The! Way! Out!
Redaktion | 12. Oktober 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 176
Ein Essay von Ekaterina Degot. Ekaterina Degot leitet seit 2018 das Festival für zeitgenössische Kunst »Steirischer Herbst«. Mit ihrer heurigen Eröffnungsrede »The! Way! Out!« hat sie den durchaus vorhandenen Kritikern ihrer Indendantschaft eine deutliche Ansage erteilt. Wir bringen die Rede in einer sanft gekürzten Version.
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Ekaterina Degot, geboren 1958 in Moskau, ist russische Kunsthistorikerin und Kuratorin. Sie absolvierte ein Kunstgeschichtestudium an der Lomonossow-Universität in Moskau. Ab 1988 war sie leitende Kuratorin an der Tretjakow-Galerie und von 2014 bis 2018 künstlerische Leiterin der Akademie der Künste der Welt in Köln. Seit 2018 ist sie Indendantin des Steirischen Herbst. Degot veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Kunstmagazinen.
Ich will raus. Raus aus dem Lockdown. Raus aus der Pandemie, und raus aus den Maßnahmen gegen sie. Raus aus der Krankheit, und raus aus der Hygiene. Raus aus der Gefahr, und raus aus der Sicherheit. Ich möchte raus aus diesem Zaun hier um uns herum. Und ich muss Ihnen versichern, dass es heute, hier auf diesem Platz, am Ende dieser Eröffnung, die eine umzäunte Eröffnung ist, mehr Ausgänge als Eingänge geben wird. Weil ich weiß, dass auch Sie rauswollen. Stellen Sie sich vor, dass ich eine Studentin in der Sowjetunion bin, ganz am Ende des Kalten Krieges, von dem ich noch nicht weiß, dass er ganz am Ende ist – Enden und Anfänge sind schwer zu fassen. Was ich weiß, ist, dass es mir nie möglich sein wird, das Land zu verlassen, nicht mal als Touristin, nicht mal für einen kurzen Abstecher. Ich werde das »Draußen« nur träumen und indirekt erleben – über Bücher und Film vielleicht, obwohl auch sie nicht immer verfügbar sind. Ich bin in einer Kleinheit gefangen, in diesem riesigen Land, das sich winzig anfühlt, weil es keinen Platz für Kafka und auch nicht für Orwell hat. Dies wird für immer meine intellektuelle Klaustrophobie bestimmen. Stellen Sie sich vor, dass ich eine Schriftstellerin in Graz in den frühen 1950ern bin. Bevor es das Forum Stadtpark und bevor es den Steirischen Herbst gab. Aber ich weiß noch nicht, dass dies die Zeit »davor« ist, weil es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, die nicht voranschreitet. Schwere und dunkle Zeiten, die stillstehen wie ein Sumpf. »Wir sind wir. Graz ist Graz«, wie es Alfred Kolleritsch mit einem Gefühl der traurigen Resignation ausdrückte, als er seine Jugend nach dem Nationalsozialismus beschrieb. Als diese anonyme Schriftstellerin im Graz der frühen Fünfziger möchte ich nur raus. Und im Gegensatz zu meinem jungen Moskauer Selbst könnte ich als diese anonyme Schriftstellerin das Land verlassen. Aber ich fühle auch, dass diese Energie des »Raus-Wollens«, diese Energie der Negation einen Nutzen hat und mehr wert ist als die banale Geste, ein Zugticket nach Paris zu kaufen. Stellen Sie sich vor, dass ich eine afghanische Frau im Jahr 2021 bin. Ich weiß, dass die Amerikaner rauswollen, und es ist ihr Recht, denn es ist nicht ihre Geschichte. Ihr Weg hinaus führt sie nach Hause, ins Bekannte, zu dem, was ihres ist. Aber ich möchte auch hinaus, ins Unbekannte, zu dem, was nicht meines ist. Genau aus dem Grund, dass dies meine Geschichte ist, und ich sie nicht verdiene. Ich hatte das Unglück, am falschen Ort geboren zu werden. Ich habe das Recht, hinauszuwollen. Aber ich werde nicht mal aus dem Haus gelassen – von den Taliban. Und ich werde nicht aus meiner Identität als afghanische Person gelassen – vom Westen. Eine afghanische Person, die ihre eigenen Traditionen und Möglichkeiten haben soll, andere als im Westen, so sieht es zumindest der Westen. Also bin ich gefangen.
Sowohl die Rechte wie auch die Linke haben uns jetzt alle in einem bestimmten Rahmen gefangen. Es gibt eine rechtsradikale Kleinheit, mit Familie, Patriarchat und Fremdenfeindlichkeit. Es gibt eine linksradikale Kleinheit, mit unterdrückten Identitäten, Safe Spaces, Flugscham und einem Misstrauen gegenüber großen Narrativen. Ich möchte raus aus dem Kleinen. Ich möchte nicht nur hinaus aus Afghanistan, der Sowjetunion oder diesem Graz nach dem Nationalsozialismus. Ich möchte aus Prinzip hinaus aus dem »Hier und Jetzt«, das »Hier und Jetzt und sonst nichts« bedeutet. Hinaus aus der erstickenden Kleinheit, die jenen Gewalt antut, die nicht dazugehören. Ich bestehe auf ein Recht, woanders zu sein, jemand anderes zu sein. Dafür brauche ich Kunst. Die Kunst ist bei uns, um unsere Wirklichkeit, unsere Orte und unsere Zeiten darzustellen, aber auch, um sie zu negieren, denn nach Magritte wissen wir, dass eine Pfeife keine Pfeife ist, dass es umso weniger eine Pfeife ist, umso mehr es danach ausschaut. Indem sie das Leben auf eine überaus realistische Art und Weise darstellt, sagt die Kunst uns eigentlich, dass es etwas außerhalb davon gibt. Wenn sie das tut, ist die Kunst gefährlich für totalitäre Regime ebenso wie für noch nicht totalitäre, sondern einfach nur überregulierte, wie das, unter dem wir gerade leben. In der geängstigten und angstlösenden westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die von Sicherheit auf allen Ebenen besessen ist und allen Uneinigkeiten oder Konflikten mit rechtlichen wie moralischen Mitteln zuvorkommen möchte, ist es nicht mehr die Sphäre des Lebens, sondern die der Kunst, in der alles Unvorhersehbare möglich ist: bedeutsame Begegnungen, totale Zufälle, gewagte Vermutungen sowie tragische und unüberbrückbare Differenzen. Lassen Sie es uns nicht Freiheit nennen; das Wort ist gleichzeitig ein Zuviel und ein Zuwenig, ehrgeizig und abgedroschen. Lassen Sie es uns, etwas bescheidener, A Way Out, einen Ausweg, nennen. Some kind of way out. Irgendein Ausweg. Vielleicht muss ich ausgehen. Um einige Kleider oder Schuhe auszuführen, die sich seit fast zwei Jahren im Winterschlaf befinden, um ein Glas Wein zu trinken, um mich zu unterhalten. Nicht jede Kultur kennt übrigens diesen Begriff des »Ausgehens«. Ich würde mir etwa schwer damit tun, ihn ins Russische zu übersetzen. In Russland kann man ins Theater gehen oder jemanden besuchen, aber wenn man »ausgeht«, dann bedeutet das einfach, dass man physisch auf die Straße hinausgeht, um, sagen wir mal, den Mist rauszutragen. Warum nehmen wir, wenn wir im Deutschen, Englischen oder Französischen von »ausgehen« sprechen, an, dass es sich um eine Party handelt und nicht um einen Spaziergang mit dem Hund? Wussten wir immer schon, dass es, wie während der Lockdowns, die hinter uns liegen, eines Tages ein seltenes Vergnügen sein wird, sich auf der Straße aufzuhalten? Oder ist es vielleicht so, dass es wirklich ein festlicher Augenblick, eine Feier ist, wenn man sich selbst zurücklässt und andere trifft? Nicht die Feier eines »Wir«-Gefühls, das noch zerbrechlicher ist als unsere Egos. Sondern die Feier dessen, dass man einfach nicht die ganze Zeit in sich selbst ist und rausgeht? Allerdings, um auszugehen muss man in einer Stadt sein. Auf dem Dorf geht man kaum aus: Da es dort keine anderen, keine Fremden gibt, riskiert man auch nicht, ihnen gegenüberzustehen. Man bleibt sicher bei sich daheim, selbst wenn man auf den Markt geht. Ist Graz eine »Drinnen-« oder eine »Draußen-Stadt«? Es gibt wunderschöne Parks in Graz, in denen sich die Menschen sehr zuhause fühlen, aber sehr wenige Plätze, auf denen sie einer anderen architektonischen Logik untergeordnet wären als in ihrem häuslichen Leben, der sozialen oder politischen Logik einer Agora, eines Forums, einer Arena.
Man kann das auch lieben. Wie der große Grazer Schriftsteller Dževad Karahasan einst bemerkte, war er in Graz »nachhaltig beeindruckt von der Liebe, die man in dieser Stadt dem Stadtpark entgegenbringt«, und irritiert »von der Geringschätzung, die in der Beziehung dieser Stadt zu ihren Plätzen zum Ausdruck kommt«. Also, Graz: eine »Drinnen-Stadt«? Graz hat eine starke »Drinnen«-Atmosphäre, nicht so stark wie das Moskau meiner Jugend, wo alle wichtigen Gespräche in der Küche stattfanden, aber nah dran – hier finden die Gespräche auf den Markplätzen statt. Es gibt großartige Märkte in Graz, aber es gibt wenig Kaffeehäuser im wienerischen Sinne, die, wo man Zeitung lesen soll, während man Fremde durch große Fensterscheiben beobachtet, wo man sich eine politische Meinung bilden soll, vermutlich eine kritische, denn zu viel Beobachtung führt zweifellos zu einer überentwickelten Kompetenz auf diesem Gebiet. Diese Cafés sind Orte eines sitzenden politischen Flaneurtums. Elfriede Jelinek trauerte einst um das Café Erzherzog Johann in der Sackstraße, wo sie sich mit anderen Schrifstellern traf, allen voran Fredy Kolleritsch. Jetzt ist es womöglich, schrieb sie, »ein vampirischer Ort, der vielleicht in der Nacht seine Zähne in die Passanten schlägt, die vorübergehen«. Es wird niemanden überraschen, dass Orte, an denen politisch brisante Gespräche geführt werden, ihre gefährliche Störkraft über Jahre beibehalten.
Wie soll man die Mauer dieser unpolitischen Häuslichkeit durchbrechen? Der Steirische Herbst stellt und beantwortet diese Frage seit Jahrzehnten. Aber heutzutage ist nicht nur der konservative Geist gegen uns – es ist ein konservativer Geist, der durch die Pandemie und die allgemeine Atmosphäre der Angst enorm bekräftigt wurde. Die Pandemie hat uns alle klein gemacht, beschränkt auf unsere eigenen vier Wände. Sie hat uns auch kleingeistig gemacht. Alles auf planetarischer Ebene Große wird von der Linken wie von der Rechten verdächtigt, und vieles davon zurecht – an Ihnen, zu entscheiden: Marktwirtschaft; Überproduktion; unverantwortliche Reisen; universalistische Ideen, die nur die weiße, männliche Macht widerspiegeln; berufliche Ambitionen; die großen Narrative, die die letzte Säuberung überlebt haben. Die Kunst könnte man leicht auch mit diesem Bad ausschütten. Denn in der Kunst geht es immer darum, mit dem Status quo unzufrieden zu sein. Selbst wenn es ein überaus bescheidenes und biederes Stillleben ist, handelt es immer von etwas anderen, etwas Größerem. Die Pandemie hat uns auch alle alt gemacht. Wir sollen zufrieden sein mit dem, was wir haben, nicht zu viel wollen, nicht davon träumen, um die Welt zu reisen. Wir müssen akzeptieren, dass viele Dinge außerhalb unserer Reichweite liegen, dass es zu spät ist. Wir sollen zufrieden sein in unserem Daheim, mit selbstgebackenem Brot und Enkeln, die wir irgendwann vielleicht haben werden. Es ist ein Pensionistenleben an einem Ort, der früher als Pensionopolis bekannt war.
Es gibt einen Lifestyletrend, der bereits vor der Pandemie eine riesige internationale Karriere hingelegt hat: das dänische Konzept der »Hygge«. Durch Zeitschriften wissen wir mittlerweile alle, was Hygge ist, und in der deutschsprachigen Welt braucht man dieses Wort nicht einmal, denn wir haben unsere biedermeierliche Gemütlichkeit. Hygge bedeutet, zuhause zu bleiben, besteht aus einfachen Freuden: Wärme, Behaglichkeit, Kaschmirpullover, Familie und Kürbissuppe. Am meisten bedeutet Hygge, sich von den Problemen dieser Welt fernzuhalten, die Tür zur Welt für den inneren Frieden und die innere Stabilität zu schließen. In Graz sehen wir sogar eine sehr erfolgreiche Outdoorvariante von Hygge – mit Picknicks, Fahrrädern und viel, viel Sport. Erlauben Sie mir, etwas Skandalöses zu sagen: Österreich könnte das Dänemark Mitteleuropas sein. (Oder ist Dänemark, seit Hamlet, vielleicht die beste Metapher für Allesmögliche?) Das Gefühl der Kleinheit zu hegen, Glück darin zu finden, ist sehr dänisch, aber auch sehr nachkriegsösterreichisch. Das Gleiche gilt, wenn man die Suche nach Glück zum Hauptziel seines Lebens macht. Oder sich auf die sozialistische Vergangenheit beruft, mit ihren Annahmen der Gleichheit. Natürlich basiert diese Gleichheit wie überall auf dem – zumindest geistigen – Ausschluss derjenigen, die nicht gleich oder nicht gleich genug sind, mit ihren unterschiedlichen Pässen und anderen Hautfarben. In Dänemark haben einige mutige Denker bemerkt, dass eine Hygge-Situation um ein wärmendes Feuer herum weniger hyggelig wird, wenn Nicht-Hygge-Menschen dabei sein, also Ausländer. Ich glaube, das wissen wir auch hier. Bei der Gemütlichkeit geht es um Konformität und Konsens, die von denen zunichtegemacht wird, die sie stören. Diejenigen, die ein Problem benennen, sind selbst ein Problem. In Dänemark hat man auch bemerkt, dass rechte Politiker permanent Hygge-Ideologie als fremdenfeindliches Argument einsetzen. Als Argument für Sicherheit auf allen Ebenen, wo alles, was diese Sicherheit bedroht, nicht toleriert werden kann. Aus dem aktuellen, von Hygiene dominierten Blickwinkel ist es übrigens sicherer, draußen auf der Straße als drinnen zu sein. Das ist kontraintuitiv, denn die Straßen sind immer noch voller Hurricanes und Tornados, voller gefährlicher Fremder, mit ihren Autos und blitzschnellen Motorrädern, aber in letzter Zeit war alles ziemlich kontraintuitiv. Aber aus dem Blickwinkel der Kunst ist es immer noch riskant, auf der Straße zu sein, und es ist genau dieses aufregende ästhetische Risiko, das uns dieses Jahr im Festivalprogramm fasziniert. Es ist riskant, wenn Künstler mit aggressiver Werbung, gesprächiger, überpräsenter Architektur sowie abgelenkten und ablenkenden Massen um die Aufmerksamkeit des Publikums streiten. Die Kunst tritt in einen Wettstreit mit dem Wirklichen, aber das ist der einzige Weg, wirklich zu werden.
Besonders am Anfang dieses Steirischen Herbst, aber auch über den ganzen Monat, den er heuer dauert, brechen wir aus den White Cubes der Kunsteinrichtungen aus. Wir wollen sie im echten Leben treffen. Parks werden vielleicht zu den Plätzen, die in Graz fehlen, Straßen – zu den seltenen Kaffeehäusern, die für die Lektüre und die Bildung eines politischen Bewusstseins da sind. Wir zählen darauf, dass Sie da sind, da draußen. Kunst hat die magische Fähigkeit, uns glücklich zu machen. Sie macht jedenfalls mich sehr häufig glücklich. Aber sie ist nicht dazu da, uns glücklich zu machen. Vielleicht ist sie dazu da, uns unzufrieden zu machen mit den Orten, an denen wir uns befinden, und den Menschen, die wir sind. Diese Unzufriedenheit nennt man Hoffnung, Verlangen, sie heißt Bedeutung. Das Leben ist der Ausweg für die Kunst, und die Kunst der Ausweg für das Leben – oder, wenn wir vorsichtiger sein wollen: der Ausweg aus dieser merkwürdigen umzäunten Situation, in der wir uns wiedergefunden haben, auf physischer wie metaphorischer Ebene. Hiermit eröffne ich das heurige Festival, mit großem Dank an alle, die dazu beigetragen haben. Ja ich weiß, das ist alles tiefschwarz und furchtbar. Kulturpessimismus wäre ein Euphemismus für meine ungeschönten Wahrheiten. Ich tippe hier und ich kann nicht anders, aber ich werde nicht zwingend zum Wiederholungstäter. Sie erinnern sich an mein Intro! Bitte melden Sie sich, sollte Ihnen eine passende Arbeit einfallen. Am liebsten etwas mit Hunden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vorliegender Text ist eine sanft gekürzte und auf Gendersachen verzichtende Version. Eine komplette Niederschrift der Rede finden Sie auf der Webseite des Steirischen Herbst. steirischerherbst.at
Essay, Fazit 176 (Oktober 2021), Foto: Marija Kanizaj
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