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Peter K. Wagner | 13. April 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 171, Fazitgespräch
Der Präsident der jüdischen Gemeinde Graz, Elie Rosen, über Bodyguards und Anschlag, Lausbubenstreiche und Zivilgesellschaft, über Marlene Streeruwitz und Corona sowie über die Uno und Israelkritik.
Das Gespräch führten Volker Schögler und Peter K. Wagner.
Fotos von Marija Kanizaj.
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Die beiden schwerbewaffeten Polizisten in martialisch wirkenden Uniformen am Eingang der Zufahrt zur Synagoge hatten uns schon längst ins Visier genommen, als wir mit unseren Fahrrädern vor dem Schranken abbremsen und um Einlass bitten. Mit freundlicher Stimme weist uns einer der beiden darauf hin, dass man eigentlich nicht am Gehsteig, noch dazu auf der falschen Seite über die Murbrücke fahren sollte. Der Gegensatz zwischen Aussehen und Freundlichkeit ist so groß wie unsere Ausreden kläglich. Wir unterhalten uns noch über das umgebaute STG 77, das sie über die Schultern tragen, dann holt uns auch schon ein Mitarbeiter ab, um uns durch mit Codes gesicherte Türen zu Elie Rosen zu führen.
Der Präsident der jüdischen Gemeinde Graz nimmt sich in seinem Besprechungszimmer, in dem die Portraits von Kaiser Karl und Zita hängen, gut eineinhalb Stunden Zeit für ein Fazitgespräch über den jüdischen Alltag in Graz und Fragen zu Israel.
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Wie ist für die jüdische Gemeinde der Alltag in Graz oder anders gefragt: Ist jüdisches Leben heute in Graz gewollt – nicht zuletzt auch in Hinblick auf den Überfall auf Sie hier im Bereich der Synagoge im August des Vorjahres?
Für die Frage, ob es gewollt ist, bin ich der falsche Adressat, die Frage an mich ist wahrscheinlich, ob ich das Gefühl habe, dass es gewollt ist. Ich glaube, dass die Stadt Graz durchwegs eine weltoffene Stadt ist, die Multikulturalität aufweist und auch den Weitblick hat, in Multireligiosität zu investieren. Das tut Graz schon lange, das hat schon unter Bürgermeister Stingl begonnen und das tut sie derzeit auch. Ich empfinde das durchwegs in vielen Bereichen als ehrlich gemeint und ich habe schon das Gefühl, dass jüdisches Leben hier Platz hat und dass dem auch Platz gegeben wird und es vor allem auch gefördert wird.
Bezieht sich das auch auf den ganz normalen Alltag?
Das ist eine mehrschichtige Frage, weil sie sich an eine Person richtet, die Funktionen innerhalb der jüdischen Gemeinde bundesweit exponiert ausübt und man mir sicherlich auf eine andere Art und Weise begegnet als einem durchschnittsjüdischen Bürger. Ich kann sagen, dass ich in Graz stets mit großem Respekt empfangen wurde. Als ich nach Graz gekommen bin, habe ich so gut wie niemanden gekannt. Aber das ist schnell gegangen, ich empfinde mich heute als Teil der steirischen und Grazer Gesellschaft. Das heißt nicht, dass alles friktionsfrei läuft, aber ich fühle mich nicht unwohl in Graz und bin hier zufrieden.
Waren Bodyguards als ständige Begleiter schon vor dem Überfall Standard oder war das erst der Anlass?
Jüdische Einrichtungen haben in Österreich per se schon seit vielen Jahrzehnten einen erhöhten Sicherheitsbedarf. Ich sehe immer wieder, dass das die Leute fast schockiert, es schockiert vielleicht auch, wenn ich sage, wir sind das gewohnt. Die Anwesenheit von Polizei löst kein Unbehagen mehr aus, ganz im Gegenteil. Persönlich ist es so, dass es schon vorher entsprechenden Sicherheitsschutz gab. Der Anschlag hat natürlich dazu beigetragen, den Bekanntheitsgrad in einer nichtgewollten Art und Weise zu verstärken. Und ich bin auch kein Ruhiger, sondern eher ein Unbequemer und bin in meinen Funktionen auch gewachsen, auch im letzten Jahr.
Was hat der Anschlag persönlich mit Ihnen gemacht, etwa wenn Sie allein unterwegs sind?
Naturgemäß bekommen die Dinge eine andere Dimension, wenn die Betroffenheit eine persönlichere ist, sich der Anschlag gegen die eigene Person richtet. Ich bin schon einmal in Wien ohne Konnex zu meinen Funktionen im jüdischen Bereich Opfer von Gewalt geworden und das war ein wahnsinniger Einschnitt für mich und schon eine gewisse Art der Traumatisierung. Das hat beim vorjährigen Anschlag so etwas wie einen Flashback hervorgerufen und das zweite Traumatisierende für mich war der Faktor, dass so etwas überhaupt passiert. Ich bin mit traumatisierten Großeltern aufgewachsen. Mein Großvater hat uns eingebläut, das Judentum nicht nach außen zu tragen, er hat hinter allem und jedem einen Nazi gewähnt und meine Cousine und ich haben das immer ein bisschen belächelt und nicht ernst genommen. Das war nach diesem Anschlag dann anders, und wir waren froh, dass unser Großvater das nicht mehr erleben musste, weil es ihn ja bestätigt hätte. Diese persönliche Dimension hat mir eigentlich am meisten weh getan, nämlich eingestehen zu müssen, doch ein wenig gescheitert zu sein in den eigenen Ansichten und der Einschätzung, was möglich oder wieder möglich ist und was nicht.
Bedeutet eigentlich der Umstand, dass es sich beim Täter in Graz um einen syrischen Flüchtling gehandelt hat, damit um jemand, der als Muslim den israelischen Staat und damit das jüdische Volk als Feind betrachtet, in irgendeiner Form eine Entlastung?
Für mich ist es keine Entlastung. Entlastung sehen Personen, die in der Zuweisung von Schuld lieber jemand anderen belastet sehen wollen als sich selbst oder Personenkreise, die ihnen nahestehen. Ich sage immer: Mir ist es eigentlich vollkommen egal, von welcher Seite der Antisemitismus kommt. Ob er von der rechten Seite kommt oder von der linken, ob das ein muslimischer Antisemitismus oder ein religiöser ist – ich finde ihn in allen Bereichen unappetitlich. Ich finde es aber auch unappetitlich, den Versuch zu unternehmen, hier den einen mehr oder weniger weiß zu waschen. Wenn man sich die Entwicklungen in Europa ansieht, sollte man beachten, das die neuen Formen des Antisemitismus heute nicht einfach von rechts kommen, sondern sehr stark im linken Bereich zu finden sind und auch natürlich sehr stark – und das symbiotisiert sehr oft – aus muslimischen Ländern kommen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin zu glauben, dass man Antisemitismus wirklich nachhaltig bekämpfen kann. Diese Antisemitismusprophylaxe-Programme sind zwar sehr schön, aber wie ich glaube, nicht von besonderer Nachhaltigkeit. Dafür ist der Mensch einfach zu dumm.
Was wäre der bessere Weg?
Ich konzentriere mich lieber darauf, was gut ist, und jammere nicht dem nach, was nicht ist. In der Gemeideführung ist es mir sehr wichtig, nicht immer nur über den Antisemitismus und die Schoah zu reden. Damit wird man zwangsläufig ständig konfrontiert, aber ich sage immer: Bitte reduzieren Sie das jüdische Leben nicht immer nur darauf. Das gibt Begegnungen eine Verkrampftheit, deshalb steht im Zentrum unserer Arbeit das lebendige Judentum. Das halte ich für sehr wichtig, vor allem im zeitlichen Abstand zur Schoah, weil wir nur so einen positiven Zugang zum Judentum bei Kindern und Jugendlichen erreichen können. Erst so schaffen wir pro futuro die Bereitschaft, sich mit der Shoah als Teil der europäisch-jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen.
Wie sieht die Gemeinde den Themenwechsel weg von Antisemitismus und Schoah?
Meine Vorgängerin Ruth Kaufmann hatte hier im Untergeschoß der Synagoge das Holocaust- und Toleranzzentrum etabliert, was zu heftigsten Kontroversen innerhalb der jüdischen Gemeinde geführt hat, das wurde auch breit medial ausgetragen und das war letztlich auch der Grund, weshalb ich hier gelandet bin. Ich habe von Anfang an gesagt, dass eine Synagoge kein Holocaust- und Toleranzzentrum ist, sondern ein Ort der Versammlung und Lebendigkeit. Ich glaube auch nicht, das die Vermittlung des Wissens über die Schoah primär in den Händen der jüdischen Gemeinden liegen sollte, das sehe ich als Aufgabe der Zivilgesellschaft.
Was denken Sie, wenn auf Corona-Demos Menschen mit gelbem Judenstern auf der Straße herumziehen?
Ich glaube, das sind Verhaltensschemata, die nicht neu sind. Extremsituationen haben immer dazu geführt, dass Massensündenböcke gesucht werden, vor allem Minderheiten und eben Juden, das war im Mittelalter schon so. Ich habe im Vorfeld schon gesagt, ich hoffe, dass der Impfstoff nicht in Israel erfunden wird, sonst würde es sofort heißen, die Juden haben Corona unter die Leute gebracht, damit sie sich dann am Impfstoff dumm und dämlich verdienen. Dieser Vorwurf der Geschäftemacherei verwundert mich nicht. Aber mit dem Wort »Dummheit« muss man heute aufpassen in Österreich, es wurde für Neonazi-Geschichten lange Zeit missbraucht. Hakenkreuzschmierereien waren per se immer Lausbubenstreiche, etwas zum Ignorieren, das war so nihilierend. Ich glaube, dass wir in einer sehr gefährlichen Zeit leben, weil wir in einer Zeit der Gegensätze mit starken, extremen Polarisierungen leben, sowohl von links wie von rechts. Oder auch, wenn ich mir Facebook-Postings von jungen Menschen anschaue.
Sehen die Demonstranten sich als Opfer, im Sinne von »die neuen Juden«?
Ich kenne derartige Vergleiche, so wie Marlene Streeruwitz die Covid-19-Maßnahmen der Bundesregierung mit den Nürnberger Rassengesetzen verglichen hat. Da kann ich nur sagen, das muss eine Verwirrung sein, dieser Vergleich ist geschmacklosest bis zum Geht-nicht-mehr. Es soll uns nichts Ärgeres passieren, als einen Covid-Test machen oder eine Maske tragen zu müssen. Offenbar geht es uns allen schon so gut, dass jede Form der Einschränkung mit Vergleichen bedacht wird, die hanebüchen sind. Ich verstehe den Unmut bis zu einem gewissen Grad, aber es ist nun mal so, und man kann sich demokratisch dazu äußern und sich auseinandersetzen, aber den Blick fürs Wesentliche nicht verlieren und vor allem was solche Vergleiche betrifft – wie ich das jetzt sage – die »Kirche im Dorf lassen«. Man sollte diese Einschränkungen seit einem Jahr schon mit Demut betrachten, wenn man denkt, wie viel Jahre Menschen im Untergrund in Verstecken gelebt haben in der NS-Zeit, wie auch mein Großvater. Auch wenn ich meine eigene Frustration darüber anschaue, ein Jahr lang keine Kulturveranstaltungen machen zu können, nicht durchgehend in ein Gasthaus gehen zu können, mich nicht ohne Maske bewegen zu können, dann muss ich gleichzeitig sagen, um was für ein Vielfaches muss das andere ärger gewesen sein und in welcher Demut muss ich mich bewegen, um nicht so einen Vergleich anzustellen. So etwas zu sagen, disqualifiziert für mich eigentlich jeden, der da den Mund aufmacht.
Israelkritik ist ein großes Thema für Sie. Ist das bereits getarnter Antisemitismus?
Nicht jede Israelkritik ist eine Form von Antisemitismus, das möchte ich klar unterstreichen. Wir haben es vielfach mit sogenanntem Israel-orientierten Antisemitismus zu tun, wo sich Antisemitismus hinter einer Kritik an Israel tarnt. Natürlich gibt es genügend Dinge zu kritisieren, in Israel gibt es ja auch nicht nur eine Partei. Da wäre wahrscheinlich fast jeder Israeli ein Antisemit, weil jeder hat irgendetwas zu bemeckern, was dort nicht passt. Ich habe dafür immer die Drei-Faktoren-Theorie von Na-than Scharanski herangezogen: wenn der Staat Israel deligitimiert oder dämonisiert werden soll oder wenn Doppelstandards angewandt werden. Letzteres etwa bei der Entscheidungspraxis des Weltsicherheitsrats der Vereinten Nationen. Mehr als zwei Drittel der Entscheidungen und Verurteilungen des UN-Sicherheitsrats beziehen sich auf Israel. Das verwundert nicht, wenn man die Zusammensetzung des Weltsicherheitsrats kennt, da sitzen sehr viele arabische Staaten drinnen. In Konfliktherden wie Jemen oder Syrien gibt es eine Menschenrechtsverletzung nach der andern, die werden aber nicht verurteilt. Die Uno hat für mich in den gesamten Mechanismen, nicht nur als Weltsicherheitsrat, als Gewissen ausgedient.
Was sehen Sie als das große Manko bei der Uno?
Man müsste sich sowieso einmal überlegen, ob eine Uno in der Form wie sie Entscheidungen trifft, auch mit den Großen, die überall ein Veto einlegen können und alles blockieren, heute noch zeitgemäß ist. Das große Manko ist, dass sie von einer Einflusskonstellation ausgeht, die ein Abbild der Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Diese Vetokonstruktion hat in einer gleichberechtigten Weltengemeinschaft nichts mehr zu suchen. Das gilt auch für die UNRRA-Finanzierungen oder die Doppelstandards: Es gibt kein einziges Land, wo der Flüchtlingsstatus vererbt wird, außer bei den sogenannten »Flüchtlingen« auch Palästina. So wurden aus 400.000 Flüchtlingen bis jetzt sechs Millionen Flüchtlinge. Umgekehrt gibt es das bei den sehr umfangreichen Vertreibungen der jüdischen Gemeinden aus den arabischen Ländern aber nicht.
Wie gestalten Sie den weiteren Weg der jüdischen Gemeinde in Graz und der Steiermark?
Am Beispiel meiner Ansichten etwa zur Israelkritik – das hört man ja gar nicht gern hier. Mein Selbstverständnis und das von der Rolle der jüdischen Gemeinde hier in Graz sind ganz anders als bei meinen Vorgängern. Kurt Brühl war noch aus der Vorkriegsgeneration, die ganz ruhig und angepasst war. Die hat nicht viel gefordert, war still, hat Hände geschüttelt, hat danke gesagt und vielleicht sogar noch eingeladen auf interkonfessionelle Treffen und sonst war nichts zu hören. Auch die zwei Nachfolger waren nicht viel lauter. Aber jetzt wird kritisiert und wenn man sagt, die Solidarität ist nicht immer wirklich eine, und der christlich-jüdische Koordinierungsausschuss, wo keine Juden drinsitzen, sondern nur Christen, ist auch nicht gerade das Wahre oder dass der Antisemitismus nicht nur ein rechter, sondern auch ein linker ist – das ist man nicht gewohnt. Da schaut man gerne weg und das diskutiere ich immer wieder mit Politikern. Obwohl ich schon auch den Eindruck habe, dass der Stolz, den wir nach außen tragen, etwas ist, dem mit Respekt begegnet wird. Das ist eine schwierige Balance, verschafft uns aber etwas mehr Gehör als früher. Wir sind ja nicht mehr, wir sind auch nicht weniger als früher, das heißt, wir haben rund 150 Mitglieder in der jüdischen Gemeinde, aber wir sind viel mehr präsent, als es je der Fall war seit 1945.
Herr Rosen, vielen Dank für das Gespräch!
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Elie Rosen, Jahrgang 1971, Jurist und Betriebswirt, ist seit 2016 Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz, bereits seit 1998 auch in Baden, seit 2002 Mitglied des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. 2012 wurde Elie Rosen auch zum Vizepräsidenten des Bundesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs und zum Vorsitzenden für Finanzen und Personal der Israelitischen Kultusgemeinde Wien gewählt. Neben einer Vielzahl anderer Funktionen gehört er dem Vorstand der Israelitischen Religionsgesellschaft und dem Vorstand des Keren Hajessod Österreichs an. Seine Arbeit in Graz ist in Richtung Ausbau der religiösen Aktivitäten sowie Stabilisierung der Jüdischen Gemeinde nach innen gerichtet. Das von ihm 2017 initiierte Vermittlungsprogramm »Synagoge erleben« lässt gepaart mit einer verstärkten, repräsentativen Präsenz der Jüdischen Gemeinde im öffentlichen Leben eine deutliche Öffnung nach außen erkennen. Präsident Rosen ist Vater eines Sohnes und lebt seit 2016 ständig in Graz.
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Fazitgespräch, Fazit 171 (April 2021), Fotos: Marija Kanizaj
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