Political Correctness: Eine Art Plädoyer. Oder so ähnlich.
Maryam Laura Moazedi | 6. Oktober 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 166
Ein Essay von Maryam Laura Moazedi. Political Correctness begleitet uns nun schon einige Jahrzehnte und wird dabei oft auch als überschießend und lästig empfunden. Moazedi macht sich an eine Analyse und wirft einen unaufgeregten Blick auf dieses grundsätzlich durchaus sinnvolle Konzept menschlichen Miteinanders.
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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin an der Karl-Franzens-Universität. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sind Diversity Management und Human Resources. moazedi.org
Ich habe ja nichts dagegen, aber, denkt der Doch-prinzipiell-gegen-alles-Mensch mit vermeintlich nuancierter Ablehnung laut in seiner verzögerten Retrospektion. Weil, diese Sache da, mit der Political Correctness, die treibt schon Blüten. Also verstehen Sie mich nicht miss, ein wenig ist schon in Ordnung, aber das geht ja nun wirklich zu weit, wenn ich schon gar nichts mehr sagen kann, ohne mir Gedanken machen zu müssen, wen ich jetzt schon wieder beleidige. Die sind heutzutage aber auch dünnhäutig, diese Anderen. Fragen Sie mich jetzt nicht, wo genau die Grenzen liegen, was zu wenig und was zu viel Political Correctness ist, das ist mehr so eine gefühlte Größe, wissen Sie. Also, wenn es anstrengend wird, dann ist es zu viel. Und wenn ich nicht verstehe, dann auch. Andererseits … vielleicht bleibe ich mit dem Gedanken hier nicht stehen, spinne ihn ein wenig weiter, lege jetzt doch kurz einmal meine Lernresistenz und auf Halbwissen und Affekten basierende pauschalisierende Ablehnung ab, kratze etwas an der Oberfläche des Begriffs, um zu sehen, was sich darunter auftut, gebe mir die Chance, etwas verständiger zu werden und den Diskurs über eine äußerst komplexe Sache mit vielen Grautönen über ein simplifizierendes Schwarz-Weiß-Diskussionsniveau hinauszuheben. Ich muss selbstredend nicht alle Aspekte dieses Zugangs lieben und akzeptieren, aber zumindest ist meine Ablehnung dann eine informierte, differenzierte, vermutlich partielle. Und sicherlich wird der Diskurs ein interessanterer. Was die vielen Lücken anbelangt, die dennoch bleiben, tja, da darf ich guten Wissens sagen: »Gute Frage. Ich weiß es nicht.«
Diese Lücken scheinen sich vom Begriff kaum trennen zu lassen, der nicht ganz greifbar sein will. So beschreiben ihn eine Vielzahl an Definitionen, die seit dem 18. Jahrhundert einen permanenten Bedeutungswandel erfahren, und geprägt vom Kulturkontext, mit variierender Intensität und Konsequenz gelebt werden. Hinzu kommt eine launige Deutungsfreiheit je nach politischer Couleur; das polarisierende Potenzial ist nicht zu leugnen, Emotionen färben ihn ein, lassen Meinung vor Information gehen. Man ist dafür oder dagegen, entscheidet sich für ein Lager: Inter oder Milan, Arsenal oder Tottenham, Rapid oder Austria … Wie sehr man nun diesen Ansatz befürwortet oder ablehnt – es mag wohl mäßig überraschen – hängt auch davon ab, ob man zu einer von Political Incorrectness tangierten Gruppe gehört, sprich, ob man sich betroffen fühlt. Einer 2016 vom Pew Research Center in den USA durchgeführten Studie zufolge, meint ein Gros der Befragten, Menschen fühlten sich heutzutage viel zu rasch gekränkt, während deutlich weniger die Ansicht vertreten, man müsse vorsichtiger im Umgang mit Sprache sein. Wirklich interessant werden die Verhältnisse aber erst, wenn man sie auf die Bevölkerungsdimensionen herunterbricht. Deutlich mehr Männer als Frauen, mehr Weiße als Schwarze, mehr Republikaner (und noch mehr Trumpisten) als Demokraten sehen keine Notwendigkeit für einen reflektierten Sprachgebrauch. In der Forderung orten sie eine Überempfindlichkeit von Minderheiten, sowie den durchschaubaren Versuch einer Zensur und den drohenden Verlust der freien Meinungsäußerung: »Die nehmen uns etwas weg«, dieser Satz vermochte ja schon immer in verquere Richtungen zu mobilisieren. Der Begriff ist parteipolitisch besetzt, ein Austausch findet selten statt, die Gesprächsbereitschaft ist marginal, der Ton kontraproduktiv, es folgen Angriff und Defensio, wer sich an Sprache stößt ist ein »snowflake« mit viel zu dünner Haut und wird mit dem Hinweis auf das Recht auf Redefreiheit mundtot gemacht. So die Gegenseite.
Auf der Fürseite eine Topographie unterschiedlicher Ansätze und Grenzziehungen, die auch hier nicht selten zur Geschmackssache werden, daran geknüpft der Anspruch auf die individuelle Interpretationshoheit, mehr nette Absicht als Stringenz und nicht selten Irritation. Nur über das übergeordnete Ziel von Political Correctness, will heißen, andere nicht kollektiv abzuwerten und einander auf einer Augenhöhe zu begegnen, herrscht Einigkeit. Die große Unbekannte, die Umsetzung im Alltag, sorgt je nach Anlass für Reaktionen, die von flacher bis intensiver Emotionalität reichen – reflexhafte Empörung, Rage und kollektives Bashing inklusive. Auch wenn gut gemeint, vermag dieser Umgang dem Konzept nicht durchgehend eine gewinnende Note zu verleihen oder atmosphärisch konstruktiv beizutragen. Und nein, damit ist nicht ansatzweise gesagt, dass Empörung immer deplatziert wäre.
Political Correctness ist eine Gratwanderung, fordert Hintergrundwissen zum Verstehen und sensibilisiert, regt zur Reflexion und Selbstreflexion an, lässt uns wachsen, zivilisiert Dialoge führen und hebt das Miteinander auf ein höheres Niveau, so der Idealfall. Sie liefert damit aber kein allgemeingültiges, situationsübergreifendes, praxistaugliches Rezept. Dieser Anspruch wird nicht erfüllt, zu ernüchternd sind die Komplexität der Konstellationen und die poröse Verbindung zwischen Theorie und Anwendung. Irgendwo im Grenzbereich der Wahrnehmungsschwelle wirken historisch gewachsene Machtstrukturen, Beziehungen und Absichten, Unbekanntes, Ängste, Lernprozesse, Versuche einer Wiedergutmachung, zuweilen durchaus auch Hilf-, Orientierungs- und Ratlosigkeit, wie es scheint. Schöne Theorie, schwierige Praxis. Aber ohne geht es ja auch nicht.
Sprache schafft Wirklichkeit.
Ludwig Wittgenstein
Nehmen wir als Beispiel für unterschiedliche Zugänge den sprachlichen Umgang mit Behinderung und die Empfehlung, sich an die »people first language« zu halten, wonach das Faktum Behinderung nicht durch Erstnennung betont werden solle, da sie nicht den Menschen in der Gesamtheit ausmachen würde. Der »behinderte Mensch« wird somit zum »Menschen mit Behinderung«. Die Forderung ist fraglos verständlich, Behinderungen engen das Blickfeld der Umgebung ein; Individulität, Persönlichkeit, Stärken, Interessen, Wünsche, Träume, Leidenschaften werden dem Menschen abgesprochen, er wird auf die Behinderung reduziert, die an erster Stelle steht, ihn überstrahlt, ihn definiert. Daher: Der Zugang ergibt Sinn. Durchaus. Aber. Nicht alle Betroffenen haben die gleiche Sichtweise, nicht jeder empfindet die »people first language«, bei all der nicht zu leugnenden noblen Absicht, als eine glückliche Wahl. Denn, so die Sorge, die Behinderung wird zweitgenannt, gut und schön, dadurch allerdings in den Schatten gerückt und irgendwie verschwiegen, mit der Zeit auch tabuisiert und stigmatisiert bis letzten Endes der Gebrauch so problematisch ist, dass das Wort wahrscheinlich eines Tages durch den nächsten Euphemismus ersetzt wird. Auch dieser Zugang ergibt Sinn. Eine Zeitschrift schickt einen eingereichten Artikel zur Revision zurück, mit der wohlgemeinten Anmerkung, aus dem »Stotterer« müsse eine »Person, die stottert« werden, andernorts wird aus dem »autistischen Kind« ein »Kind mit Autismus« und wieder andere sind »mit Diabetes« und »mit Blindheit«. In seinen Artikeln weist Aktivist Jim Sinclair darauf hin, er sei keine »Person mit Autismus«, sondern sehr wohl eine »autistische Person«, denn gerade sein Autismus mache ihn mitunter zu dem wer und was er ist, sei nicht aus ihm herauszupartialisieren und untrennbar mit ihm verbunden, ein integrativer und prägender Bestandteil, den es nicht zu verstecken gelte. Sprachliche Versuche in diese Richtung würden implizieren, Autismus wäre negativ behaftet. Schließlich, vergleicht er, würde man ja auch nicht von einer »Person mit Männlichkeit«, oder einer »Person mit Kind« sprechen. Diese Liste setzt Lara Schwartz, eine auf Bürgerrechte und Kommunikation spezialisierte Juristin, nahtlos fort: Man sei nicht eine Person mit transgender, mit schwarz, mit jüdisch, mit weiblich, mit gehörlos. Sie zieht den Vergleich mit anderen, aufgrund des gesellschaftlichen Umgangs erschwerenden, Faktoren im Leben, wie Genderidentität und sexuelle Orientierung, und kommt zum Schluss, wir würden kaum auf die Idee kommen, einem Menschen abzuverlangen, diese Aspekte des Ich zu überwinden. Behinderung ist demnach auch als Identitätsmarker zu sehen. Das Resümee: Also doch nicht vorsichtig und zaghaft »people first«, sondern raus mit der Sprache, ganz direkt und unverblümt. Political Correctness fordert von uns, zuzulassen was widersprüchlich erscheint, parallele Wahrheiten zu akzeptieren … und macht sich damit wohl eher wenig beliebt.
Da wären noch die »besonderen Bedürfnisse«, ebenso gut gemeint, ebenso nicht uneingeschränkt positiv in der Entfaltung, wie beispielsweise die Kampagnen »Not Special Needs« und »Say the Word« ins Bewusstsein zu rücken versuchen. Denn so besonders, im Sinne von abweichend und exotisch, seien die Bedürfnisse gar nicht, würden sich diese, ob mit oder ohne Behinderung, durch die uns allen gemeinsamen Wünsche nach Arbeit, Freunden, Liebe und Chancenfairness ausdrücken. Im Gegensatz dazu implizieren »besondere Bedürfnisse« die Forderung nach Extras, nach Zusätzlichem, wo doch Zugang und Teilhabe nicht etwas Besonderes, vielmehr ein Recht sind. Zwar ist »besonders« positiv besetzt, wenn als »außerordentlich« verstanden, »gesondert« oder »getrennt« wird aber meist zumindest ein Nebengeschmack bleiben, eine Lesart, die angesichts der mangelnden Inklusion nicht so weit hergeholt ist: Das Kind mit besonderen Bedürfnissen besucht die Sonderschule, bekommt sonderpädagogische Unterstützung, wird vorbereitet auf eine gesonderte Zukunft in einer Spezialwerkstatt. Es wird für ein ungeniertes Aussprechen des Wortes »behindert« plädiert, anstatt seidenweiche Sprachkreationen zur Umschreibung anzustrengen. Gerade ein gschamiges Sichdrücken vor dem Aussprechen des wertneutralen Wortes »behindert« mache daraus à la longue ein stigmatisiertes.
Die Komplexität wird weiter hinaufgeschraubt; es kommt noch eine Komponente hinzu: Betroffenen- versus Fremdperspektive. Diesem Gedanken nach wäre »behindert« doch nicht so neutral wie zuvor festgehalten, sondern aufgeladen mit einer Historie der Entwertung und Entmenschlichung, ein Vehikel, andere Menschen zu unterdrücken. Allerdings hat dies nur Gültigkeit, wenn der Begriff von Nichtbehinderten (bzw. Menschen ohne Behinderung) verwendet wird. Denn als selbstgewählter Marker ist die Bedeutung invers, steht für Identität und Stolz, sowie der Aufarbeitung und positiven Rückforderung einer stigmatisierten Identität.
Den Ansatz der Rückforderung, eine deutliche Spur radikaler, verfolgte auch die Krüppelbewegung im Deutschland der Neunzehnsiebzigerjahre. Durch die bewusste Entscheidung für eine diskriminierende und diskreditierende Eigenbezeichnung setzte sich die Initiative nicht nur von anderen ab. Selbstetikettierungen sind ein, nicht immer frei von Schockmomenten, ironischer Zugang, durch die Einverleibung – in diesem Fall von »Krüppel« – Hoheit über das Wort zu erlangen und dem Beleidiger die Macht zu nehmen zu verletzen. Selbst »nigger«, das in den Vereinigten Staaten aufgrund der davon untrennbaren Geschichte der Sklaverei, Lyncherei, Tyrannei und des anhaltenden Rassismus maximal als verschämtes »n-word« durchgeht, erfährt in Ansätzen die stark polarisierende Entwicklung eines Trotzwortes. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff »queer«, das »eigenartig«, abwertend »schwul« und einiges mehr bedeutete bzw. verschoben noch bedeutet. Auch queer wird zum Teil noch als kontroversiell empfunden, da es die Eigenschaft eines Pejorativums nicht zur Gänze abgeschüttelt hat, allerdings zunehmed eine Neubewertung erfährt und nun positiv konnotiert als selbstgewählter Sammelbegriff, auch im deutschen Sprachraum, für nicht-heteronormative Menschen steht. Als die Huffington Post ihre Gay Voices in Queer Voices änderte, begründete sie die Entscheidung u.a. damit, dass dieser Weg eine Chance zur Selbstentdeckung, Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung sei. Die Bedeutung des Andersseins schwinge mit und würde so den Stolz auf nicht assimilierte Queerness ausdrücken. Man ist anders und das ist gut so, Unterschiede werden zelebriert.
Und genau darin liegt ein wesentlicher Unterschied in der Handhabe, zwischen Vorsicht walten lassen, Differenzen nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen, das Anderssein, aufgrund der Irrelevanz der Unterschiede, ignorieren auf der einen Seite und direkter Ansprache, dem Betonen und Feiern von Anders auf der anderen. Aber wann entscheide ich mich für die Kontrastierung, wann für die Nivellierung von Unterschieden? Die Antwort ist nicht geradlinig. Natürlich nicht.
Alles andere als geradlinig sind auch Antworten auf Fragen, die das Konzept der »kulturellen Aneignung« aufwirft. Der Vorwurf lautet, verkürzt, Güter benachteiligter Kulturen würden in einen fremden Kontext gesetzt und für eigene Kommerzialisierungszwecke instrumentalisiert werden. Dadurch verkommen kulturell aufgeladene Symbole zu bedeutungsleeren Hüllen und karnevalesk inszeniertem Jahrmarktkitsch. Es geht um Profit und Ausbeutung, Rassismus, Identität und Machtunverhältnisse, bzw. nach Michel de Certau, den Handlungsraum der Machtlosen. Irgendwann verließ das Konzept Academia und damit seine definitorischen Grenzen und den zivilisierten Diskurs, landete in den sozialen Netzwerken, erfuhr in Folge eine großzügige und beliebige Ausdehnung des Begriffs und ist seitdem Auslöser von regelmäßigen Wellen der Entrüstung. Die Gründe streuen auf der gesamten Skala der Nachvollziehbarkeit bzw. Willkür.
Ein Beispiel für einen Fehlgriff liefert Victoria’s Secret mit der müden Idee, eine Laufsteg-Auf-und-Abgeh-Frau im Bikini mit Cowboy-und-Indianer-Film-nostalgischer Federhaube zu schmücken, die dabei auf »sexy Indianerin« macht. Guccis Entscheidung, weißen Models einen Turban aufzusetzen kommt bei Sikhs nicht gut an, der Vorwurf der Respektlosigkeit wird laut, da es sich hier nicht um ein Accessoire handle, sondern eine enge Verknüpfung mit dem Glauben bestehe. Chanel verkauft einen Boomerang um 1.260 Euro, Aboriginals und Torres-Strait-Insulaner sind wenig amüsiert; Chanel stellt klar, das Unternehmen würde alle Kulturen respektieren und drückt Bedauern darüber aus, manche gekränkt zu haben. Marc Jacobs lässt seine weißen Models Dreadlocks tragen, es folgt ein Aufschrei, Jacobs meint, man würde ja auch nicht von kultureller Aneignung sprechen, wenn sich schwarze Frauen die Haare glätten, noch mehr Aufschrei und eine Entschuldigung von Jacobs. Zara malt einem chinesischen Model Sommersprossen auf, Empörung, Asiatinnen hätten doch keine. Das Konzept entwickelt Eigendynamik. Die britische Sängerin Adele trägt einen Bikini mit dem Aufdruck der jamaikanischen Flagge und dazu Bantu Knots. Die Frisur, so die Reaktionen, sei nur Afrikanerinnen vorbehalten, Adele hat sich nicht zu erdreisten. Und überhaupt, für dieses unsensible und verletzende Verhalten gehöre sie ins Gefängnis und würde einmal mehr zeigen, dass weiße Frauen in der Popszene sowieso problematisch seien. Disney zieht das Halloween-Kostüm begleitend zum Film Vaiana zurück; die Ärmel würden tätowierte dunkle Haut simulieren, man trüge Tätowierungen ohne Wissen um ihre Bedeutung und zudem buchstäblich die Identität einer anderen Person, daher Rassismus und Ausbeutung der polynesischen Kultur. Als der Black-Panther-Darsteller Chadwick Boseman verstirbt, posten viele Fans als Hommage Zeichnungen von ihm, darunter auch ein Fan ohne Approbation. Sie weiß, er schwarz, geht gar nicht, erfährt sie, ihn zu zeichnen sei in ihrem Fall kulturelle Aneignung, also irgendwie Diebstahl, was maßt sie sich an. Sie entschuldigt sich und löscht ihren Beitrag.
Nun ist schon klar, man ist selten gut beraten, Kommentare im Internet zu lesen, die irgendwer geschrieben hat. Aber es sind eben die Irgendwer, die die Entwicklung des Begriffsverständnisses mittragen und prägen, im Rausch einer vermeintlich moralischen Überlegenheit weitreichende Shitstorms auslösen und einen destruktiven und repressiven Umgang mit verstandenen und missverstandenen Fauxpas kultivieren. Ein kleiner Kreis Eingeweihter kennt das Konzept mit allen theoretischen und praktischen Vorzügen und Limitationen, seine Entourage – von Begeisterung und Überschriftenwissen geblendet – reklamiert für sich, die eine Wahrheit zu kennen und richtet. Sie sind die Guten, reparieren, säubern und rächen missionierungseifrig mit erhobenem Zeigefinger, die Verurteilten sind bestenfalls unsensibel, ansonsten rassistisch. Hautfarbe wird zur bestimmenden Determinante und Grenze, es wird separiert und ausgeschlossen mit dem Beigeschmack der kollektiven Schuld, Erbsünde und Buße. Doch der Ton erzeugt Reaktanz, die Schwarz-Weiß-Dichotomie ist zu simpel (und vermutlich gerade deswegen so beliebt) und der Mensch mehrdimensional, die Kategorisierung in Opfer-Täter Rollen perpetuierend, Hautfarbe per se irrelevant, da sie vielmehr für politische Kategorien steht, und der Vorwurf des Diebstahls zu pauschal, so die Kritik an der Kritik.
Bei der Sache mit dem Diebstahl zeigt man sich unter bestimmten Auflagen mild. Der wohlwollende Ratschlag: über die Hintergründe erkundigen, den Dialog suchen, dann das »kulturfremde« Gut wertschätzend tragen. Online findet sich beispielsweise der herzige Hinweis, man solle zuerst mit Rastafaris darüber sprechen, was sie von kultureller Aneignung hielten und nach dem Diskurs entscheiden, ob es einem zustünde, Dreadlocks zu tragen. Nun will Nicht-Weiß nicht automatisch mit Expertise in Sachen kultureller Aneignung gleichzusetzen sein, die Frage nach der Repräsentativität der Antworten bleibt offen und die Vorgangsweise dürfte eher kein nachhaltiger Schutz vor Vorwürfen sein. Auch ist die Sache von außen nicht immer eindeutig. Vieles ist fraglos rassistisch, Vieles klar auf eine entwertende Kommerzialisierung oder Unterhaltung aus. Und Vieles ist von außen schwer zu beurteilen. Denkt man den Ansatz weiter, so landet er dort, wo er nicht hinwill oder ideologisch hinwollen sollte. Durch die Forderungen wird impliziert, dass sich alle auf ihre, wie auch immer definierte, ursprüngliche Kultur zu besinnen und reduzieren haben, als wäre diese »frei« oder – unschön formuliert – »rein« von »fremden« Kultureinflüssen. Kultur lässt keine starren Grenzziehungen zu, entsteht nicht in einem Vakuum, sondern stets in Wechselwirkung mit anderen. Sie steht auch nicht still, ist in ständiger Transformation, entwickelt sich weiter. Im Austausch mit anderen werden Teile übernommen, einverleibt, geändert, an die eigene Kultur angepasst, zur eigenen Kultur gemacht, die bereichert wird. Das machten uns schon Tulpe, Enzian, Kaffee, Schnitzel, Backgammon, Polo, Fußball und das Paisley-Muster vor.
Political Correctness hat es nicht leicht. Wahrscheinlich könnte es auch nicht wirklich anders sein, so unterschiedlich wie die Perspektiven, so heterogen wie die Betroffenen sind. Da gibt es die prinzipielle Gegenseite, weil Angst vor Machtverlust, Lernen, Umdenken und außerdem, »war schon immer so« und »ist eh nur Sprache«. Auf der anderen Seite unterschiedliche Sichtweisen, die einander ausschließen und ergänzen zugleich, gestrenge Fans-Schrägstrich-Richter, die dafür sorgen, dass Political Correctness zu Rüge und Diffamierung wird, der alles andere als fließende Übergang von Theorie zu Praxis, der Umstand, dass Political Correctness beides versteht, zu enthüllen und zu verhüllen. Nach dem Philosophen Slavoj Žižek ist letzten Endes das Ergebnis zwar ein respektvolles, aber auch kühles Miteinander. »Freundliche Obszönitäten«, hingegen, würden Nähe und einen ehrlichen Austausch fördern … und definitiv für Aufschrei sorgen. Empörung über Nichtkorrektes kann ehrlich sein oder inszeniert, angebracht oder deplatziert, lähmend oder einiges in Gang setzend. Vor allem aber ist sie eines, inkompatibel mit Indifferenz. Genau diese Emotionalität, wenn es um Ethnizität, Gender oder Queer geht, vermisse ich, wenn sich Indiskutables um die geradezu verlassenen Dimensionen Alter und Behinderung zentriert, wenn bei tagtäglichen Fällen ungenierter Altersdiskriminierung nicht einmal mehr die Achseln gezuckt werden. Vielleicht gehören unglückliche Dosierungen von Wut und Vorwürfen beim Erkennen und Erkennenwollen von Schieflagen mit allen suboptimalen Konsequenzen für das Diskussionsklima zu den frühen Phasen der Bewusstseinsbildung, als temporäre Begleiterscheinungen, sozusagen. Sie sind laut. Sie werden gehört. Und manchmal machen sie taub. Wenn das Zerreden und einander Aufreiben Teile des Lernprozesses sind, dann sollen sie es sein. Aber wenn unser Ziel ein vorsichtiges Miteinander ist, dann darf auch der Weg dorthin ein vorsichtigerer sein.
Essay, Fazit 166 (Oktober 2020), Foto: Paperwalker
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