Die Steiermark im Herbst
Michael Petrowitsch | 4. August 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 165, Kunst und Kultur
Ein Paranoiker ist jemand, der alle Fakten kennt. Nicht von ungefähr zitieren wir hier eine Kompilationsreflexion von deutschen Filmschaffenden auf den RAF-Terror aus dem Jahr 1978 und William Burroughs. Der Steirische Herbst 2020 wird aufgrund der bekannten Gegebenheiten (post-)krisenbedingt etwas Außergewöhnliches, da sind wir uns gemeinsam mit Intendantin Ekaterina Degot sicher. Kunstproduktion als Reflex auf die vielen allgemein geltenden Narrative sind nun mal grundlegende Bestandteile zeitgenössischer Zugänge.
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Wie aber umgehen mit und in einem Festival, das sich ohnehin schon in seiner grundsätzlichen Ausrichtung der Kritik verschrieben hat? Ein Gespräch mit der Intendantin bringt uns auf den neuesten Stand.
Gibt es bestimmte Programmpunkte, die sicher stattfinden?
Es wird alles stattfinden, wir wissen allerdings noch nicht in welcher Form. Aber ich finde es sehr faszinierend, dass viel im Fluss ist, gerade das macht den Steirischen Herbst 2020 so spannend. Für mein Team hoffentlich auch (lacht). Nein, da bin ich mir sicher. Natürlich bedeutet es Mehrarbeit und das ist eine Herausforderung. Aber für mich selbst bezeichne ich das als natürlichen Prozess. Normalerweise ist das Programm im April, Mai ja schon relativ fix, zumindest zu achzig Prozent. Andere Institutionen planen normalerweise alles schon Jahre im Voraus. Wir arbeiten aber eher spontan, fast journalistisch spontan. Und nun nutzen wir die Möglichkeit, noch spontaner zu sein.
Das Spannungsfeld zwischen Katastrophe und Hedonismus war das Thema der letzten Ausgabe des steirischen herbst, zu dem im Mai der begleitende Reader als Dokumentation des Festivals und Nachlese erschienen ist. Ist das überhaupt eine Schere?
Katastrophe und Hedonismus? [lacht] Ich denke – und wie du weißt, versuche ich immer, dialektisch zu denken –, diese Widersprüche sind immer interessant. Und in dieser Denkform kann Kunst auch verändern. Ich bin der Überzeugung, dass Kunst nicht nur Gesellschaftspolitisches aufzeigen, nicht nur dokumentieren soll, sondern auch verändern. Direkt und indirekt. Durch die Art und Weise, wie die Leute denken.
Wie heißt heuer das Element, das verändern soll? Ist es »das Neue«?
Mir ist wichtig, neue Zusammenhänge herzustellen! Wie wir zwei oder drei Dinge, die wir ursprünglich nicht zusammen gedacht haben, zusammenbringen können. Das ist die Funktion von Kunst. Wir sprechen von der Herstellung neuer Kontexte. Wie etwa im Herbst 2018 mit Laibach, The Sound of Music und dem heutigen Österreich und Nordkorea. All das hat auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Aber trotzdem haben die Leute verstanden, was Laibach mit ihrer Musikperformance sagen wollten. Das sind diese Momente, die Kunst zu Kunst machen.
Was wären denn in diesem Herbst die Hauptelemente?
Das Hauptelement ist unser TV-Kanal »Paranoia TV« mit Filmpremieren, Serien, Soap-Operas, Talkshows, politischen Statements usw. Wir machen ein TV-Programm der anderen Art und produzieren unsere eigenen »Paranoia News« in der Stadt. Zusätzlich gibt es auch Liveperformances. Man bedenke, im April war das Programm fast fertig und plötzlich sollten wir alles wegwerfen: das gesamte Konzept. Ich habe alle Künstler kontaktiert und sie haben die Situation verstanden. Fast alle haben sich bereit erklärt, ihre Projekte zu adaptieren und etwas Neues entwickelt.
Und die anderen Formate?
Wir fahren ein intensives Diskursprogramm etwa mit Herwig G. Höller, Milo Rau und Hito Steyerl, die interessante Diskussionspartner einladen. Mit »Out of Joint« startet heuer eine dreijährige Kooperation mit dem Literaturhaus. Auch mit der Oper gibt es eine intensive Zusammenarbeit und Ö1 begleitet das gesamte Programm mit mehreren Sendungen im Radio, online und als Podcast. Zudem wird es eine »Paranoia TV«-App geben. Das Festival »Stubenrein« ist Teil des Herbstes außerhalb von Graz. Und natürlich gibt es wie gewohnt Grazer Partner, die teilweise im Parallelprogramm angesiedelt und teilweise inhaltlich näher am Konzept von »Paranoia TV« sind. In der ehemaligen Stiefelkönig-Filiale in der Herrengasse wird das »Besucher*innenzentrum« eingerichtet, dort befindet sich die Zentrale von Paranoia TV. Das wird ein spannender Ort, wo sich Inhalte, Diskurs und Repräsentation vermischen. Der Steirische Herbst findet also grundsätzlich und sicher statt, trotz oder gerade wegen eines möglichen zweiten Lockdowns.
Ein virtueller Sigmund Freud, der William S. Burroughs zitiert, begrüßt einen auf der Webseite des Herbstes …
Ich erhoffe mir durch die Krise mehr künstlerische Impulse. Natürlich sollte nicht die Krise selbst zum Thema gemacht werden. Ich wünsche mir keine »Coronakunst« per se, das finde ich nicht interessant. Stattdessen wünsche ich mir radikale Statements und radikale Formen. Ein Thema, das verstärkt zutage tritt, ist etwa der Postkolonialismus, der aufgebrochen wird. Aber ich rede aus der glücklichen Position der Chefin eines Festivals, das Budget hat, denn das Budget für dieses Jahr konnten wir halten. Für viele andere ist die Situation prekär. Prekarität ist natürlich ein Thema, das es zu reflektieren gilt. Wobei es der Szene in der Steiermark und in Österreich vergleichsweise gut geht. Für jemanden, der aus Russland hierherkommt, ist das hier durch die bestehende Förderungspolitik noch viel mehr sozialistisch [lacht].
Steirischer Herbst 2020
24. September bis 18. Oktober
steirischerherbst.at
Alles Kultur, Fazit 165 (August 2020), Foto: Wolfgang Rappel
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