Aber ich habe wirklich nichts gegen die Deutschen! Kulturelle Stereotype und eine Fußballbeichte
Maryam Laura Moazedi | 2. Juli 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 174
Ein Essay von Maryam Laura Moazedi. Deutscher Panzer, italienische Primadonna. Der Fußball eignet sich hervorragend für die Studie von kulturellen Stereotypen, die wir hartnäckig am Leben halten. Und treffen sie nicht zu, verschließen wir die Augen. Ein Essay über Fußball von einer anglophilen Norditalienerin, die nichts gegen Deutsche hat.
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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin an der Karl-Franzens-Universität, Gastlektorin an der Filmakademie Baden-Württemberg, Werner-Herzog-Begeisterte, Art-Brut-Fan und einiges mehr. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sind Diversität, Stereotypisierung, Ethnozentrismus und Alter als Konstrukt. moazedi.org
Ich habe nichts gegen die Deutschen. So ein Satz setzt sich wie von selbst fort, denn selten ein »Ich habe nichts gegen« ohne ein »aber«. Nun habe ich aber wirklich nichts gegen die Deutschen und eben weil ich absolut nichts gegen die Deutschen habe, ganz im Gegenteil, sie haben der Welt Werner Herzog und die Schuhe mit den drei Streifen geschenkt, darf ich sagen: Ich habe nichts gegen die Deutschen, aber ich bin vielleicht tendenziell schon eher mäßig erfreut, wenn sie im Fußball gewinnen. Ein zart relativierendes und freundschaftliches Aberchen geht durch, man muss nicht alles an allen mögen und kann sie dennoch mögen; außerdem geht es hier um Fußball, viel Emotion, wenig Ratio, dies der Versuch eines Freispruchs.
Fußball emotionalisiert, wühlt auf, euphorisiert und deprimiert, verbindet und trennt, macht für die Dauer von Europa- und Weltmeisterschaften aus Unpatrioten Patrioten, aus Angrennten Nationalisten. Der kompetitive Faktor wirkt mit, die Kriegsrhetorik verstärkt, der Gegner wird zum Feind, Ressentiments aus der Vergangenheit werden aufgewärmt, die Teil des kollektiven Unterbewusstseins sind. Die Medienberichterstattung, so die Empirie, spielt gerne mit Assoziationen; hinter dem Spielstil sollen landesspezifische Eigenschaften stecken, die im Grunde genommen alles erklären, was wir sowieso schon immer zu wissen glaubten, alles Teil der nationalen DNA, auf dem Fußballfeld und auch sonst wo.
Die Deutschen seien ein Haufen teutonischer Roboter, die unsexy, gnadenlos, diszipliniert und effizient in rigider Formation spielen, unter Druck nicht knicken, beschreibt David Sims in einem Artikel die gängigen Stereotype und ich frage mich, alles schön und gut aber … was daran ist nun stereotyp? Ein Scherz, versteht sich. Das ist eben das Kreuz mit Stereotypen, mal treffen sie ganz zu, mal gar nicht, oft ist ebenso viel dran wie nichts. Sie verzerren den Blick und die Erinnerung, hängen bleibt, was dem Stereotyp entspricht, Nichtkonformes wird vergessen, verdrängt, relativiert, alles getan, das Stereotyp zu bestätigen. Wolfram Manzenreiter und Georg Spitaler kommen in ihrer Analyse zum Schluss, dass sich die Sportberichterstattung häufig des Klischees deutscher Tugenden bedient: Willensstärke, Fleiß und Selbstdisziplin mache das Nationalteam aus. Und dennoch blieben sie was sie seien, will heißen langweilige Panzer, vorhersagbar, unkreativ, deren Spiel unschön. Den Gegenentwurf bilden Italiener, Spanier und Franzosen, Fußball und Fußballer eine Augenweide, ihr Spiel voller Flair, Temperament und Emotion.
Stichwort Gegenentwurf. Als ein gewisser Celso Curzi in den späten Neunzehnfünfzigerjahren von Italien nach Deutschland geht, um dort für eine überschaubare Zeit zu arbeiten und dann wieder zurückzukehren – aber dann kommt das Leben dazwischen, deutsche Frau, Liebe, Hochzeit, neue Heimat – fasst er die Vorurteile der beiden Nationen gegeneinander folgendermaßen zusammen: »Die Deutschen lieben Italiener, aber bewundern sie nicht. Die Italiener bewundern die Deutschen, aber lieben sie nicht.« Kontrastiv, plakativ, geflügelt. Der Spiegel schreibt fast sieben Jahrzehnte später: »Viele Deutsche lieben Italien, viele Italiener bewundern Deutschland«. Deutschlands Liebe zu Italien soll eine unerwiderte bleiben, empirisch spricht eine 2017 von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte Studie dafür, dass emotionale Zuneigung, Nähe und Verbundenheit nach wie vor einseitig empfunden werden.
Diametral einander gegenüber stehen Italien und Deutschland auch nach dem Stereotypeninhaltsmodell, einem Ansatz, der Stereotype an zwei Dimensionen und deren Kombinationen festmacht: Wärme und Kompetenz. Das italienische Stereotyp, mit viel Wärme und wenig Kompetenz, schafft das Bild eines sympathischen, freundlichen Volkes, das man mag, Fähigkeiten werden ihm abgesprochen, es mangelt an Respekt. Invers dazu steht das deutsche Stereotyp mit wenig Wärme und viel Kompetenz: ehrgeizig, tüchtig, unterkühlt, der Status hoch, Land und Leute mag man nicht. Dazu passt auch eine Umfrage des Reader’s Digest, die 2004 in 19 europäischen Ländern durchgeführt wird. Deutschland schneidet nicht gerade als Sympathieträger ab. Fleißig seien sie ja, die Deutschen, aber auch die unbeliebtesten, das gleich in elf der befragten Länder. Das beliebteste Land, wie könnte es auch anders sein, Italien – Ort der Sehnsucht, das Essen köstlich, die Menschen sexy. Es folgen Spanien und Frankreich. Die drei Schönfußballnationen sind also auch die beliebtesten, das ließe abenteuerliche Hypothesen zu Kausalitäten zu.
Als ein Brite die Handtücher deutscher Urlauber in Brand setzte
Fast forward zu 2019 und einer Studie zu den unliebsamsten Touristinnen und Touristen. Die Deutschen sind nicht so unbeliebt wie die Russen, aber beliebter als russische Touristen bedeutet nicht wirklich beliebt. Denn der deutsche Urlauber, und das weiß keiner besser als der britische, stellt seinen Wecker auf 5:30 Uhr in der Früh, um mit seinem Handtuch die Sonnenliegen zu besetzen. Der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht der nonchalante, der im Urlaub auf entspannt tut und mit Ausschlafen provoziert. Ein regelrechter Handtuchkrieg brach in den Neunzehnachtzigerjahren aus, angeheizt von britischen und deutschen Boulevardzeitungen. Irgendwann meinte ein deutscher Anwalt, aus dem Handtuch auf der Liege erhebe sich kein Rechtsanspruch, es könne einfach entfernt werden. Und irgendwann später entfernte ein britischer Busfahrer in einem italienischen Urlaubsressort die besagten Handtücher, worauf die deutschen Urlauber noch »deutscher« reagierten. Am zweiten Tag standen sie noch früher auf, um ihre Handtücher auf die Sonnenliegen zu legen, worauf wiederum der britische Busfahrer reagierte. Am dritten Tag sammelte er zwanzig Handtücher von den Liegen, stapelte sie am Strand und setzte sie in Brand. Seine britischen Buspassagiere bejubelten ihren Helden.
Da ist die zwischenstaatliche Beziehung eh so fragil, historisch geprägt von Spannungen, Konflikten, Ressentiments gegenüber der Nation, die als Antithese zur eigenen konstruiert wird, rivalisierenden Großmachtambitionen, je nach Anlass – ob Flottenwettrüsten, Wiedervereinigung oder Rinderwahn – mehr oder weniger stark ausgeprägter Anti-Stimmung und dann kommt, als man denkt, es ist endlich Ruhe und Frieden eingekehrt, ein britischer Tourist auf die Idee, von seinem Reiseveranstalter Entschädigung einzufordern, weil er den Urlaub in Griechenland in einem Hotel verbringen musste, das voller deutsche Gäste war, die ja per se nicht das Problem waren, denn, räumt er ein, er sei ja kein Rassist. Auch nicht der Umstand war ausschlaggebend, dass sie, nicht alle – die eher stereotypen unter ihnen, weiß er zu differenzieren – bei Sonnenaufgang die Liegen mit ihren Handtüchern besetzten. Vielmehr war es das Unterhaltungsprogramm, das zur Gänze auf das deutsche Publikum abgestimmt war. Seine Familie wurde so von dem rein deutschsprachigen Programm ausgeschlossen, eine Teilnahme war nicht möglich. Entschädigung zu fordern, die ihm das Gericht zudem zuspricht, kränkt natürlich die zarte Seele des deutschen Revolverblattes, das davon lebt, eben nicht zu differenzieren. Die Bild Zeitung zeigt sich wehleidig, dem deutschen Urlauber stünde nicht nur Schadenersatz zu, sondern Schmerzensgeld, wenn er den Urlaub mit Briten verbringen muss und veröffentlicht nach dem Motto »selber blöd« eine Liste empfohlener, da britenfreier, Urlaubsdestinationen in Europa, darunter Österreich und die Schweiz, damals Austragungsorte der Fußballeuropameisterschaft und sichere Zonen, da sich England nicht qualifiziert hatte. Fußball. Man landet immer wieder beim Fußball.
»Hitler, Klinsman, Mataus. Don’t know any other footballers.«
1996 führt das Londoner Goetheinstitut eine Umfrage unter britischen Schülerinnen und Schülern durch, die berühmtesten Deutschen, so die schillerndste der Antworten: »Hitler, Klinsman, Mataus. Don’t know any other footballers.« Ein Diktator und zwei Fußballer. Soso. Während Mataus, im Übrigen kein anderer als Lothar Matthäus, eine Symbolfigur für die Wünsche des irgendetwas kompensieren wollenden Mannes und Klischees à la Hochzeit, Scheidung, Hochzeit, Scheidung, jünger, jünger, Osteuropa wurde, galt Jürgen Klinsmann als derjenige, der den Briten, dem Paradoxon zum Trotz, zeigte, dass »Jurgen the German« das Unvereinbare vereinbaren und sowohl deutsch als auch sympathisch sein kann. Zu einem regelrechten Hoffnungsträger wurde er, von einem Klinsmann-Effekt war die Rede, das Image der Deutschen bei den Briten würde revidiert, ja, nahezu revolutioniert werden. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, tradierte Stereotype zeigen sich hartnäckiger als es den sonnigsten Wünschen lieb ist und es war nur eine Frage der kurzen Zeit, bis alles wieder beim Alten war, sofern überhaupt etwas in Gang gesetzt worden war.
Dennoch ist dem Fußball das vereinende Potenzial nicht abzusprechen. Er wird gerne in der Friedenspädagogik eingesetzt, zur Förderung von Begegnung, Dialog, Integration, Partizipation, Gewaltprävention und Traumataarbeit in Nachkriegsgesellschaften und zeigt dort, wenn richtig begleitet, auch Effekte. Deutschland unterstützt Projekte in Krisengebieten, beispielsweise in Kolumbien, wo ehemalige Rebellen, die auf die Bevölkerung schossen und Menschen, die durch diese Rebellen Angehörige verloren, miteinander Fußball spielen. Letztere sollen so Vertrauen aufbauen und Vergebung üben können. Gespielt wird ohne Schiedsrichter, Konflikte sollen gemeinsam gelöst, der Frieden gelernt werden, letzten Endes die gesamte Gesellschaft eine neue Richtung bekommen. Als Frank-Walter Steinmeier das Land besucht, weist er auf das verbindende Element hin, das über Grenzen hinweg wirkt, im Sport im Allgemeinen, im Fußball im Speziellen, das zudem ein Markenzeichen Deutschlands sei.
Hans-Georg Erhart sieht den Fußball im Krieg, im Frieden und im Dazwischen. Sein Potenzial, Massen zu elektrisieren prädestiniere ihn dazu, auch von der Politik instrumentalisiert zu werden, bis hin für kriegerische Zwecke. Zudem sei die Berichterstattung geprägt von einem bellizistischen Sprachgebrauch: Killerinstinkt, Abnutzungskampf, in Kleinkriegen bekämpfen, bomben, den Gegner ausschalten, aus allen Rohren schießen, Abwehrschlacht liefern, bis aufs Messer kämpfen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Liz Crolley und David Hand vermuten, dass der Fußball besonders dann zu Kriegsreferenzen verleitet, wenn das deutsche Nationalteam beschrieben wird. Militärische Metaphern seien hier ein Ausdruck des wohl prägendsten Stereotyps, der Assoziation Deutschlands mit den beiden Weltkriegen und dem Mythos der Stärke und Unbezwingbarkeit. So finden sich in britischen Zeitungen im Kontext Fußball – die Tendenz gilt aber für die europäische Presse im Allgemeinen – Formulierungen wie: mächtiges Deutschland, führende Fußballmacht der Welt, Eroberung Europas, Beutezug, Marsch, Schlacht an zwei Fronten, Hinterhalt für den Gegner, Verteidigung in feindlicher Zone, Soldaten, Dampfwalze, andere überwältigen, zerstören, vernichten… Und sollten sie, allen Stereotypen zum Trotz, dennoch verlieren, so geht ihnen das Benzin aus wie Generalfeldmarschall Rommel in der Wüste.
Auch Effizienz ist als Klischeevorstellung aus dem deutschen Sein und deutschen Fußball nicht wegzudenken. Das Team spiele, als wäre es in einer Fabrik von Porsche produziert worden, sei ein Vorbild für Ordnung, Organisation und Disziplin, allesamt traditionell deutsche Qualitäten, versteht sich, nicht zu vergessen die typisch deutsche Gründlichkeit. Dieses Image scheint nicht ganz unwillkommen und wird in deutschen Marketingstrategien immer wieder gerne bedient.
Italienische Verhältnisse in Island
Anspielungen auf den Krieg sieht auch David Head, allerdings seien diese nicht immer negativ. Als Beispiel bringt er Gary Lineker, der Jürgen Klinsmann liebevoll als »Der blonde Bomber« bezeichnet – derselbe Lineker, übrigens, der 1990 den Satz prägt: »Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.« und viele Jahre später ebendiesen revidiert. Dieses Revidieren ist eine Blume, die nur sehr selten wächst. Denn an Stereotypen halten wir hartnäckig fest und zeigen uns in unseren Erklärungsmustern erfinderisch, in unseren Reaktionen äußerst gelenkig und biegsam, wenn es darum geht, sie nur irgendwie am Leben zu halten und unsere Meinung nicht ändern zu müssen. Spielt das deutsche Nationalteam nicht den Klischees entsprechend, dann spielt es undeutsch, es ist somit eine Ausnahme von der Regel. Vermutlich einfach ein schlechter Tag, der Rasen zu grün, der Himmel zu blau oder ein Spieler vergaß, seine Glücksunterwäsche zu tragen. Somit ist die Daseinsberechtigung des Stereotyps legitimisiert, es kann uns weiterhin lenken, bestimmen was wir wahrnehmen, woran wir uns erinnern, wie wir interpretieren. Porsche wird zur Analogie für Fußballspieler, nix Ferrari. Denn Italien steht für Dolce Vita und kinderreiche Großfamilien, so eine Umfrage, da ändert auch die niedrigste Geburtenrate Europas nichts daran.
Gesehen und erinnert wird, was dem Stereotyp entspricht. Es können noch so viele Berliner Flughäfen dazwischenkommen mit Fehlplanungen, Baumängeln, Kostenexplosionen, Schuldzuweisungen und Entlassungen von Menschen, deren Entlasser auch entlassen werden, Klagen, Schadenersatzforderungen, verschobenen Eröffnungsterminen und Eröffnungsfeierlichkeiten mit geladenen und ausgeladenen Gästen, Monitoren, die noch vor Fertigstellung ausgetauscht werden, weil sie mittlerweile das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben, einem Flughafen, der vor Inbetriebnahme saniert werden muss.
Ich könnte mit weiteren Beispielen fortfahren, werde ich nicht, ein Gegenrechnen wäre wohl etwas albern, schließlich können diese Probleme überall auftreten, in Deutschland und in Italien. Das tun sie auch, unterscheiden sich allerdings in der allgemeinen Perzeption, Bewertung und Gewichtung, werden in Deutschland zum vergessenen Einzelfall, in Italien zum erinnerten Gemeinplatz. Und manchmal entwickeln sich daraus amüsierliche Lehrbuchfallbeispielsituationen, so erlebt auf meiner Island-Reise. Ein Shuttle-Bus brachte uns von der Blauen Lagune zurück nach Reykjavik, der Zeitplan würde nicht eingehalten werden, informierte uns der Busfahrer. Einer, nur einer, ein deutscher Urlauber, zitierte den Busfahrer immer wieder zu sich und forderte für die Verspätung eine Erklärung, der Busfahrer blieb mild, der Herr blieb entrüstet. Irgendwann resignierte das »Deutsche-Pünktlichkeits-Klischee« und bemühte das »Südländer-Chaos-Klischee« mit den Worten: »Das sind ja italienische Verhältnisse!«
Das deutsche Italienbild ist ein bipolares, ausgemacht durch die Koexistenz negativer und positiver Zuschreibungen, zwei alternative Topoi, die, so Christof Dipper, je nach Bedarf und politischer Lage abgerufen und angepasst werden. Roberto Sala beschreibt den Einfluss der Entwicklung zu einer führenden Industrienation in den 1970er- und 80er-Jahren auf Image und Stellung des Landes als wesentlichen Teil des wohlhabenden Westens: leistungsfähige Wirtschaft, massive Expansion der Industrieproduktion, Exporte, Unternehmen mit wichtigen Positionen auf Weltmärkten, Gründungsmitglied des G7, Wirtschaftswunder. Dennoch bleibt das Bild eines armen Landes verankert und es dauert, bis der Wohlstand Italiens gesehen gewollt wird. Industrielles Leistungspotenzial scheint mit dem Italien-Merkmal Hedonismus unvereinbar zu sein, zudem gilt der wirtschaftliche Erfolg nicht für den Süden des Landes, aus dem die meisten Migrantinnen und Migranten stammen, die als Referenz für das Italienbild in Deutschland herhalten. Aber wenn Sie glauben, Deutsche hätten Vorurteile gegenüber Süditalienern, haben Sie noch nie Norditaliener erlebt.
Für diese, ich verallgemeinere jetzt schamlos und natürlich gilt das nur eingeschränkt, hört Italien sowieso südlich von Florenz auf, bei den großzügigeren kurz nach Rom oder Neapel, alles »darunter« ist nicht mehr Europa, sondern Afrika. Die Grenze wird nach Belieben gezogen, es geht schließlich nicht so sehr um eine präzise geografische Verortung, vielmehr um ein nicht ganz lokalisierbares Gefühlsgemisch von rückständig, bäuerlich, mafiös, arm, ungebildet, irgendwo im Süden. Früher wurde auch noch ungeniert diskriminiert. Als in den Neunzehnfünfziger- und -sechzigerjahren Arbeitsmigranten vom Süden in norditalienische Städte kamen, begegneten sie auf der Wohnungssuche der Aufschrift »Vermieten nicht an Süditaliener«, manche Banken gaben ihnen keinen Kredit und in Mailand und Turin verweigerten ihnen gewisse Restaurants den Zutritt.
Auch der Süden hatte ein karikatureskes Bild vom Norden. Aus dieser Zeit, 1956, stammt ein Film mit dem wunderbaren Totò, in dem der Neapolitaner mit seinem Bruder nach Mailand reist. Die Temperaturen mild, aber sie tragen Pelzmantel und Pelzhut, schließlich wurden beide im Vorfeld vor dem strengen Klima gewarnt, in Mailand sei es prinzipiell kalt, auch wenn es warm ist, dann herrsche eben warme Kälte. Auf der Piazza Duomo fragen sie einen italienischen Polizisten nach dem Weg, halten ihn, da in Mailand, für einen österreichischen General und sprechen ihn auf Deutsch, Französisch und Englisch an, wundern sich, dass er ihre Sprache versteht: »Ah, Sie sprechen italienisch!« »Na, was glauben Sie denn, wo wir sind? Wir sind in Mailand!« »Na eben!« In ihrer Sammlung stereotyper Vorstellungen der Süditalienerinnen und -italiener von ihren Landsleuten im Norden führt Iris Gruber folgende als bezeichnend an: arbeitsam, aktiv, dynamisch. Insbesondere die Lombardei gilt als Musterbeispiel und prägend, wenn es um assoziative Verknüpfungen geht: die progressivste aller Regionen in jeder Hinsicht, Geld und Statussymbole, wo man hinsieht, protestantisches Arbeitsethos statt Dolce Vita, man lebt, um zu arbeiten, alle sind reich und fühlen sich anderen überlegen. Ihre Hauptstadt, die Wirtschaftsmetropole Mailand, ist dementsprechend ein Konzentrat dieser Fantasien. Hektik, Stress und Eile diktieren den Alltag, der Gang ein schnellerer als in anderen Städten, Mailänderinnen und Mailänder sind, es wird wohl ein evolutionäres Phänomen sein, biologisch quasi gar nicht dazu imstande, langsam zu gehen, die Bezeichnung »passo milanese« wird geprägt. Der nächste Schritt scheint ein unausweichlicher zu sein, die Mailänder gelten als die »tedeschi d’Italia«.
Nun spielen bei diesen Bildern Objektivität und Komplexität eine bestenfalls untergeordnete Rolle und wir sind es gewohnt, einiges an Fehlern, Lücken, Reduktion, Willkür und Eindimensionalität zu tolerieren. Doch es bleibt interessant und verwirrend, der verwirrten Logik der Stereotype zu folgen. Ich rekapituliere. Deutschland und Italien sind inkompatible Antagonismen, allerdings nur, solange beide ihren Klischees entsprechen. Nicht nur, dass Italien nicht mehr Italien ist, wenn wirtschaftlich leistungsfähig, das Image kühl. Nein, es wird dann zu Deutschland. Nicht ganz ohne Erleichterung stelle ich fest, dass der Fußballstil keine conditio sine qua non für das Deutschsein ist, er darf italienisch bleiben. Hoch lebe die Biegsamkeit der Stereotype.
Essay, Fazit 174 (Juli 2021), Foto: Paperwalker
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