Was uns Marx heute noch zu sagen hat
Redaktion | 10. November 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 177
Ein Essay von Hans-Werner Sinn. Über den Einfluss von Karl Marx auf die weitere Forschung und den Erkenntnisprozess der Sozialwissenschaften. Wir bringen diesen Text von Hans-Werner Sinn aus dem Jahr 2017 nochmals als Essay, weil er durch den ersten Platz für die KPÖ bei den Wahlen in Graz wieder mehr als aktuell geworden ist.
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Hans-Werner Sinn, geboren 1948 in Bielefeld, ist Ökonom. Der emerierte Ordinarius der Ludwig-Maximilians-Universität München war von 1999 bis 2016 Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Seit 2017 ist er ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. hanswernersinn.de
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Der Sozialismus hat den Systemwettbewerb mit dem Kapitalismus verloren. Ineffizienz und Gewaltherrschaft waren die absehbaren Folgen des Versuchs, eine Zentralverwaltungswirtschaft mit Kommandos statt pekuniären Anreizen zum Laufen zu bringen. Als das auch der Letzte merkte, brach das System zusammen. Ist Marx deshalb obsolet? Mitnichten, denn obwohl Marx die sozialistische Revolution prognostiziert und gefordert hat, hat er nur wenig über den Sozialismus geschrieben, sondern sich stattdessen umso intensiver mit der Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft beschäftigt. Viele der marxschen Behauptungen wurden zwar von der Volkswirtschaftslehre verworfen. Und die Werturteile, die er in seine Analysen einfließen ließ, entsprechen nicht dem Wissenschaftsverständnis, das mit Max Weber Konsens in den Sozialwissenschaften geworden ist. Dennoch hat Marx viele interessante Gedanken geäußert, die nachhaltigen Einfluss auf die weitere Forschung und den Erkenntnisprozess der Volkswirtschaftslehre und der anderen Sozialwissenschaften hatten.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein
Das gilt auf jeden Fall für Marx’ Grundthese, dass nicht, wie Hegel meinte, das Bewusstsein das Sein, sondern ganz im Gegenteil das Sein das Bewusstsein bestimme, dass also die objektiven Produktionsverhältnisse letztlich den ideologischen Überbau in Form des Staatswesens, der Gesetze und der medialen Mehrheitsmeinung determinieren. Es gibt kein Primat der Politik über die Gesetze der Ökonomie. Vielmehr bestimmen die ökonomischen Gesetze den Rahmen, innerhalb dessen sich die Politik bewegen kann. Systeme, die sich nicht an den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen orientieren, sondern aufgrund bloßer Wunschvorstellungen von Ideologen, Theologen oder Ethikern eingerichtet werden, gehen unter, weil sie ökonomisch nicht funktionieren und dem Wettbewerb mit anderen Systemen nicht standhalten. Das Schicksal des Kommunismus beweist dies ja selbst in aller Klarheit. Gerade in der Fehlerhaftigkeit der marxschen Prophezeiung eines dauerhaften Übergangs zum Sozialismus liegt der Beweis für die Richtigkeit seiner Grundthese vom Primat der ökonomischen Verhältnisse.
Ökonomen sind in dieser Frage häufig mit Politikern uneins, die stets das Wort vom Primat der Politik im Mund führen. Ironischerweise sind es gerade linke Politiker, die an die Möglichkeiten politischer Interventionen in das Marktgeschehen glauben, während die Ökonomen auf die Dominanz der ökonomischen Gesetze verweisen und viele der Interventionen als unwirksam, wenn nicht kontraproduktiv, zurückweisen. Man denke nur an die Mindestlohngesetzgebung, die europäischen Rettungsschirme, die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) oder die Regeln für die Inklusion von Migranten in den Sozialstaat, die derzeit starke Magnetwirkungen entfalten. Ökonomen sind wie Marx vom Primat der ökonomischen Gesetze über die Wünsche der Politik und der Medien überzeugt. In diesem Sinne stehen sie heute Marx häufig näher als jene, die sich explizit auf ihn berufen.
Dass es ein Primat der ökonomischen Gesetze über die Politik gibt, heißt nicht, dass man auf den Staat verzichten kann. Die Marktwirtschaft ist nämlich keine Anarchie, sondern verlangt ganz im Gegenteil einen festen gesetzlichen Ordnungsrahmen, damit sie überhaupt funktionieren kann. Dabei stehen das Zivilrecht und das Strafrecht an erster Stelle, denn die Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Tausch von Gütern und Leistungen ist die Sicherung von Eigentumsrechten an eben diesen Gütern und Leistungen. Nur auf der Basis gesicherter Eigentumsrechte an produzierten Gütern und den Produktionsfaktoren, von der Arbeit über Kapitalgüter bis zum Boden, können Märkte ihre segensreichen Wirkungen entfalten. Und natürlich gibt es Bereiche, in denen der Markt durch eine Staatswirtschaft ergänzt werden muss, weil er nicht funktioniert, wie etwa im Umweltbereich, wo Fehler auftreten, weil sich Märkte für die Schadstoffe nicht leicht herstellen lassen, oder bei öffentlichen Gütern, die nur in einer für alle gemeinsamen Qualität hergestellt werden können. Die klassischen Beispiele sind Straßen, Brücken oder Deiche. Schließlich versagt der Markt auch bei der Aufgabe, eine als gerecht empfundene Einkommensverteilung herzustellen. Deswegen muss die Marktwirtschaft durch eine sozialstaatliche Umverteilung von reich zu arm ergänzt werden.
Marx hat den Standpunkt vertreten, dass die ökonomische Basis einer Volkswirtschaft sich unaufhörlich weiterentwickele, während der ideologische Überbau in Form der Meinungen der herrschenden Klasse – heute könnte man wohl vom »politisch-medialen Komplex« sprechen – unflexibel sei. Der Mangel an Flexibilität im ideologischen Überbau führe im Laufe der Zeit zu wachsenden gesellschaftlichen Spannungen, die schließlich in Umbrüchen, wenn nicht gar einer Revolution, enden würden.
Was könnte aktueller sein als diese Aussage? Wenn man bedenkt, wie in den USA und Großbritannien die durch die Kräfte der Globalisierung und die Migration bedrängten Unter- und Mittelschichten sich 2016 erfolgreich gegen das Establishment aufgelehnt haben, leuchtet Marx’ These unmittelbar ein. Der medial-politische Komplex reagierte auf den Realitätsschock mit der Behauptung, die Menschen seien Opfer von Populisten geworden, so als wüsste man nicht, dass in einer Demokratie stets Populisten regieren. Populisten sind immer nur die anderen, die nicht oder noch nicht an der Macht sind und der eigenen Partei die lukrativen Posten im Staatsapparat abspenstig machen wollen. Welch eine verquere Definition! Ähnliches Unverständnis hat die herrschende Klasse stets gegenüber Aufrührern ihrer Zeit gezeigt, die ihre Positionen ernsthaft infrage stellten. Natürlich bedeuten die Wahl Donald Trumps und das Referendum zum Brexit keine Revolutionen im marxschen Sinne. Wohl aber stehen sie für Umbrüche, die aus der wachsenden Dichotomie zwischen ideologischem Überbau und ökonomischer Basis zu erklären sind. Wer die Wahlergebnisse auf die Verführungskünste und persönlichen Defizite eines Trump zurückführen möchte, bewegt sich auf der äußersten Oberfläche der Erkenntnis.
Marx als Ökonom
Zu Marx’ größten wissenschaftlichen Fehlleistungen gehört die Arbeitswerttheorie, die wohl vor allem ideologisch begründet war – auf ihr ruhte schließlich die Theorie des Mehrwerts und der Ausbeutung. Die Behauptung, dass sich die relativen Güterpreise in der Marktwirtschaft grundsätzlich nach der in den Waren steckenden Arbeitszeit richten, ist schlichtweg falsch, denn erstens sind die Löhne nur eine von vielen Kostenkomponenten einer Firma und zweitens sind Preise grundsätzlich Knappheitspreise, die ihren Wert auch von den Präferenzen und der gegenseitigen Konkurrenz der Nachfrager herleiten. Was hat beispielsweise der Preis eines Gemäldes von Rembrandt mit dem Lohn des Meisters zu tun? Was hat der Preis des Erdöls mit dem Lohn der Arbeiter am Bohrloch zu tun? Nichts, oder so gut wie nichts. Wegen der Arbeitswerttheorie und wegen der offenkundigen Fehlleistung Marx’ im Bereich der Verteilungstheorie und der damit auf das Engste zusammenhängenden mikroökonomischen Preistheorie, der Königsdisziplin der Volkswirtschaftslehre, wird Marx von den meisten angelsächsischen Ökonomen nicht als jemand wahrgenommen, der Wesentliches zur Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen beigetragen hat.
Das jedoch ist nach meiner Einschätzung ein Fehler, denn die wahre Leistung von Marx liegt in der Makrotheorie. Er war einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat diese Teildisziplin wesentlich begründet. Vor ihm hatten Begriffe wie »Nationaleinkommen«, »Konsum« oder »Investition« kaum eine Relevanz in der Theorie gehabt. Marx wusste und erklärte, dass das Nationaleinkommen als Wertsumme der neu produzierten Güter für den laufenden Konsum und für die Akkumulation des Kapitals verwendbar war. Auch John Maynard Keynes konnte seine Theorie von der Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage für die Stabilität der Wirtschaft nur mithilfe solcher Aggregatvorstellungen entwickeln.
Auf der Basis seiner makroökonomischen Definitionen gelang es Marx im zweiten Band seines Hauptwerkes »Das Kapital«, eine Wachstumstheorie zu entwickeln, die als Vorläufer der später von Evsey Domar oder Paul Romer entwickelten Theorien des Wachstums bei einer konstanten Relation von Kapital und Sozialprodukt gelten kann. Marx zeigte dort auch unter Verwendung numerischer Rechnungen, dass Wachstum grundsätzlich nicht durch Konsum, sondern durch Konsumverzicht, nämlich Ersparnis und Akkumulation von Kapital, zustande kommt. Je größer der Anteil des Volkseinkommens ist, der nicht konsumiert, sondern gespart und investiert wird, desto höher ist die Wachstumsrate der Ökonomie.
Die Sowjetunion hat auf der Basis der marxschen Wachstumstheorie in der Nachkriegszeit versucht, eine Strategie zur Überflügelung des Westens zu entwickeln. Wenn ihr der Erfolg versagt blieb, so vor allem auch deshalb, weil übersehen wurde, dass die von Marx behauptete Proportionalität von Sparquote und Wachstumsrate nur dann gewährleistet ist, wenn eine hinreichend große industrielle Reservearmee von Arbeitslosen zur Verfügung steht, die sicherstellt, dass auch die Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte in Proportion zum Kapitaleinsatz wachsen kann. Sobald das Kapital schneller wächst als der mögliche Arbeitseinsatz und die Produktionsstätten nicht einfach nur proportional aufgebläht werden können, sondern gezwungen sind, arbeitssparende Verfahren zu verwenden, wird der Wachstumseffekt aufgrund einer Akkumulation des Kapitals abgeschwächt, und die marxsche Formel gilt nur noch in modifizierter Form. Das hat auch Marx selbst gesehen und im dritten Band, der von Engels erst postum editiert und herausgegeben wurde, ausführlich analysiert. Nach der Methode der abnehmenden Abstraktion sah er das Wachstumsmodell des zweiten Bandes, das auf konstanten Proportionen basierte, nur als gedanklichen Zwischenschritt zu einer realistischeren Beschreibung eines Wachstumsprozesses, der durch eine zunehmende Kapitalintensivierung der Produktion gekennzeichnet ist. Er sprach in diesem Zusammenhang von der wachsenden »organischen Zusammensetzung des Kapitals«, also einer Zunahme der Relation von fixem und variablem Kapital, oder in heutiger Sprache: einer Zunahme der Relation von Produktionskapital und Arbeitskräften.
Rolle der Nachfrage
Marx war indes weniger an den Bedingungen des Wachstums als an den Ursachen von Krisen interessiert. So richtig es ist, dass Wachstum nur aus Ersparnis und Investition resultieren kann, so wichtig ist zugleich die Rolle des Konsums als eines wesentlichen Elements der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Stockungen im Konsum können, wie Marx richtig erkannte, Unterkonsumtionskrisen hervorrufen, die die Wirtschaft in eine konjunkturelle Abwärtsspirale ziehen. Insofern bereitete Marx die später von John Maynard Keynes entwickelte nachfragebasierte Konjunkturtheorie vor, die gerade in den vergangenen Jahren sehr häufig bemüht wurde, um auf die negativen konjunkturellen Wirkungen einer angeblichen Austeritätspolitik in Südeuropa hinzuweisen.
Aber Marx wie auch Keynes würden fehlinterpretiert, wollte man ihnen die Behauptung in die Schuhe schieben, dass es bei der Nachfrage speziell nur auf die Konsumnachfrage und die Massenkaufkraft ankomme. Beide wussten natürlich und betonten, dass auch die Nachfrage der Unternehmen nach Kapitalgütern, die sie akkumulieren, ein wesentliches Element der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist, das im Falle von Unterbrechungen ebenfalls zu krisenhaften Störungen im Wirtschaftsablauf führen kann.
Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate
Überhaupt sind wohl die Krisentheorien Marx’ wichtigste Beiträge zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre. Neben und eigentlich noch vor der Unterkonsumtionstheorie kommt dabei der Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate, die im dritten Band des »Kapital« entwickelt wird, eine besondere Bedeutung zu. Die Profitrate, die wir heute Ertragsrate oder Rendite nennen, fällt nach Marx im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung tendenziell auf ein immer niedrigeres Niveau, weil sich die organische Zusammensetzung des Kapitals erhöht, also das Kapital schneller akkumuliert werden kann, als die Zahl der Arbeitskräfte wächst. Es wird immer mehr Kapital pro Arbeiter angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient.
Marx prognostizierte, dass die fallende Profitrate irgendwann den Punkt erreichen müsse, an dem die Rendite für die Unternehmer zu gering sei, als dass sie neue Investitionen wagen würden. An diesem Punkt komme es zu einem Investitionsstreik, der die Wirtschaft in eine Krise stürze, weil der unterlassene Kauf von Investitionsgütern die Hersteller dieser Güter ebenfalls veranlasse, weniger Vorprodukte zu kaufen und es somit zu einer alle Wirtschaftsbereiche umfassenden Kettenreaktion komme. Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate verknüpft also die Theorie des Wachstums bei steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals mit der Nachfragetheorie und wird damit zur Theorie einer endogenen Krise des kapitalistischen Systems. Diese Krisentheorie ist hochaktuell. Denn heute, 150 Jahre nach Marx, zeigen sich deutliche Anzeichen für langfristig fallende Kapitalrenditen. Bekanntlich krebsen die Zinsen nun schon seit Jahren herum, und Teile der Welt, so Süd- und Westeuropa sowie Japan, scheinen von einer nicht enden wollenden Krise erfasst zu sein.
Manche Ökonomen, so zum Beispiel Carl Christian von Weizsäcker oder auch Lawrence Summers, der ehemalige Finanzminister der USA, interpretieren die fallenden Zinsen und die langwährende Krise, in der sich die westliche Welt seit 2008 befindet, als »säkulare Stagnation«. Das ist ein Begriff, der von Alvin Hansen, einem Zeitgenossen von Keynes, – vermutlich auch unter dem Einfluss von Marx – schon in den 1930er Jahren geprägt wurde. Die These von der säkularen Stagnation besagt, dass die Menschheit bereits zu viel investiert hat, sodass die Rentabilität der noch verbleibenden Investitionsprojekte nicht mehr hoch genug ist, um selbst nur einen sicheren Zins von Null verkraften zu können. Da ein Zins von Null in einer Geldwirtschaft nicht leicht unterschritten werden kann, droht der Investitionsstreik mit einem ewigen Siechtum, wenn nicht einer Dauerkrise.
Das alles ist der Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate sehr ähnlich, nur dass die modernen Autoren als Konsequenz nicht den Systemwechsel, sondern eine nachfragestimulierende staatliche Budgetpolitik fordern. Wenn die private Investitionsgüternachfrage unzureichend ist, solle der Staat in die Bresche springen, indem er die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch kreditfinanzierte Staatsausgaben so weit erhöht, dass die fehlende Investitionsnachfrage kompensiert wird. Von Weizsäcker argumentiert, dass eine nach dem Umlagesystem konstruierte Rentenversicherung, die, wie man zeigen kann, eine versteckte Staatsverschuldung ist, sowie auch andere Schattenhaushalte, mithilfe derer sich die Schuldenschranken der EU umgehen lassen, dabei nützliche Nachfragedienste leisten können. Stets wird der Konsum zukünftiger Generationen zugunsten gegenwärtiger Generationen gesenkt, was nach seiner Meinung die heutigen Nachfragedefizite ausgleichen kann. Und Summers redet einer Überwindung oder Abschaffung gesetzlicher Schuldengrenzen das Wort.
Andere Ökonomen, wie etwa Kenneth Rogoff, nehmen die Gefahr einer säkularen Stagnation ernster und fordern, dass man das Bargeld abschaffen müsse, um den Zins so stark negativ machen zu können, dass neue Investitionen wieder rentabel werden. Ohne eine Einschränkung des Bargelds kann der Zins in einer Geldwirtschaft nicht, beziehungsweise nur im Umfang der Tresorkosten, negativ werden, denn niemand würde sein Geld zu negativen Zinsen an jemand anderen verleihen, wenn er die Möglichkeit hat, es billiger aufzubewahren.
Die Theorie der säkularen Stagnation hat insbesondere auch bei der EZB viel Anklang gefunden, sei es, weil sie die Wirtschaft beleben will, sei es, weil sie Interesse an einer Politik hat, die der mandatswidrigen Rettung überschuldeter Banken und Firmen in Südeuropa dient. Der EZB-Rat hat den Zins auf Einlagen, die die Banken bei ihren nationalen Notenbanken unterhalten, bereits vor einiger Zeit in den negativen Bereich gedrückt und dadurch erreicht, dass auch die Zinsen auf dem Interbankenmarkt negativ wurden. Und am liebsten würde er diese Politik wohl noch weiter intensivieren. Das Problem ist nur eben das Bargeld. Wegen dessen Existenz lassen sich die Zinsen nur bis zur Höhe der Tresorkosten negativ machen, denn die Sparer würden ihr Geld lieber bei sich halten, als es zu verleihen, wenn der Negativzins die Tresorkosten übersteigt. Die Tresorkosten sind deshalb in einer Geldwirtschaft die Grenze, bis zu der die Zentralbank den Zins negativ machen kann.
Schon heute scheint der Negativzins an seiner Grenze angekommen zu sein. Große Anleger wie Banken und Versicherungen, die die Möglichkeit haben, Bargeld zu relativ niedrigen Kosten pro Euro zu halten, horten gewaltige Geldbestände, um den negativen Zinsen zu entkommen. Es gibt einzelne Banken, die hinter vorgehaltener Hand bekunden, dass sie 500-Euro-Scheine im Umfang von weit über zehn Milliarden Euro in riesigen Lagerstätten aufbewahren. Der scheidende Vorstandsvorsitzende der Munich Re, der größten Rückversicherungsgesellschaft der Welt, Nikolaus von Bomhard, hat bei seiner Abschiedsrede 2016 sogar ganz offen bekundet, dass sein Unternehmen große Bargeldbestände hält, um den Negativzinsen auszuweichen. Die Nachfrage der Banken und Kapitalsammelstellen nach Bargeld ist mittlerweile so groß geworden, dass man sogar Schweizer Bergwerkstollen anmietet.
Dem EZB-Rat sind diese Ausweichmanöver ein Dorn im Auge. Um sie zu erschweren, hat er 2016 beschlossen, die 500-Euro-Scheine allmählich aus dem Verkehr zu ziehen. Damit zwingt er die Tresorinhaber, ersatzweise 200-Euro-Scheine zu lagern, und da die Geldhaltung in den Tresoren damit etwa zweieinhalbmal so teuer wird, gewinnt er etwas mehr Luft für negative Zinsen. Sollte das nicht reichen, kann er die 200-Euro-Scheine auch noch abschaffen und die Lagerung von 100-Euro-Scheinen erzwingen, was die Tresorkosten abermals verdoppeln würde. Ja, auch an eine völlige Abschaffung des Bargelds ist perspektivisch zu denken, um jegliche Schranken für negative Zinsen zu beseitigen.
Entwertung und Schöpferische Zerstörung
Die marxsche Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate hat mit der Null- und Negativzinspolitik der EZB neue Relevanz bekommen. Die Profitrate des Kapitals ist derzeit offenbar so stark gesunken, dass die Firmen nur noch zu Investitionen verführt werden können, wenn man härteste Mittel wählt und ihnen das Geld beinahe hinterherwirft; ja, sie irgendwann sogar dafür bezahlt, dass sie sich Geld leihen und es investieren. Dennoch wäre es überzogen, Marx für die EZB-Politik in Anspruch nehmen zu wollen, denn erstens hat er sich über Geldpolitik nicht ausgelassen und zweitens sprach er ja nur vom »tendenziellen« Fall der Profitrate. Letzteres tat er deshalb, weil er beständige Gegenkräfte gegen diesen Fall am Werke sah, die den Rückgang der Kapitalrendite temporär unterbrechen und aufheben können. Dabei kommt seiner Theorie von der Entwertung des Kapitals eine besondere Bedeutung zu.
Mit Entwertung meint Marx zunächst einmal eine ständige relative Entwertung in Relation zum Arbeitswert, die durch technischen Fortschritt zustande kommt, kurzum produktivitätsgetriebene Lohnsteigerungen. Darüber hinaus spricht er aber immer wieder von der krisenbedingten Entwertung des Kapitals. Die Entwertung des Kapitals treibt die Profitrate automatisch wieder in die Höhe, weil sie den Nenner des Quotienten aus Profiten und Kapitalwert senkt. Sie tut es aber auch deshalb, weil sie dem technischen Fortschritt in Form neuer, innovativer Unternehmen den Weg ebnet und ihnen die Möglichkeit bietet, auf den Ruinen alter, in Konkurs gehender Firmen neue Unternehmungen zu starten, die die Maschinen und Gebäude sehr billig aus der Konkursmasse erwerben können. Die Rentabilität des Kapitals wird also durch die Vernichtung alten Kapitals wiederhergestellt. Diese Sicht der Dinge ist später vom Ökonomen Joseph Schumpeter vertieft worden, der 1912 dazu seine »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« veröffentlichte und noch viel später, während des Zweiten Weltkriegs, in den USA sein Buch »Capitalism, Socialism and Democracy«. Schumpeter prägte dort den Begriff der »schöpferischen Zerstörung«, um den Neuanfang auf den Ruinen alter Industrien zu beschreiben.
Das sind äußerst wichtige Zusammenhänge, die in der modernen Theorie der Wirtschaftsblasen weiterentwickelt wurden. Eine Blase entsteht zumeist durch leicht verfügbaren Kredit, der übermäßige Investitionen ermöglicht. Dabei handelt es sich vornehmlich, doch nicht allein, um Immobilieninvestitionen, die bekanntlich sehr viel Kapital absorbieren. Immerhin bestehen ja fünf Sechstel des Kapitalstocks einer entwickelten Wirtschaft, wie sie Deutschland hat, aus Immobilien, und nur ein Fünftel aus Ausrüstungskapital im Sinne von Maschinen und Anlagen. Die Investitionen treiben die Preise der Altbestände an Immobilien hoch und beleben die Bauwirtschaft, was selbst wiederum die Beschäftigung und die Löhne erhöht. Ähnlich ist es im Rest der Wirtschaft, wie sich unter anderem an steigenden Aktienkursen und fallenden Dividendenrenditen zeigt.
Wachsende Löhne bedeuten eine zusätzliche Nachfrage nach lokalen Dienstleistungen und Gütern, die den Nachfrageimpuls auf den Rest der Wirtschaft ausdehnen und auch dort Lohnsteigerungen induzieren. Angesichts der allgemein wachsenden Einkommen trauen sich die Leute, noch mehr Geld in Immobilien zu investieren, und angesichts der beobachtbaren Preissteigerungen bei den Immobilien glauben sie auch, dass sich das lohnt. Doch irgendwann kommen den ersten Investoren Zweifel. Sie treten auf die Bremse, und wenn andere das merken und sich der Zweifel verstärkt, entsteht eine negative Kettenreaktion mit sehr rasch fallenden Immobilienpreisen und Aktienkursen, der eine Massenarbeitslosigkeit folgt. Das ist die Krise, die Marx und Schumpeter so treffend beschrieben haben.
Die Krise ist schmerzhaft, doch liegt in ihr auch schon wieder der Keim des neuen Aufschwungs, weil die Preise der Immobilien, Kapitalgüter und Aktien wieder auf das Normalmaß zurückgeführt werden. Bei den niedrigen Preisen und den nun wieder hohen Renditen beziehungsweise Profitraten lohnt sich die Investition wieder, und das Wachstum der Wirtschaft beschleunigt sich erneut. In diesem Wachstum liegt jedoch, wenn die Politik nicht auf die Bremse tritt, stets die Gefahr einer neuen Übertreibung und Blasenbildung. Im Auf und Ab der Zyklen, die wesentlich länger als normale Konjunkturzyklen dauern und ein bis zwei Jahrzehnte umfassen können, kommt es immer wieder zu neuen Innovationsschüben, die die wirtschaftliche Entwicklung stets von Neuem beflügeln und in aller Regel auch den Massenwohlstand vermehren.
Zweifelhafte Rolle der Zentralbanken
Die schöpferische Zerstörung, die den Keim des neuen Aufschwungs legt, wird heute allerdings von den Zentralbanken der Welt verhindert, indem sie die Zinsen so tief und die Vermögenswerte durch den Kauf von Wertpapieren so hoch halten, dass die Blasen nicht mehr platzen, beziehungsweise wenn sie platzen, die vollständige Rückkehr der Vermögenswerte auf ihr Normalniveau verhindert wird. Zombie-Banken und mit ihnen ihre Zombie-Kunden aus der Realwirtschaft, also Einrichtungen, die eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig sind, werden so am Leben gehalten, verharren wie lebende Tote aktivitätslos in ihren Positionen und halten die Plätze besetzt, die nun eigentlich junge Unternehmer mit neuen Produkten einnehmen müssten. Eine harte Krise wird damit zwar vermieden, doch rutscht die Wirtschaft stattdessen in eine Dauerkrise.
Aus dem nur tendenziellen Fall der Profitrate wird ein durch die Geldpolitik administrierter Rückgang, der in einem schleichenden Siechtum endet. Dieses Siechtum sieht wie eine säkulare Stagnation mit fallenden Profitraten aus, die aufgrund der Erschöpfung der Investitionsmöglichkeiten zustande kommt, sie ist aber in Wahrheit durch eine an Partikularinteressen orientierte Zentralbankpolitik verursacht, die die Rückkehr der Vermögenswerte auf ihre Gleichgewichtsniveaus verhindert.
Die ultralockere Geldpolitik droht zur Verkrustung des Kapitalismus und auf dem Wege ausufernder Rettungsaktionen direkt in die diktatorische Staatswirtschaft zu führen, denn sie geht mit einer Grenzüberschreitung durch die Zentralbanken einher. So hatte die EZB den Krisenländern auf dem bisherigen Höhepunkt der Krise im Sommer 2012 den Löwenanteil der öffentlichen Rettungskredite (83 Prozent) im Umfang von insgesamt 1342 Milliarden Euro gewährt, ohne dass es dazu Parlamentsbeschlüsse gegeben hätte. Auch hat die EZB angekündigt, dass sie bis Ende 2017 für 2300 Milliarden Euro mit frisch gedrucktem Geld Wertpapiere im privaten Sektor kaufen wird, wovon im Widerspruch zu Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union rund 80 Prozent Staatspapiere sind. Und im Rahmen des vielzitierten »whatever it takes« von EZB-Präsident Mario Draghi hat sie den Käufern der Staatspapiere der Krisenländer sogar eine unbegrenzte Deckungszusage gegeben, die, wenn man sie am Markt in Form von Kreditausfallversicherungen erworben hätte, jährlich viele Dutzende von Milliarden Euro gekostet hätte. Durch diese Maßnahmen betreibt die EZB eine regionale Investitionslenkung zugunsten der Standorte in Südeuropa, die fatal an die Verwaltung des gesellschaftlichen Produktionsfonds im »Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« der DDR erinnert.
Das alles ist in höchstem Maße besorgniserregend. Im Endeffekt könnte sich Marx’ Behauptung, der Kapitalismus werde am Fall der Profitrate zugrunde gehen und dem Sozialismus den Weg ebnen, auf diese Weise doch noch irgendwie bewahrheiten, wenn auch etwas anders, als Marx es sich gedacht hatte.
Vorliegender Text erschien erstmals im Buch »RE: Das Kapital: Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert«, herausgegeben von Mathias Greffrath, Verlag Antje Kunstmann, München, März 2017. kunstmann.de
Essay, Fazit 177 (November 2021), Foto: Ifo-Instiut
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