zur Bestätigung seines Selbstbildes für notwendig erachtet. Ivan agiert im Eigeninteresse.
Teams sind mit der Zeit die anfangs noch beeindruckenden narzisstischen Eigenschaften leid, Ziele werden maximal vage definiert und nicht erreicht, das Leistungsniveau fluktuiert, das Betriebsklima ist gezeichnet von Angst, Konformitätsdruck, der Unterdrückung eigenständigen Denkens und Repressalien. Der Informationsaustausch unter den Angestellten wird unterbunden, was überdies empfindlich die Gruppenleistung senkt. Misstrauen wird geschürt, Manipulation, Täuschung und Einschüchterung werden eingesetzt, um sich als Führungsperson zu positionieren und zu halten. Aufgrund seiner tief sitzenden Unsicherheit bringen ihn selbst Kleinigkeiten aus dem Gleichgewicht, Kleinigkeiten, auf die gefährlich überzogene Reaktionen folgen, wenn seine Grandiosität bedroht wird. Seine Paranoia tut das ihre, Feindbilder zu schaffen wo keine sind, aus einem loyalen Mitarbeiter eine persona non grata zu machen, sie durchaus zu zerstören, wenn es seine notorische Rachsucht erfordert. Feindseligkeit und Amoralität steuern ihn, den Ivan, der keine Skrupel hat, den eigenen Leuten in den Rücken zu fallen, wenn er glaubt, enttäuscht oder beleidigt worden zu sein. Der Selbstwert ist bei einem fragilen Ego relativ rasch in Frage gestellt. Auf die narzisstische Kränkung, die nicht ungesühnt bleiben darf, folgt die narzisstische Wut. Ivan holt weit aus, um auf eine Majestätsbeleidigung zu reagieren … der Himmel verfinstert sich, er wünscht dem dreisten Beleidiger Heuschrecken, Frösche und Hagel, träumt von »Kopf ab!« in Manier der Herzkönigin aus Alice im Wunderland. Überzogen? Vergeltung ist sein Credo.
»Die Leute hier scheinen schrecklich gern zu köpfen;
es ist das größte Wunder, dass überhaupt noch welche
am Leben geblieben sind!«
Alice aus Alice im Wunderland von Lewis Carroll
Und zeigt er seine aggressive Impulsivität, fällt einmal die Maske und der Blick wird frei auf das unverfälschte Gesicht darunter, so müssen diejenigen gehen, denen es offenbart wurde. Frei nach einer unbekannten Poetin, der Berg wird zum Zwerg, der Turm zum Wurm. Es ist schwierig, sein Image zu wahren, wenn die Fassade bröckelt, zudem hat jeder Mensch ein Ablaufdatum und ist austauschbar. Auf jede Idealisierungsphase folgt die Abwertung. Gepaart mit einer ordentlichen Portion Sadismus kann er sich daraus durchaus einen Sport machen: Machtdemonstration und Befriedigung der Rachsucht durch Jagd auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zeitgemäßer formuliert: Mobbing. Übrig bleiben Eingeschüchterte, Opportunisten und Speichellecker. Er umgibt sich mit klimaförderlichen Menschen. Sein Zugang zu Human Resources ist »hire and fire«, innerhalb kürzester Zeit ist ein Großteil der Belegschaft ausgetauscht. Lehrbuchweisheiten wie Personal als wichtigster Wettbewerbsfaktor mit Einfluss auf Wertschöpfung, Kosten und Imageverlust durch hohe Fluktuation, Abwanderung und Verlust von Wissen, Loyalität langjähriger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etc. gelten für andere. Ivan fängt immer wieder von vorne an.
Auch die vielzitierte Suche nach Talenten ist nichts für ihn. Als Narzisst ist Ivan emotional flach, was er sehr wohl und intensiv kennt, sind Wut, Zorn, Angst, Feindseligkeit und Neid. Oh ja, Neid. Kombiniert mit seiner Wettbewerbsorientierung, der Paranoia, dem Gefühl der Unterlegenheit und dem Drang, sich zu profilieren, hat dies zur potenziellen Folge, andere als Konkurrenz wahrzunehmen, selbst Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hierarchisch keine Bedrohung darstellen und zum Wachstum des Unternehmens wesentlich beitragen. Ivan will keine sogenannten High Potentials und es ist nicht weiter von Relevanz, ob er dem Erfolg des Unternehmens im Weg steht. Es geht um ihn. Er will die Lorbeeren, alle, selbst die irrelevantesten, agiert wenig rational, destruktiv, zuweilen närrisch und vornehmlich wenig professionell.
Ivan ist lernresistent. Sein zartes Ego lässt kritische Rückmeldungen nicht zu, auf diese reagiert er impulsgesteuert, aufgebracht, ungehalten, aggressiv. Wer in seinem Dunstkreis nicht die Karriere gefährden möchte, wählt den Mundtod. Früher engagierten selbst die eitelsten Fürsten und Könige Hofnarren, die nicht nur einen Unterhaltungswert hatten, sondern durchaus unbequem werden konnten und sollten. Durch den Interpretationsspielraum, der sich mit dem Medium Humor eröffnet, wurden brisante und kritische Inhalte, wie Unzulänglichkeiten des Regenten, vermittelt. Letzterer wahrte so das Gesicht und ersterer durfte den Kopf behalten, so der Deal. Der Balanceakt diente der Vorbeugung des Szenarios, dass sich der König, aufgrund mangelnder Informationen, selbst zum Narren macht. Bekanntlich wird auch im Management, besonders bei stärker hierarchisch orientierten Strukturen, der Informationsfluss nach oben immer dünner. Aber Ivan will es nicht anders.
Als größte Motivatoren, in eine Führungsposition zu kommen, werden Macht und Allmachtsfantasien genannt, der Wunsch und die Befriedigung, in sogenannten Untergebenen Gefühle von Schwäche und Ohnmacht zu evozieren. Wer sich der Macht ergibt, für den gibt es in sozialen Beziehungen keine Ebenbürtigkeit, so Arno Gruen. Mit dem Führungsverständnis eines modernen Menschen ist dies wenig verträglich. Hinzu kommt, dass mangelnde Empathie als ein zentrales Merkmal von Narzissmus gilt, die Unfähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Dinge aus ihrer Perspektive zu sehen und zu fühlen. Empathie gilt laut moderner Managementliteratur als unverzichtbare Voraussetzung für gelungene Führung, bildet sie einen wesentlichen Baustein sozialer Kompetenz. Differenziertere Ansätze postulieren allerdings, dass Narzissten nicht nur sehr wohl zur kognitiven Empathie imstande seien, sondern diese bewusst zur Manipulation einsetzen würden, um sich Zugang zu Menschen zu verschaffen. Wie Anthropologen studieren und analysieren sie andere Menschen, sezieren Verhaltensweisen, wie Reaktionen auf Verluste und andere Lebensereignisse, die Trauer hervorrufen, imitieren sie, präsentieren sich ähnlich, betonen vermeintliche Gemeinsamkeiten und setzen vorgespielte Gefühle und Verletzlichkeit ein, um Vertrauen zu gewinnen, menschlich zu wirken, durchaus auch das Gegenüber dazu zu verleiten, sich zu öffnen. Ivan manipuliert.
Narzissten in Führungspositionen wird im Allgemeinen eine stärkere unternehmerische Orientierung zugesprochen. Sie entsprächen dem klassischen Verständnis eines Entrepreneurs, zumal sie eine größere Offenheit für Innovationen und eine geringe Scheu vor Risiken zeigten. Manche Autorinnen und Autoren vermuten dahinter die Antizipation der öffentlichen Bewunderung für die revolutionär kühnen Schritte, die sie setzen. Hinter den Entscheidungen soll das Kalkül der Öffentlichkeitswirksamkeit stecken, das Engagement im Zusammenhang mit Philanthropie und Corporate Social Responsibility stärker von der Sorge um das Image denn um eine bessere Welt angetrieben sein.
Ivan muss also nicht nur Geschäftsführer sein, sondern kann als Unternehmer seine eigene Firma leiten. Und hier verkomplizieren sich die Dinge zusätzlich. Das Unternehmen wird zu seiner Spielwiese, die Willkür steigt. Zeigen seine Nachkommen Aspirationen zur Führungsnachfolge bzw. ins Unternehmen einzusteigen, so hätten wir in einer Idealkonstellation die romantisch-sympathische Vorstellung eines kleinen Familienunternehmens, Assoziationen mit harter Arbeit und der guten, alten Tradition. Gehen wir, einfach so, von einer Tochter aus, die wir, wieder zur Vereinfachung, Ivanka nennen. Im Falle einer Ivan-Ivanka-Konstellation bleiben die Kompetenzen der Ivanka ungeprüft, undefiniert und ungeregelt. Allein ihre, respektive seine, DNA befähigt sie, selbst bei mangelnder Qualifikation hinsichtlich Ausbildung und Berufserfahrung, zu nahezu allem. Als Frucht seiner Lenden, als Klein-Ivan ist sie schon genetisch zu purer Exzellenz veranlagt, Objektivität ist deplatziert. Sollte Ivanka ihrem Vater ähneln, so wird auch sie ihre Macht bewusst einsetzen. Gemeinsam führen sie einen kriegerischen Feldzug gegen unliebsame Angestellte, Angst und Denunziantentum werden gefördert, Majestätsbeleidigungen sind nun doppelt möglich, jeder steht auf der Abschussliste, kann seine Loyalität, durch das Anschwärzen anderer Kolleginnen und Kollegen, beweisen und sich so noch für kurze Zeit absichern. Es folgt der personelle Exodus.
Im Anwendungsfeld der Arbeits- und Organisationspsychologie stellt die Beschäftigung mit berufsbezogenen Aspekten von Narzissmus – die, wie erwähnt, von klinischen Konzeptualisierungen abzugrenzen sind – eine Chance für einen konstruktiveren Umgang mit Alltagspsychopathologien am Arbeitsplatz dar. Eine zentrale Frage in der Auseinandersetzung scheint zu sein, ob Narzissmus für Unternehmen förderlich oder schädlich ist. Meinungen divergieren, die Literatur dazu ist gespalten, zeigt aber bei genauerem Hinsehen eine konsistente Linie, nämlich den Faktor Zeit. Doch auch die Fragestellung selbst gibt ein wenig Aufschluss über unseren Umgang mit Narzissmus und unsere Tendenz, ihn im Management eher milde zu beurteilen. Narzissten punkten ungemein mit ihrem Charme, ihrer gewinnenden Art, machen Eindruck, verschaffen sich so Zugang zu höheren Positionen und entsprechen dem noch immer nicht als antiquiert empfundenen Klischeebild einer Führungspersönlichkeit. Aber nur zu Beginn. Nicht ihre Kompetenz ist es, die ihnen ihren Posten sichert, sondern Strategien zum Macht- und Prestigeerhalt und zur Selbstdarstellung, die reinen Selbstzweck haben und dem Eigeninteresse dienen. Narzissmus ist, zumindest in sogenannten westlich orientierten Kulturen, förderlich wenn es darum geht eine prestigebesetzte Position zu bekommen und kurzfristig zu glänzen. Für Unternehmen, die in aller Regel längerfristige Ausrichtungen haben, bedeuten sie negativ eingefärbte zwischenmenschliche Beziehungen, wenig Professionalität, sehr viel persönliche Befindlichkeit. Ein Narzisst konstruiert sich und die Welt um sich herum, andere Menschen fungieren als ihn bestätigende Statisten. Das ivan‘sche Dilemma dabei, einerseits andere Menschen zu brauchen, die ihm Bewunderung spenden und durch ihre Angst seine Macht unterstreichen. Andererseits fängt er nicht viel an mit dem menschlichen Spielzeug. Nein, Ivan kann nicht führen.
Seit Jahren ist von einer Narzissmus-Epidemie die Rede. Immer mehr junge Menschen würden erforderliche Kriterien für eine Diagnose erfüllen, woran die Social Media Kultur nicht unbeteiligt sein soll, heißt es kritisch. Das Thema hat große Öffentlichkeitswirkung, wobei die, die Laiendiagnostik beflügelnde populärwissenschaftliche Rezeption stärker ist als die empirische Beforschung. Es leuchtet ein, Instagram und Co. sind Systeme, die sicherlich förderlich sein können und Eitelkeit, Selbstdarstellung, den Hunger nach Feedback weiter befeuern. Eine ähnlich kritische Haltung wird vermisst, wenn es um Narzissmus im Management geht. Da urteilen wir großzügig.
Nachsatz: Sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig. Ivan ist eine fiktive Person, die zur Veranschaulichung des Konstruktes Narzissmus geschaffen und auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen beschrieben wurde. Ivan hat übrigens einen Cousin, Boris, der machiavellistisch ist. Er ähnelt ihm, ist aber doch anders. Narzissmus und Machiavellismus sind verwandt und zugleich distinkt, zusammen mit Psychopathie bilden sie die Dunkle Triade. Boris ist hochgradig manipulativ, kühl, unsentimental und kennt Ivans Leidensdruck, die innere Zerrissenheit und Verwundbarkeit, nicht. Aber zu ihm ein anderes Mal.
Essay, Fazit 160 (März 2020), Foto: Paperwalker
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