»Aus der Not eine Tugend machen«
Peter Sichrovsky | 4. August 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 165, Fazitthema, Politicks
Auf Anfrage um ein Interview mit dem Botschafter, S.E. Li Xiaosi, ersuchte die Botschaft, aufgrund der derzeitigen Corona-Situation die Fragen schriftlich vorzulegen, erklärte sich jedoch zu einem persönlichen Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt bereit. Hier sind die Antworten der Botschaft, die Anfang Juni schriftlich übermittelt wurden.
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Wie beurteilen Sie die jetzige Situation in der VR China bezüglich der Covid-19-Pandemie? Ist die Verbreitung unter Kontrolle oder fürchten die Behörden eine sogenannte zweite Welle?
Nach monatelangen Bemühungen hat China die Covid-19-Pandemie jetzt unter Kontrolle gebracht. Der Notstand zur Epidemiebekämpfung ist vorbei. Die Zahl der Neuinfektionen pro Tag liegt seit Ende März auf einem einstelligen Niveau und es gibt zurzeit landesweit weniger als 200 Erkrankte. Wir treiben auf dieser Basis die Wiederaufnahme der Arbeit, der Produktion und des Schulbetriebs geordnet voran und kehren zum normalen Leben allmählich zurück. Zugleich bleiben wir wachsam, achten auf die mögliche zweite Welle und tun unser Bestes, um uns vor importierten Fällen aus dem Ausland und dem Wiederauftreten der Infektion im Inland zu schützen.
Wir lesen in Europa immer nur von Wuhan, gibt es regionale Unterschiede, gab es Gebiete, die völlig verschont blieben?
In Wuhan wurden die ersten Covid-19-Fälle gemeldet und die Stadt wurde von der Epidemie am härtesten betroffen. Um das Virus einzudämmen, hat die chinesische Regierung das ganze Land mobilisiert und umfangreiche und strenge Präventions- und Kontrollmaßnahmen getroffen. Jetzt gehören fast alle Städte einschließlich Wuhan in der Provinz Hubei zu den Regionen mit geringem Risiko. In anderen Gebieten Chinas sind Covid-19-Fälle nur vereinzelt aufgetreten. Die meisten Provinzen und Städte meldeten in den letzten Tagen gar keine Neu-Infektion.
Rückblickend auf den Beginn der Krise: Hätte es andere Maßnahmen gegeben, um eine weltweite Verbreitung zu verhindern?
China hat als erstes Land die WHO über das Covid-19-Virus informiert, das bedeutet aber nicht, dass das Virus aus Wuhan stammt. Bei der Ursprungsfrage gibt es in wissenschaftlichen Kreisen noch kein eindeutiges Ergebnis. Der größte Konsens besteht darin, dass das Virus natürlichen Ursprungs ist. Seit dem Ausbruch der Epidemie hat sich China stets offen, transparent und verantwortungsvoll verhalten und die einheimische Bevölkerung sowie die Weltöffentlichkeit auf dem Laufenden gehalten. Am 27. Dezember 2019 meldete eine Ärztin erstmals Fälle einer bisher unbekannten Lungenkrankheit. Vier Tage später teilte China der WHO den ungeklärten Ausbruch von Lungenentzündungen in Wuhan mit. Seit 3. Januar 2020 unterrichtet China die WHO, andere Länder, sowie Hongkong, Macao und Taiwan ungefragt und zeitnah über die Lage der Epidemie. Am 12. Jänner teilte China die genetischen Daten des neuartigen Coronavirus mit der WHO und veröffentlichte dessen fünf vollständige Gensequenzen in der Datenbank »Global Initiative on Sharing All Influenza Data«. Ab 23. Jänner wurde die Millionenmetropole Wuhan 76 Tage lang abgeriegelt. China hat die Informationen zur Epidemie umgehend mitgeteilt und in kürzester Zeit die strengsten Maßnahmen ergriffen, wodurch für den Rest der Welt mindestens sechs Wochen Zeit zur Vorbereitung gewonnen wurden.
Wie beurteilen Sie den Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung in der VR China?
Die Epidemie hat der Wirtschaftsentwicklung Chinas und der Welt erheblich zugesetzt. Im ersten Quartal ging das BIP in China gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent zurück. Zugleich ist aber zu beachten, dass China als erstes Land aus der Krise herauskam und den Schritt zur Normalisierung der Produktion nahm. Ab Mitte April haben gut 99 Prozent der großen Unternehmen und über 80 Prozent der KMU die Produktion wieder aufgenommen. Die Epidemie hat die Digitalisierung des Konsums und der Industrie angekurbelt. Zusammenfassend bleibt der stabile, auf Dauer gute Entwicklungstrend der chinesischen Wirtschaft unverändert. Wir sind zuversichtlich, einen doppelten Sieg, sowohl bei der Pandemiebekämpfung als auch bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung, zu erringen und das strategische Ziel des Aufbaus einer Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand bzw. der Armutsüberwindung zu verwirklichen.
Hat die Coronakrise die Beziehungen zu Österreich beeinflusst und wenn ja, inwiefern?
Die Pandemie übt unvermeidlich große Auswirkungen auf die Zusammenarbeit beim Wirtschafts- und Personalaustausch zwischen China und Österreich aus. Aber die gute Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern machen aus der Not eine Tugend. Inmitten der Epidemie haben China und Österreich aufrichtige Anteilnahme gegenseitig ausgedrückt, Hilfsmittel gespendet und es gab Kooperationen in Bereichen des Erfahrungsaustauschs und der Beschaffung von medizinischem Schutzmaterial. Beide Seiten haben positive Erwartungen für die Zusammenarbeit in den Bereichen Gesundheitswesen, Medizin, Digitalisierung und E-Commerce. China und Österreich haben die Epidemie gut unter Kontrolle. In der »neuen Normalität« sind beide Länder dabei, die Kommunikation und Koordination beim Aufbau eines »neuen Modells« für einen sicheren und effizienten bilateralen Wirtschafts- und Handelsaustausch sowie für den Personalaustausch zu verstärken, die wirtschaftliche Erholung der beiden Länder zu fördern und die Stabilität der globalen Produktions- und Lieferkette zu wahren.
Wie hat die Krise das Verhältnis zur EU beeinflusst?
Seit dem Beginn der Epidemie haben China und Europa in den Bereichen Epidemieprävention und -kontrolle, Hilfslieferung von Schutzausrüstungen sowie Wiederbelebung der Wirtschaft eng zusammengearbeitet, sich gegenseitig geholfen und gemeinsam die globale Epidemiebekämpfung unterstützt. Nach einer Vereinbarung zwischen Ministerpräsident Li Keqiang und der Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen im April werden China und die EU die Herausforderungen der Pandemie gemeinsam bewältigen. Trotz aktueller Krise soll die Hauptagenda der Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen China und der EU planmäßig vorangebracht werden.
Wie beurteilen Sie das Verhalten des Präsidenten der USA, Donald Trump, gegenüber der VR China?
Das Virus kennt keine Grenzen, nur gemeinsam können wir es besiegen. Gerade zu einem Zeitpunkt, der Einheit und Zusammenarbeit erfordert, diffamieren aber einzelne US-Politiker China unermüdlich mit Lügen, Mythen und Verschwörungstheorien, um China für die Pandemie verantwortlich zu machen, um von ihren eigenen Versäumnissen abzulenken. Wir sagen ein klares Nein zu der Politisierung der Pandemie und der Stigmatisierung anderer Länder, die nicht nur dem Kampf gegen die Pandemie, sondern auch dem Zusammenhalt der Welt schaden. Gegenseitige Unterstützung und Hilfe ist der gemeinsame Wunsch beider Völker und der internationalen Gemeinschaft. Beide Länder sind aufgerufen, ihre gemeinsamen Erfahrungen zu nutzen, ihre Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung zu verstärken und die zukünftigen Beziehungen ohne Konflikte und Konfrontationen auf der Basis des gegenseitigen Respekts und zum beiderseitigen Nutzen zu gestalten.
Gibt es parallel zu den Problemen mit Trump ein normales Verhältnis zur Industrie in den USA, werden etwa Produkte von Apple weiterhin in der VR China produziert?
Die Wiederaufnahme der Produktion und die Wiederbelebung der Wirtschaft gelten zurzeit als die wichtigsten Aufgaben des Landes. Infolge der Pandemie sind viele ausländische Unternehmen in China mit Schwierigkeiten konfrontiert. Landesweit haben die einschlägigen Behörden eine Reihe von Richtlinien und Maßnahmen erlassen, um ausländische Unternehmen zu unterstützen und die Erwartungen und das Vertrauen von Investoren in China zu stabilisieren. Ende April verzeichneten 76,6 Prozent der ausländischen Unternehmen in China eine Produktionsrate von über 70 Prozent. Abschließend möchte ich Handelsminister Zhong Shan zitieren: China verfügt über reichlich vorhandene und hochqualifizierte Arbeitskräfte, ein ausgereiftes und unterstützendes Industriesystem und einen Markt von 1,4 Milliarden Menschen. Kein kluger Unternehmer würde Chinas riesigen Markt aufgeben.
Wie sehen Sie das Gleichgewicht der Großmächte USA/EU/China/Russland, nach der Coronakrise?
Viele behaupten, die Menschheit stehe aufgrund der Covid-19-Pandemie und deren umfassenden Auswirkungen vor der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Coronavirus hinterlässt rund um die Welt große Unsicherheit und Ungewissheit. China hat kein Interesse, andere Länder herauszufordern und ist an einer weltweiten friedlichen Entwicklung interessiert. China wird an seiner Öffnungsstrategie festhalten, unterstützt nach wie vor den Multilateralismus und die internationale Zusammenarbeit, lehnt zugleich Unilateralismus und Hegemoniestreben ab. China wird sich für den Aufbau einer Schicksalsgemeinschaft der Menschheit einsetzen. »Wir sollten uns gemeinsam darum bemühen, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerungen aller Länder zu wahren, die gemeinsame Heimat der Menschheit zu schützen und gemeinsam eine Gemeinschaft der menschlichen Gesundheit aufzubauen«, betonte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in seiner Rede bei der 73. WHO-Konferenz.
Interview, Fazit 165 (August 2020), Foto: Chinesische Botschaft in Österreich
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