Unfrisierte Gedanken zur Politik
Redaktion | 6. April 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Demokratiediskurs, Essay, Fazit 181
Ein Essay von Leopold Neuhold. Im Fazitdemokratiediskurs begibt sich diesmal der Grazer Theologe Leopold Neuhold auf die »Suche nach der politischen Kultur« und macht diese an den drei aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen Klima, Pandemie und Krieg fest.
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Dr. Leopold Neuhold, 1954 geboren, wurde 2003 zum Universitätsprofessor für Ethik und Gesellschaftslehre berufen und war von 2001–2019 Vorstand des Instituts für Ethik und Gesellschaftslehre an der Karl-Franzens Universität Graz. In zahlreichen Publikationen und Büchern beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der katholischen Soziallehre, ethischen Aspekten der modernen Gesellschaft und dem damit verbundenen Wertewandel in unserer heutigen Zeit.
Wenn man die Frage formuliert, wie die Covid-Pandemie die Politik herausfordert, so greift diese Frage angesichts der derzeitigen Situation zu kurz. Vielmehr gilt es, sich der Herausforderung einer dreifachen Krise zu stellen: der Pandemie, der Umweltkrise und dem Krieg, also: Welche Fragen an die Politik stellen sich durch die Herausforderungen von Corona, des Klimawandels und des Krieges als Wiederkehr der Fortführung der Politik mit anderen Mitteln? Diese Fragen können, auch wegen des beinahe gleichzeitigen Auftretens nicht hintereinander abgearbeitet werden, sondern können nur in der Beachtung ihrer Zusammenhänge und ihrer jeweiligen Besonderheiten einer Lösung näher gebracht werden. Wenn man die Bewältigung unabhängig voneinander machen wollte, nimmt man sich auch die Chancen, welche in der Zusammenschau der Bekämpfung der drei Herausforderungen liegen. Aber: Als ob nicht schon eine Krise schwer genug zu bewältigen wäre! Hier wird vor allem von der Pandemie her, die zeitlich in der Mitte der Krisen, also zwischen besorgniserregendem Klimawandel und todbringendem Krieg steht, gedacht.
Zuerst einmal gilt es die Frage zu stellen, worauf uns diese dreifache Krise aufmerksam machen könnte und worin die Herausforderungen in Bezug auf vorherrschende Wertemuster liegen. Die Pandemie lässt uns unsere Vergänglichkeit erkennen, die Umweltkrise die Begrenztheit unserer Ressourcen materieller und geistiger Art, die in der Abhängigkeit, die uns der Krieg in der Ukraine deutlich aufzeigt, noch stärker zum Tragen kommt. Offenbar haben wir mit verdichteter Gegenwart in Ausblendung der Zukunft, in der Tendenz zur Negierung aller Grenzen, mit beanspruchter Autonomie und zum Teil anmaßender Machbarkeit auf die falschen Pferde gesetzt. Nicht die Leugnung oder das Bemühen um Abschaffung von Vergänglichkeit, Begrenztheit und Abhängigkeit kann das Ziel sein, sondern ein angemessener Umgang mit diesen Rahmenbedingungen menschlichen und gesellschaftlichen Lebens.
Im Folgenden sollen kurz einige in diesem Zusammenhang stehende Herausforderungen an die Politik angesprochen werden. Dies will ich auf dem Hintergrund einer weit verbreiteten Definition von Politik tun. Politik kann man in Anschluss an den großen österreichischen Sozialethiker Johannes Messner als interessengeleiteten Kampf um die rechte Ordnung mit Mitteln der Macht definieren. Ich will meine Gedanken um die einzelnen Elemente dieser Umschreibung ordnen.
Interessengeleiteter Kampf
Politik ist ein interessengeleiteter Kampf. Klingt das nicht zu martialisch? Dieser Einwand wäre längere Zeit berechtigt gewesen, aber nun ist der von der Uno geächtete Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, um Carl von Clausewitz zu bemühen, zurückgekehrt. Politik ist natürlich immer von Konkurrenz und bzw. oder dem Bemühen um Ausschaltung dieser bestimmt. Die Konkurrenz ist Resultat verschiedener Interessen verschiedener Einzelner und Gruppen, die zur Durchsetzung drängen, in vielen Fällen gegeneinander, wobei viel an Energie auf den jeweiligen Seiten daraus gewonnen wird, dass die Interessen gegen die anderen durchgesetzt werden sollen.
In Österreich lebten wir lange eher in einer Konkordanzdemokratie, in der die Konkurrenz im Bemühen um ein gemeinsames Ziel »gezähmt« worden war, jetzt zeigen sich aber deutliche Züge hin zu einer Konkurrenzdemokratie, wobei es in manchen Punkten zu einer Verselbstständigung der Interessen kommt. Waren etwa am Anfang der Pandemie die Interessen der verschiedenen Parteien noch zusammengeführt in die gemeinsame Bekämpfung des gemeinsamen Feindes Corona, so wurde bald von einigen Seiten die Ausrichtung darauf favorisiert, mit dem jeweils eigenen Modell dem politischen Gegner, der der Tendenz nach zum Feind erklärt wurde, den Kampf anzusagen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Das gemeinsame Ziel geriet dadurch für manche aus dem Blickpunkt. Die Energie wird deswegen nicht mehr in die gemeinsame Bewältigung der Krise investiert, sondern in die eigene Darstellung gegen den anderen kanalisiert. Das gemeinsame Interesse in der Bekämpfung der Pandemie wird aufgesprengt in die Verfolgung von eigenen Wegen zur Bekämpfung der Pandemie in der Diffamierung des Gegners, wobei man des öfteren das Gefühl haben konnte und kann, dass man in Bezug auf die Vorschläge auf dem Hintergrund, dass man nicht an der Regierungsmacht ist, auch nicht das unbedingte Verlangen hatte, in die Umsetzungsverpflichtung zu kommen.
In der Versuchung, über Darstellungsmuster in Teilen der Gesellschaft Erfolg zu haben, wurde das Gemeinwohl – das gemeinsame Interesse über alle Gruppen hinweg – außer Acht gelassen, und erst in einer nachträglichen Verabsolutierung der eigenen Vorschläge wurde beansprucht, das bessere Modell für das Gemeinwohl zu haben. Dabei schien und scheint es, noch einmal gesagt, nicht in erster Linie um dieses Gemeinwohl zu gehen, sondern darum, in einem unsicheren Kontext mit plakativen Gegenvorschlägen den skeptischen Menschen sie in Sicherheit wiegende Anhaltspunkte anzupreisen.
Ein weiterer Aspekt in Bezug auf das Interesse war deutlich zu erkennen. Angesichts der Pandemie wurden andere gesellschaftliche Problemzonen, etwa die Umweltkrise, in den Hintergrund gedrängt, oder vielmehr, die Pandemie bot die Möglichkeit, diese zu relativieren. Natürlich beherrscht eine für die meisten bis dahin nicht gekannte und mit Angst besetzte Pandemie die öffentliche, vor allem aber die veröffentlichte Meinung und aktiviert und paralysiert zugleich die Menschen in der Konzentration auf die Bekämpfung derselben; besonders angesichts der Tatsache, dass es keine erprobten und in ihrer Erfolgsaussicht klar abschätzbaren Mittel zur ihrer Bekämpfung gibt. Das angsterfüllte Abwarten führte zuerst zur Delegation der Bekämpfung an die dafür zuständig Gehaltenen, dann, wenn sich der Erfolg nicht in der erwarteten Schnelligkeit und Durchschlagskraft zeigte, zur Skepsis und zur teilweisen Aggression denen gegenüber, die diese Mittel favorisierten. Wenn man aber bedenkt, in wie kurzer, anfänglich nicht für möglich gehaltenen Zeit durchaus auch erfolgreiche Impfungen entwickelt wurden, so reichte das vielen nicht. Angesichts der Notwendigkeit, sich als kompetent in der Strategie der Bekämpfung des Virus darzustellen, um mit der Demonstration von Kompetenz die Menschen zum Mittun zu ermutigen, wurde der geforderte und beanspruchte Erfolg, hundertprozentig wirksame Mittel gefunden zu haben, dann nicht erreicht; konnte es ja gar nicht. Termine von Öffnungsschritten nach einem Lockdown ohne ausreichende Sicherheiten in Bezug auf den Verlauf der Pandemie oder der Bekämpfung anderer Krisen lässt mit überbordenden Erwartungen konfrontierte Akteure nach Festlegungen rufen, die dann gebrochen werden müssen. Wir haben es nicht gelernt, mit Unsicherheiten umzugehen. Vor allem haben wir es aber übersehen, die sich in manchen Entwicklungen zeigenden Möglichkeiten zu einem Agieren in der Bewältigung der Herausforderung der Umwelt zu realisieren. Die zum Teil menschenleeren Straßen, der auf dem Hintergrund des Homeoffice reduzierte Verkehr, die Bedeutung der Regionalisierung, sie standen vor allem im Kontext der Lockdowns und der Beengung – die sie auch waren –, die damit gegebenen Chancen wurden aber nicht systematisch ausgearbeitet; auch infolge der natürlich verstehbaren Konzentration des Interesses auf die Pandemiebekämpfung.
Dabei scheint die Freude an der Demokratie heute vielen abhandengekommen zu sein. Wer will sich noch die zum Teil mühsamen und ermüdenden Diskussionen antun, wenn es über verschiedene Interessen um das Bemühen um eine rechte Ordnung geht, wer sich den Zorn der Bevölkerung zuziehen, wenn es gilt, unpopuläre Maßnahmen zu setzen, wer will schon in der Gegenwart einschneidende Gestaltungen vornehmen, auch wenn es um das Gelingen der Zukunft geht? Unpopuläre Maßnahmen werden zurückgezogen, bevor sie noch real in Kraft getreten sind. Wer tut sich den anderen in einer Diskussion noch an, das ist doch nur vergeudete Zeit! Politische Diskussion wird durch mediale Darstellung auf dem Hintergrund des eigenen Interesses ersetzt, aus Werten werden Darstellungsmuster, die der Herrschaft der Meinung folgen. Es zählt nicht das reflektierte Argument, sondern der emotionalisierte Werbespot. Viele halten es für Zumutung, dass die Stimme des anderen gleich viel zählt wie die eigene. Dabei wird der andere als defizient betrachtet, auf die bei ihm wahrgenommenen und dann verallgemeinerten Defizite reduziert. Denn Demokratie kann schwierig und zeitaufwendig sein. Ein Beispiel: In einem Dorf soll eine Verkehrsampel aufgestellt werden. Weil er längere Zeit nichts gehört hat und die Ampel bereits aufgestellt sein sollte, ruft der Bezirkshauptmann im Gemeindeamt an, wie weit das Projekt schon gediehen sei. Der Bürgermeister antwortet: »Es läuft ganz gut. Wir haben uns schon in Bezug auf die Farben rot, gelb und grün geeinigt.«
Demokratische Entscheidungen sind oft nicht die schnellsten, aber hoffentlich sehr nachhaltig. Dazu bedarf es des Einbeziehens aller und der Bereitschaft, aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Wenn man sich aber nur selbst betroffen fühlt? Demokratie kann mühsam sein, aber es ist ja schon etwas, sich auf die Farben der Ampel geeinigt und dadurch vielleicht den Sinn der Farben vertieft zu haben. Aber es könnte auch sein, dass man an dieser Stelle gar keine Ampel braucht. Über die Konzentration auf die Farbenwahl wird diese Frage oft vergessen. Vor allem gilt das, wenn in kurzer Zeit eine Lösung gefunden werden soll.
Daraus resultiert dann ein Unbehagen an der Demokratie, die für manche nicht mehr als ein Instrument des Interessensausgleiches in gerechter Weise – gerecht so, wie sie gerecht sehen – dienen kann. Weshalb also mit dem anderen reden? Das Bild, das man sich vom anderen geschaffen hat, findet auf dem Hintergrund von Mutmaßungen Bestätigung und weitergehend Verstärkung in die angedachte Richtung. Wenn der andere nicht in eine Konfrontation treten will, bleibt die Begegnung aus, und viele hoffen, dass der andere sich nicht vom Fleck rührt: Sonst wäre vielleicht eigene Flexibilität erforderlich. Dazu kommt noch die auf dem Versprechen der Verringerung der Distanz durch digitale Medien oft vergrößerte Distanzierungsmöglichkeit in Echokammern und Filterblasen als Verstärkungsräumen für die eigene Meinung, sodass diese nach und nach einer kritischen Überprüfung entzogen ist.
Das Schlagwort »Social Distancing« und die damit verbundene Aufforderung wegen Corona kam und kommt hier vielen entgegen. Aus der geforderten physischen Distanz wurde für viele durchaus auch erwünscht soziale Distanzierung; wozu den anderen noch treffen? Eine Herausforderung für die politische Auseinandersetzung besteht ja darin, den anderen nicht treffen zu müssen, um in dieser Begegnung sein eigenes Bild von ihm vielleicht zu korrigieren, sondern in der selektiven indirekten Begegnung dieses verfestigen zu können. Denk- und Redeverbote in einem endlosen Meinungsgewirr werden errichtet, diese nicht so sehr in doktrinärer Art, sondern in oft unreflektierter, sehr emotionalisierter Weise, wenn man der Begegnung ausweichen kann – und es gibt viele Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen. Was fehlt, ist das Vorantreiben von tragfähigen Ideen, und seien sie auf den ersten Blick noch so ungewöhnlich, in der Auseinandersetzung mit anderen und ihre Umsetzung. Im funktionalen, professionellen Zugang, der Politik zu einem Ergebnis von Konzepten angestellter Bürokraten macht, das den Bürgern weitgehend entzogen ist oder das sie nur für ihre eigenen Gedanken instrumentalisiert, macht aus Bürgern nur zu leicht Stimm- und Stimmungsvieh, und viele finden auch wenig dabei, nicht Bürgerinnen und Bürger im Vollsinn des Wortes sein zu müssen.
In der Zeit von Pandemie, Klimawandel und Krieg zeigt sich nämlich auch die Zunahme der Bedeutung von Beratern und Experten. In einer komplexen Situation, wie sie mit diesen drei Krisenphänomenen gegeben ist, wird es wichtig, diese Komplexität zu analysieren, um sie in Handlungsschritten einer Behandlung zuzuführen. Die Reduktion von Komplexität in »einfache«, von der breiten Masse nachvollziehbare Handlungen wird immer mehr zu einer Aufgabe von Experten und Politikberatern. Franz Wegart sagte nun immer – damals aus einer nicht unbedingt gendergerechten Sicht –, dass sich ein Politiker auf dreifache Weise seinen politischen Tod bereiten könne: Mit Frauen sei es am schönsten, mit Alkohol am schnellsten, mit Experten am sichersten. Dies gilt besonders dann, wenn Experten sich nicht einig sind, und dann verstärkt, wenn beispielsweise selbsternannte Experten mit tierspezifischen, die Schranken zwischen Mensch und Tier niederreißenden und damit auch von Tierschützern zu akzeptierenden Mitteln die Pandemie bekämpfen wollen. Was man in Ermangelung von Polizeipferden nicht anwenden kann, soll nun bei Menschen die Pandemie bekämpfen helfen. Jede Partei hält sich, wenn sich denn die Politiker selbst nicht als diese Experten sehen wollten, ihre Experten, die gegen die Experten der jeweils anderen in Stellung gebracht werden. Partialerkenntnisse werden dadurch oft verallgemeinert und das Resultat ist oft nicht nur Verwirrung, sondern auch Erfolgslosigkeit.
Dazu eine Geschichte: Tief besorgt kommt ein Bauer zu seinem Nachbarn, eine Krankheit hat viele seiner Hühner in seiner sonst gut gehenden Hühnerfarm dahingerafft. Auf die Frage, womit er die Hühner füttere, gibt der Bauer zur Antwort, er gebe ihnen Hafer als Futter. Der Nachbar gibt zu bedenken, dass Hafer nicht gut sei für die Hühner, er solle sie mit Weizen füttern. So macht er es. Als sich die beiden nach einer Woche auf dem Markt treffen, beklagt sich der Bauer, dass wieder über 50 Hühner gestorben seien. Als der Nachbar fragt, was er den Hühnern zu trinken gebe, antwortet der besorgte Bauer: »Frisches Quellwasser aus dem Brunnen.« Da fordert der Nachbar ihn auf, den Hühnern abgekochtes Wasser zu geben. Nach wieder einer Woche beklagt sich der Bauer, als er seinen Nachbarn zufällig trifft, dass die Ratschläge nichts genützt hätten. »Das ist schlimm!«, bedauert der Nachbar, um dann hinzuzusetzen: »Gute Ratschläge hätte ich noch viele, aber hast Du noch genug Hühner?«
Es sind nicht nur die Vorschläge »ad experimentum«, die in einer Situation, für die uns Erfahrungen fehlen, zum Einsatz kommen, sondern es ist auch der mit dem schnellen Veränderungsprozess gegebene Zeitdruck, der beachtet werden muss. Dem daraus entstehenden Veränderungsdruck auf die Strategie der Bekämpfung eines Virus, das sich dauernd ändert, können dann viele nicht folgen.
Rechte Ordnung
Nun zum Bestimmungsstück: rechte Ordnung, eine Formulierung, die von manchen nicht in Ausrichtung auf das inhaltlich Richtige, sondern auf die politische Positionierung gesehen wird. Die Ordnung ist für viele nur dann richtig, wenn sie ihnen Recht gibt. »Ich-meiner-mich-mir, Gott segne alle vier.« So lautet das Gebet unbezogener Individualisten, die dann das, was Recht sein soll, von sich abhängig machen. Angesichts dessen ist es schwer, eine rechte Ordnung zu finden, vor allem auch dann, wenn die Ordnung angesichts ungewisser Verläufe der Pandemie oder der Strategien zur Umweltgestaltung auch flexibel sein muss. Und dann wird Ordnung gegen die Freiheit gerichtet gesehen. Natürlich, es gibt Ordnungen, die gegen die Freiheit oder die neben der Freiheit stehen. Aber es ist auch Tatsache, dass eine rechte Ordnung Voraussetzung für die Freiheit aller ist.
Damit dies erkannt werden kann, bedarf es einer Basis von Grundwerten, die für alle gelten muss. Ohne diese Anerkennung kann der Pluralismus nicht als Chance des Gehens von unterschiedlichen Wegen zu einem gemeinsamen Ziel gestaltet werden, weil das gemeinsame Ziel aus dem Blick gerät. Die gemeinsame Ordnung besteht ja wesentlich auch in der Beziehung auf das Allgemeinwohl, das den Sinnkontext der Ordnung darstellt. Es bedarf der Bereitschaft, die einzelnen Elemente der Ordnung auf dieses Ziel zu beziehen. Ohne diesen Blick auf das Ganze bleiben die einzelnen Gesetze fragmentierte, in ihrer Sinnhaftigkeit nicht zu erkennende und erkannte Elemente, deren Befolgung dann nicht auf dem Hintergrund dieses Gemeinwohlbezuges besteht, sondern nur auf der Tatsache, dass sie vorgeschrieben sind. Eine Grundlage für Recht ist die grundsätzliche Akzeptanz bzw. wenigstens die Möglichkeit, es zu akzeptieren. Das formale Recht stellt dann eine Durchführungsverpflichtung für das grundsätzlich Akzeptierte dar. Wenn das Recht nur als Einschränkung verstanden wird, als Freiheitsberaubung, weil etwa das Ziel der Ordnung in der Bekämpfung der Pandemie, der Bewältigung der Umweltherausforderungen oder der Verhinderung von Krieg nicht mehr gesehen wird und die Einhaltung der Ordnung nur eine erzwungene, nicht eine akzeptierte ist, kann Gesetz sein Ziel nur bedingt erreichen.
Einmal wird im Sinne des von Götz Briefs oder Werner Schöllgen ausgearbeiteten Konzepts der Grenzmoral die durch den Druck auf die Grenze gegebenen Vorteile in der Unterbietung der Normen das Recht mit allen Raffinessen, etwa der mitunter mehr als fadenscheinigen Begründung, warum Masken nicht getragen werden dürfen, an die Grenze der gerade noch oder der schon nicht mehr, aber wegen der Toleranzgrenze noch akzeptierten Auslegung getrieben. Auf der anderen Seite gibt es, wenn ein Gesetz nicht in eine umfassende Strategie zur Bekämpfung der Pandemie eingebettet ist, den Zwang zur buchstabengetreuen Befolgung des Gesetzes mit der Kritik an denen, die das Recht nicht genauestens einhalten. Handeln ist nach Max Weber ein mit Sinn bedachtes Verhalten. Ohne Bedenken dieses Sinns wird aus Handeln bloßes reflexhaftes Verhalten. Dies zeigt sich dann darin, dass in der Gesetzesbefolgung nur auf die genauen einzelnen Bestimmungen, nicht auf die das Ziel gerichteten Intentionen Wert gelegt wird. Daraus folgt dann, dass Lockerungen der Lock-downs durch ein abruptes Abgehen von den Regeln gekennzeichnet sind. Hatte man vorher den Babyelefanten durch das Maßband bestimmt, so folgt mit der Aufhebung eine Abstandslosigkeit, die nur kontraproduktiv sein kann. Die Notwendigkeiten zur Vorsicht werden dann nicht gesehen, vor allem aber die Aufmerksamkeit hervorrufende Wirkung nicht erkannt. Dazu eine Geschichte:
In stockdunkler Nacht geht ein Blinder durch die engen Gassen seines Städtchens. Auf der Schulter trägt er einen Krug, in der Hand hält er eine brennende Lampe. Mit großer Vorsicht tastet er sich vorwärts. Ein Mann, der den Blinden kennt, kommt ihm entgegen und fängt sofort an, ihn von oben herab zu behandeln. »Dass du blind bist, das wusste ich schon immer, aber dass du dumm bist, das habe ich bis jetzt nicht gewusst. Du bist doch total blind und siehst überhaupt nichts. Welche Dummheit, dass du da eine brennende Lampe trägst! Du siehst damit doch nichts.« Der Blinde lacht und antwortet: »Die Lampe leuchtet auch nicht für mich. Sie ist für so unvernünftige Leute wie dich, damit sie mich in der Dunkelheit nicht anrempeln und so meinen Krug nicht zerbrechen.«
In der bloßen Befolgung wird der Hinweischarakter von Maßnahmen in der Aufforderung zur Aufmerksamkeit dann nicht erkannt und die erwünschten Nebenwirkungen reduziert. So kann sich die buchstabengemäße Befolgung einer Regel gegen den Sinn der Regel richten, vor allem dann, wenn die gemeinsame Grundlage, die den Sinn konstituieren soll, nicht mehr gegeben ist.
Wenn de gemeinsame Basis an Grundwerten fehlt, dann kommt auch das nicht in den Blick, was anderen zugemutet werden kann. So ist es etwa in Konflikten auch wichtig, dem anderen ein Ausstiegsszenario zu geben. Putin, der schon mit Botox sein Gesicht zu bewahren sucht, will natürlich sein Gesicht nicht verlieren. Wieviel kann ihm zugemutet werden, wobei das mit Mut zu tun hat? Das gilt natürlich auch umgekehrt. Zu fragen, was eine von der einen Seite geforderte Maßnahme für die andere bedeuten würde, to take the part of the other, das ist für viele angesichts einer fehlenden gemeinsamen Grundwerteordnung nicht im Horizont des Denkens.
Mit Mitteln der Macht
Macht ist nach Max Weber jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung seinen Willen auch gegen Widerstreben anderer durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Diese Durchsetzungsmacht ist notwendig, um zu einer rechten Ordnung zu kommen, es stellt sich aber die Frage, welche Mittel ergriffen werden, um seinen Willen auch gegen Widerstreben anderer durchzusetzen. Die Mittel sind nicht nur auf die Angemessenheit, sondern auch auf ihre Gesetzeskonformität hin zu überprüfen, soll es um das Finden einer rechten Ordnung gehen. Vor allem geht es aber auch darum, ob man mit den anderen kooperiert oder sie in der Willensbildung auszuschalten versucht.
»When your only tool is a hammer, every problem looks like a nail«, so ein englisches Sprichwort. Differenziertes Vorgehen scheint in solchen verabsolutierten Zuständen, die den Ordnungsbezug nicht mehr aufweisen, nicht mehr gegeben zu sein. Mit dem Hammer auf das zum Nagel erklärte Problem einzuschlagen, sich den Gegner so zurechtzurichten, dass man leicht gegen ihn als »So-Zurechtgemachten« auftreten kann, das scheint für viele die Devise zu sein. Jemanden mit Jauche anzuschütten und sich dann zu beschweren, wie der Angeschüttete stinkt, das bedeutet oft Umkehr der Gegebenheiten. Und Fake News sind ja eine besondere Art des zu rationalisieren versuchten Irrationalismus. Aber es kann noch weitergehen! Beschwert sich eine Filmdiva: »Furchtbar, welche Lügen die Journalisten über mich verbreiten! Das ist nicht zum Aushalten.« Darauf ihr Manager: »Seien Sie froh, dass sie nicht die Wahrheit schreiben.«
Dazu kommt dann oft eine Absolutsetzung von Mitteln. Eine Krankenschwester schüttelt einen schlafenden Patienten. Der Arzt, der vorbekommt und das Treiben beobachtet, fragt, was und warum sie da tue. Die Schwester antwortet: »Ich muss den Patienten wach kriegen, damit er das verschriebene Schlafmittel einnehmen kann.« Weil es verschrieben ist, muss es eingenommen werden, auch dann, wenn der Zustand eingetreten ist, den das Medikament bewirken sollte. Aber doch nicht ohne das Medikament! Das Tina-Prinzip – there is no alternative – scheint hier Anwendung zu finden. Es geht also um die Haltung der Entschiedenheit gepaart mit Bescheidenheit: hunderprozentige Sicherheit gibt es nicht, es gibt damit auch keine hunderprozentigen Mittel. Es geht um die Kunst des Möglichen mit begrenzten Mitteln. Um das zu erkennen und diese einzusetzen, bedarf es der Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht nur als solche sehen, sondern sich auch als solche erweisen.
Schlussbemerkung
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
So liest man am Anfang des Gedichtes »Patmos« von Friedrich Hölderlin. Ist das Wachsen des Rettenden aber in der heutigen Herausforderung sichtbar? Das scheint nicht so zu sein. Im Bedenken der Herausforderung und in der Gewinnung eines sozialen Handelns, in dem das eigene Handeln auf das des und der anderen bezogen wird, liegen aber Ansätze einer Lösung, die wir nutzen sollten. Auch wenn die heutige Situation Elemente der Einzigartigkeit enthält, die Geschichte lehrt, dass Lösungen im Ausblick über die Situation hinaus auf das Ganze, wie es bei Hölderlin mit Gott anvisiert wird, nah, wenn auch schwer zu fassen sind. Politik ist eben ein Bohren von dicken und harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. So kann auch das Rettende gefunden werden.
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Lesen Sie auch den ersten Text unserer Reihe »Demokratidiskurs« (Fazit 180):
Liberale versus illiberale Demokratie von Friedhelm Frischenschlager
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Essay, Fazit 181 (April 2022), Foto: Gerd Neuhold
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