Einfach nur Friseur
Volker Schögler | 29. Dezember 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 179, Fazitbegegnung
Ganze 13 Bundeskanzler lang steht er nun schon in seinem Friseurladen am Tummelplatz. Wobei der Dritt- und Fünftletzte doppelt gezählt ist. Vor genau 50 Jahren (Kanzler Kreisky) begann Wolfgang Weiss die Friseurlehre bei seiner Großmutter Margarethe Zahel, deren Ehemann Adolf das Geschäft bereits 1920 (Renner) gegründet hatte.
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Voriges Jahr (Bierlein, Kurz) konnte somit das 100-jährige Jubiläum des Familienbetriebes gefeiert werden. Dass Wolfgang das Friseurgeschäft von seiner Mutter Jolanda Weiss 1989 übernommen hat, ist auch schon wieder elf Bundeskanzler her (Vranitzky). Und vier Lockdowns. Zum Glück ist die Welt voller Dinge, auf die man sich verlassen kann, zum Glück gibt es sie, die sprichwörtlichen Felsen in der Brandung. So einer ist Wolfgang Weiss.
Allen Moden zum Trotz blieb er immer – Friseur. Oder wie er es selbst ausdrückt: »Nicht Coiffeur, nicht Stylist, nicht Spezialist für irgendwas, einfach Friseur.« Verläßlich wie die Uhr setzt er sich seit Jahrzehnten in der Früh auf sein Fahrrad und fährt unabhängig von Wind und Wetter von Gratkorn in die Grazer Innenstadt und abends wieder retour, zweimal zwölf Kilometer, jeden Tag, fünfmal die Woche. Und im Winter? »Bis minus 13 Grad geht’s, dann beginnen die Augen zu schmerzen.« »Trockene Luft ist besser«, meint er noch, »da geht es bis minus 15 Grad.« Bis vor fünf Jahren sei es aus wettertechnischen Gründen noch notwendig gewesen, etwa zweimal pro Jahr mit dem Zug zur Arbeit zu fahren, »aber inzwischen wird es ohnehin nicht kälter als minus 8, minus 9 Grad.« So kommen bei ihm jedenfalls 6.000 Kilometer pro Jahr zusammen. Als bloßen City-Kurzstreckenradler imponiert mir das, vor allem, weil es ein so geradliniger und einfacher Weg Richtung Gesundheit ist. Wolfgang Weiss denkt dabei auch völlig ideologiefrei an »meinen Blutdruck, mein Herz, meine Fitness«. Wetter und Krankheiten sollen ja sowieso klassische Gesprächsthemen beim Friseur sein. Der Friseurmeister bestätigt das und auch den psychologisch gut belegten Umstand, dass insbesondere Erst- und Neukunden und -innen erstaunlich offen über ihr Leben plaudern, bis hin zum Todesfall in der Familie. Oder dass ein Neubeginn beziehungsweise Veränderungen im Leben oft der Grund für die Entscheidung zu einer anderen Frisur sind.
In den letzten 50 Jahren hat sich in der Branche natürlich einiges verändert. Hatte der Großvater noch bis zu elf Mitarbeiterinnen, so waren es später zumeist zwei. »Und ich habe sieben Lehrlinge ausgebildet«, sagt er nicht ohne Stolz. Aber vorbei die Zeiten, als die Damen wöchentlich zum Friseur gegangen sind: »Viele sind sogar drei- bis viermal in der Woche zum Auskämmen gekommen.« Oder die lukrativen Dauerwellen. Denen Meister Weiss‘ Haarpracht in den achtziger Jahren selbst kurzfristig zum Opfer gefallen ist, wie das auch bei Schneckerl Prohaska und Schoko Schachner der Fall war. Die Mode ist ein seltsames Spiel. Darüber weiß Wolfgang Weiss auch aus anderen Gründen gut Bescheid, zumal er seinerzeit eifriger Teilnehmer an Friseurwettbewerben war, beim sogenannten Preisfrisieren einige Erfolge einheimsen konnte und schließlich im Modebeirat der Friseurinnung mitarbeitete.
Als Fels ist er auch in einem immer größer werdenden Meer von Mitbewerbern stabil geblieben und kann nicht zuletzt auf seinen fixen Kundenstock vertrauen. Weiss: »Eine Stammkundin, die sich mit Horoskopen beschäftigt, hat einmal zu mir gesagt: Wolfi, Du wirst nie reich werden, aber Du wirst auch nie untergehen. – Das stimmt bis heute.« Und wann ist man ein guter Friseur? »Man muss Bedürfnisse erkennen und umsetzen, vor allem aber muss man das Gefühl des Angenommenseins vermitteln«, sagt er als Friseur, der bekanntlich immer auch Therapeut sein muss. Und wer soll sich unser annehmen, wenn Du im März in Pension gehst?
Wolfgang Weiss wurde 1956 in Graz in eine Friseurfamilie hineingeboren und besuchte die »Färberschule« Ferdinandeum. Seine Frau Ingrid, die er bereits im ersten Lehrjahr kennengelernt hat, arbeitet im Friseurbetrieb mit, die beiden haben zwei Kinder. In seiner Freizeit widmet er sich der Malerei und der Fotographie, wovon auch ein Fotobuch im Eigenverlag mit Schwarzweißaufnahmen der Altstadt von Graz ohne Menschen und Autos zeugt.
Fazitbegegnung, Fazit 179 (Jänner 2022) – Foto: Heimo Binder
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