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Anschläge auf Freiheit und Demokratie

| 30. November 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 168, Gastkommentar

Foto: Martin LahousseMontag, 2. November 2020, Allerseelentag. In Wien geht zunächst alles seinen gewohnten Gang – so gewohnt, wie es unter den Bedingungen nur eben sein kann, die das Jahr 2020 der ganzen Welt auferlegt hat. Die zweite Welle der Coronapandemie ist im vollen Anrollen. Es ist daher auch der letzte Abend, bevor eine ohnehin schon stark eingeschränkte »Normalität« herrscht. Familien besuchen traditionell die Gräber ihrer Lieben, in der ganzen Stadt treffen sich Menschen noch einmal mit ihren Freunden, bevor es nur noch eingeschränkt möglich sein wird.

::: Ein Gastkommentar von Philipp Jauernik
::: Hier im Printlayout lesen.

Auch der Bezirksräteklub der ÖVP Wien Innere Stadt trifft sich zur konstituierenden Sitzung. Die neuen Bezirksräte treffen einander in der Bezirksvorstehung in der Wipplingerstraße, Wiens altem Rathaus, in dessen Sitzungssaal, wo einst auch der Wiener Gemeinderat tagte. Der Saal ist entsprechend groß, die Mandatare verteilen sich dementsprechend. Ich bin einer von ihnen. Nach Ende der Sitzung verlasse ich das alte Rathaus, habe keine weiteren Pläne, nur etwas Hunger, also gehe ich Richtung Schwedenplatz, um dort am Würstlstand eine Burenwurst zu essen. Nach wenigen Schritten sehe ich in der Marc-Aurel-Straße ein Mietauto stehen. Spontan entscheide ich mich, doch lieber heimzufahren. In der Wohnung sehe ich noch meine Tochter, die seit zwei Monaten Volkschülerin ist, decke sie zu und sage Gute Nacht – es ist ja Schlafenszeit.

Bald danach beginnt mein Handy zu vibrieren. Nachrichten über Schüsse trudeln ein, bald berichtet der ORF in einer Sondersendung. Schnell wird mir bewusst, wie nah die Ereignisse sich an meinem vorherigen Aufenthaltsort abspielen. Ein Blick in die Mietauto-App zeigt: Zeitpunkt der Anmietung war 19.56 Uhr. Der Standort des Fahrzeugs war keine hundert Meter vom Desider-Friedmann-Platz entfernt, wo wenige Minuten danach die ersten Schüsse gefallen waren. Das hätte sehr gefährlich werden können. Und es macht nachdenklich.

Als Geburtsjahrgang der späten Neunzehnachtzigerjahre war Terror für mich lange etwas, das ich nicht kannte. Die Anschläge vom 11. September 2001 waren die ersten, die ich bewusst wahrgenommen habe. Es folgten Madrid, London, Moskau, und viele mehr. Im Rahmen des Geschichtestudiums arbeite ich später Themen wie RAF-Terror in Deutschland, die OPEC-Geiselnahme 1975 oder das Attentat auf den Flughafen Wien 1985 auf. Das alles ist weit weg. Kommt aber langsam näher. Die tragische Grazer Amokfahrt 2015, dann kommt es zum Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt 2018. Diesen Abend erlebe ich in meinem damaligen Büro als Mitarbeiter des Europäischen Parlaments. Eine bange Nacht. Wie geht es meinen Kollegen, von denen viele den Abend traditionell nutzen, um am Weihnachtsmarkt Geschenke für die Verwandten einzukaufen? Bald ist klar: Niemand, den ich kenne, wurde verletzt. Wenige Tage später sitze ich im Linienflug Brüssel-Wien neben ORF-Korrespondent Peter Fritz. Wir unterhalten uns über das Geschehen, das er aus nächster Nähe erlebt hat – ein angeschossener Mann war in das Restaurant gestolpert, in dem Fritz saß. Es ringt mir bis heute tiefen Respekt ab, dass der Journalist gut 45 Minuten lang Erste-Hilfe geleistet hat.

Heute ist es meine Geburtsstadt Wien, die bitter getroffen wurde. Was steckt dahinter? Woher kommt dieser Hass auf unser westliches Freiheits- und Lebensmodell? Das ist Gegenstand einer Debatte, der wir uns stellen müssen. Eines muss dabei unmissverständlich klar sein: Die Tat war ein feiger Anschlag auf das Leben normaler, friedlicher Bürger. Das werden wir nicht hinnehmen. Dem werden wir uns nicht beugen. Wir leben unser Freiheits- und Lebensmodell, weil es das richtige ist. Die Tat war brutal und hat vielen Menschen unglaubliche Schmerzen und Trauer zugefügt, aber sie hat ihr eigentliches Ziel verfehlt. Freiheit und Demokratie werden nicht verschwinden, denn wir werden diesen unseren European Way of Life weiterhin verteidigen und leben.

Philipp Jauernik studierte Geschichte und arbeitete unter anderem als Berater für Beziehungen zu Südosteuropa im Europäischen Parlament in Brüssel und Straßburg. Er ist Bundesvorsitzender der Paneuropajugend Österreich (gegründet 1922). Außerdem fungiert er als Chefredakteur des Magazins »Couleur«.

Gastkommentar, Fazit 168 (Dezember 2020), Foto: Martin Lahousse

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