Unvergessen
Redaktion | 4. März 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Allgemein, Fazit 170
Brewster Kahle ist viel mehr als der Gärtner von Datenfriedhöfen – wie sein Projekt »archive.org« bereits seit 25 Jahren das Internet archiviert, für Informationsfreiheit kämpft und gleichzeitig quasi Zeitreisen möglich macht.
::: Text von Thomas Goiser
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Wer durch das Portal schreitet, fühlt sich zuerst wie in einem Museum. Dann erscheint der Führer, und man betritt einen großen Andachtsraum. Die Stimmung unter den rund 15 Gästen ist feierlich und dennoch ausgelassen. Es ist wie ein Heimkommen. Es gibt ikonische Adressen im World Wide Web. www.archive.org ist eine solche. Im Herbst 1996, als das Internet auch in Österreich so richtig ankam, der Absatz von Modems und ISDN-Anschlüssen abhob, gründete der Informatiker Brewster Kahle das Internet Archive, um mit der sogenannten »Wayback Machine« automatisch abgespeicherte frühere Fassungen von Websites zu dokumentieren und zu archivieren (siehe Abbildungen; entnommen aus derstandard.at von 1997 und bka.gv.at von 2002). Die gemeinnützige Organisation kümmert sich um die Langzeitarchivierung digitaler Daten in frei zugänglicher Form, egal ob Websites (derzeit mehr als 330 Millionen), Bücher und Texte (22 Millionen Datensätze), Audiodateien (mehr als 4,5 Millionen, darunter etwa 180.000 Live-Konzerte und eine wachsende Anzahl von Schellacks), Videos (mehr als vier Millionen, darunter über 1,6 Millionen TV-Programme), etwa drei Millionen Bilder, Software und Computerspiele (mehr als 200.000). Einen ersten, traurigen Höhepunkt bildet die Dokumentation von Fernsehberichten zu den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon vom 11. September 2001.
Suchen und Finden ohne Bias
Im Gegensatz zu der – von Algorithmen regierten – Welt der Suchmaschinen liefert die Suche im Internet Archive einfach die »rohen« Suchergebnisse. Spiegelserver sollten das Überleben des Internet Archive auch im absoluten Katastrophenfall ermöglichen. Zahlreiche Stiftungen, Bibliotheken und andere Sammlungen und Archive unterstützen die Digitalisierungsarbeit mit finanziellen Mitteln und Sachspenden. Jede/r kann sich registrieren und selbst Inhalte hochladen.
Bibliotheken, Institutionen und Privatpersonen können ihre Archive via archive-it.org archivieren und selbst entscheiden, was sie davon für die Online-Öffentlichkeit freigeben wollen. Das Bildarchiv bietet heute neben historischen Landkarten NASA-Aufnahmen aus dem Weltall genauso wie Schallplattencover oder frei verfügbare Aufnahmen aus privaten Fotoalben. Und besonders jenen, die in den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends aufgewachsen sind, bietet das Archiv die Chance zur Wiederentdeckung ihrer Jugend: Computerspiele aus nicht mehr erhältlichen Technologien (z. B. Atari-2600 oder MS-DOS) sind weiterhin zugänglich.
Zurück in die Vergangenheit
Das Online-Archiv »Wayback Machine« wiederum wird besonders effektiv von Kriminologen, Forensikern und Berufsdetektiven genutzt, die anhand früherer Versionen von Websites (»Mementos«) auch ihre Ermittlungserkenntnisse vervollständigen. Man kann sich aber auch einfach von Designtrends aus den 1990er-Jahren unterhalten lassen. Statt Fernsehabenden bietet sich also Besuch in der digitalen Bibliothek an. Seit dem Vorjahr kooperiert Wikipedia mit dem Internet Archiv – dort, wo Wikipedia-Beiträge auf digitalisierte Bücher verweisen, ist das Zitat auch im Original dargestellt. Aktuell füllt sich das Political TV Ad Archive durch den bevorstehenden Wahlkampf um das Amt des US-Präsidenten rasant; nicht nur dadurch ist das Internet Archive zu einer bedeutenden Quelle für wissenschaftliche Arbeiten geworden. Das ist nur ein Teil der Dienste des globalen Informationsarchivs. Selbstverständlich kann man in einem Webshop auch T-Shirts, Kaffeebecher und Beanies kaufen, teilweise mit aktivistischen Sprüchen.
Ein Tempel des Wissens
Eine besondere Ironie ist, dass das Archiv seit der Frühzeit einen griechischen Tempel als Logo verwendet und seit 2009 seinen Sitz in einer ehemaligen Christian-Science-Kirche in der Funston Avenue in San Francisco hat, deren Portal dem Logo ähnlich sieht. Jeden Freitag um 13 Uhr kann man dort kostenlose Führungen durch das Archiv miterleben. Der Gründer und »Digital Librarian« des Internet Archive, Brewster Kahle, Herr über mehr als 20 Petabyte Daten, macht diese faszinierenden Führungen weiterhin selbst.
Im Erdgeschoß und im Keller (und in mehreren Scan Centern weltweit) der aufgelassenen Kirche arbeiten Freiwillige und IT-Experten an Digitalisierungsprojekten, damit das Archiv weiterwächst. So kommt dem Traum aus der Frühzeit des Internet – frei zugängliches Wissen für alle, unabhängig vom Standort – seiner Verwirklichung näher.
Hinweis: Unser Autor Thomas Goiser hat das Internet Archive im Rahmen seines Marshall Memorial Fellowships des German Marshall Fund besucht.
Internettes, Fazit 170 (März 2021), Illustration: Screenshot von Archive.org
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