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Außenansicht (22)

| 11. Mai 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 172

Austauschbare Politbeamte mit Pensionsberechtigung. Mit Annalena Baebock ziehen die Grünen in Deutschland zum ersten Mal mit einer Frau als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf. 1980 geboren und aufgewachsen auf einem Bauernhof, allerdings ohne Bauern, mit einer Mutter als Sozialpädagogin und einem Vater als Ingenieur. Ihr Aufstieg und Erfolg gleicht der Bilderbuchkarriere, die dem Lebenslauf fast aller heutigen Politiker und Politikerinnen entspricht.

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Wie in so vielen dieser Erfolgsgeschichten begann sie als Assistentin und Büroleiterin einer EU-Abgeordneten. Vertreter anderer Parteien engagierten sich bereits früher in Jugend- und Studentenorganisationen, bevor sie den mühsamen Aufstieg und Marsch durch die Institutionen fortsetzten. Die genauen Lebensläufe aller Kanzlerkandidaten sind im Internet abrufbar, austauschbar mit jenen anderer politisch »Erfolgreichen«.

Man arbeitet sich quer und hoch, zuerst im kleineren Kreis, der wird langsam größer, bis man endlich in einem Stadtparlament, Landtag und später im Bundestag ankommt. Geduld, maßvolle Wortmeldungen zur rechten Zeit, die richtigen, unterstützenden Mitkämpfer und ein wirkungsvolles Netzwerk vor allem der Eltern sind ausschlaggebend.

Nicht alle schaffen es in Regierungspositionen, aber irgendwann erreichen sie das Pensionsalter, ohne auch nur einen einzigen Tag in der Privatwirtschaft gearbeitet zu haben und ohne mit den Problemen eines finanziell ungesicherten Daseins konfrontiert zu werden. Im Grunde genommen beginnt ihre Pensionierung mit dem ersten Tag des mit Steuergeldern bezahlten politischen Jobs. Scheitern sie mit dem einen, findet sich ein anderer Posten im System. Geht eine Wahl verloren und man scheidet aus als Abgeordneter, ergeben sich andere Lösungen. Keiner wird zurückgelassen.

Die Wenigen, die Regierungsverantwortung erreichen, treffen Entscheidungen, die all jene betreffen, die unter völlig anderen Umständen leben oder versuchen zu überleben. Der Alltagskampf um Arbeit, die oft peinlichen und verzweifelten Bewerbungsgespräche, die Konkurrenz am Arbeitsplatz, das Scheitern in einer industriellen Wettbewerbsgesellschaft, all das bleibt ihnen ein Leben lang erspart. Es fehlen ihnen die Erlebnisse, die Erfahrungen, sowohl die positiven als auch negativen. Sie verstehen es nicht, sie verstehen uns nicht und wir verstehen sie immer weniger. Armin Laschet von der CDU zog schon als 18-Jähriger in den Aachener Stadtrat ein. Als er dieses Amt ein paar Jahre später durch eine Wahl verlor, versorgte ihn die Partei mit einem Mandat im EU-Parlament; und es ging weiter, immer weiter nach oben. Auch seine Karriere wie aus dem fiktiven Lehrbuch »Wie wird man ein erfolgreicher Politiker«.

Markus Söder schloss sich sehr früh der »Jungen Union« an, einer Vorfeldorganisation von CDU/CSU mit nahezu garantierten Aufstiegschancen, wenn man sich nicht bei irgendeiner Blödheit erwischen lässt. Später war Söder Vorsitzender des CSU-Kreisverbandes Nürnberg-West und all die nächsten, logischen Sprossen der politischen Leiter sind in seiner Biografie nachlesbar. Olaf Scholz trat schon als Gymnasiast in die SPD ein und war 1982 bis 1988 stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender. Und von nun an ging’s stetig bergauf, der Kreis, das Land, die Stadt, der Staat, Parteivorstand, Parteivorsitzender – als würde er auf einer Rolltreppe langsam sich nach oben bewegen, ohne einen Schritt machen zu müssen.

Christian Lindner, Spitzenkandidat der FDP, wurde bereits als 16-Jähriger Mitglied der Partei und nach wenig überraschendem Aufstieg zum Vorsitzenden der »Jungen Liberalen« zog er als jüngster Abgeordneter mit 21 Jahren in den Landtag von Nordrhein-Westfalen, dann kam ein Kreis-, ein Bezirks-, ein Landesverband und endlich der Bundestag.

Alles ähnliche Karrieren braver Parteisoldaten und -soldatinnen. Als Schmierseife im politischen Getriebe schwimmen sie nach oben wie die Fettaugen auf der Rindsuppe. Erfolgreiche Manager, Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler sind unter Politikern kaum mehr zu finden. Wie eine Sekte bleiben sie unter sich, rekrutieren aus den eigenen Reihen und verschließen Karrieren den »Outsider«. Politik ist Gewohnheitstraining geworden. Das Zahnrad wird widerstandslos zurecht geschliffen, bis es sich lautlos in der richtigen Richtung im System dreht.

Außenansicht #22, Fazit 172 (Mai 2021)

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