Nukleare Abschreckung
Redaktion | 9. Juni 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 183
Ein Essay von Frank Sauer. Die Gefahr durch Nuklearwaffen in Europa ist wieder brandaktuell: Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland auf nukleare Drohungen. Aber funktioniert »nukleare Abschreckung«? Und wenn ja, wie?
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Dr. Frank Sauer hat Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft studiert. Er forscht und lehrt an der Universität der Bundeswehr München u.a. zu den Themen Nuklearwaffen, Terrorismus, Cybersicherheit sowie zur Nutzung von Robotik und Künstlicher Intelligenz (KI) im Militär. Er ist Teil des Podcastteams von »Sicherheitshalber«. sicherheitspod.de
Die nuklearen Arsenale Russlands und der USA schrumpften nach dem Ende des Ost-West-Konflikts drastisch. Trotzdem bleiben bis heute mehr als genug atomare Sprengköpfe, um eine zivilisationsgefährdende Katastrophe zu verursachen. Aktuelle Klimamodelle unterstützen die aus den 1980er-Jahren stammende Befürchtung eines »nuklearen Winters«: Ein umfassender nuklearer Schlagabtausch würde nicht nur Millionen von Menschenleben fordern – er würde so viel Staub in die Atmosphäre wirbeln, dass durch Dunkelheit und Kälte Pflanzenwachstum auf Jahre hin unmöglich würde. Die allermeisten Menschen und größeren Lebewesen würden dies nicht überleben.
Die Bedrohung durch einen Einsatz nuklearer Waffen bleibt unverändert. Aber im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit spielten Nuklearwaffen in den letzten Jahrzehnten trotzdem kaum eine Rolle. Mit der Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind sie nun zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Abschreckung, so hört man nun wieder, solle den Einsatz von Nuklearwaffen verhindern. Aber funktioniert »nukleare Abschreckung« zuverlässig – und wenn ja, wie? Auf den ersten Blick ist die Antwort ganz einfach. Denn das Konzept der Abschreckung begegnet uns überall. Im Tierreich finden sich zahllose Beispiele dafür, wie Beutetiere durch Androhung von Gefahr mittels Farben oder Formen Angriffe von Fressfeinden abzuschrecken versuchen. Auch wir Menschen setzen in unserem Zusammenleben auf Abschreckung: So droht in modernen demokratischen Gesellschaften der Rechtsstaat mit Strafe, um Gesetzesbrüche zu verhindern.
Es geht bei Abschreckung also um die Androhung von Strafe, um das Verhalten des Gegenübers zu beeinflussen. Abschreckung ist demzufolge nicht Verteidigung. Vielmehr soll Abschreckung den Gegner vom Angriff abhalten, so dass eine Verteidigung gar nicht erst notwendig wird. Dreh- und Angelpunkt für funktionierende Abschreckung ist die Fähigkeit zu und die glaubwürdige Androhung von Bestrafung (oder Vergeltung). Dieser Mechanismus kommt bei der nuklearen Abschreckung in besonderem Maße zum Tragen – denn es brauchen nur einige wenige Nuklearwaffen ihr Ziel zu erreichen, um dem Gegner immensen Schaden zuzufügen. Eine wirksame Verteidigung gegen Nuklearwaffen ist kaum möglich.
Grundlagen nuklearer Abschreckung
Ohne die entsprechenden Kapazitäten kann keine Drohung mit nuklearer Vergeltung (Zweitschlag) aufrechterhalten werden. Sie soll den potenziellen Aggressor vor dem Überfall mit Nuklearwaffen (Erstschlag) abschrecken. Dies erfordert die Fähigkeit:
1) zur stabilen, kosteneffizienten Aufrechterhaltung des Zweitschlag-Arsenals samt Maßnahmen gegen Fehlalarme und unbefugten Zugriff;
2) einen gegnerischen Erstschlag frühzeitig erkennen zu können;
3) die Entscheidung zum Zweitschlag zu fällen und an die ausführenden Stellen zu kommunizieren;
4) zum Erreichen des gegnerischen Territoriums mit Trägersystemen, wie Flugzeugen oder Raketen;
5) zur Überwindung gegnerischer Abwehrmechanismen;
6) zur Zerstörung von Zielen trotz Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen.
Die Kriterien 4 bis 6 erledigten sich spätestens ab den 1960er-Jahren mit der Einführung von mit Wasserstoffbomben bestückten Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen. Raketenabwehr ist so aufwendig und teuer, dass der Angreifer stets im Vorteil ist, denn einige Raketen werden immer ihr Ziel erreichen. Wasserstoffbomben entfalten zudem die tausendfache Sprengkraft der Bomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Kriterien 1 und 2 werden in der Regel durch mobile Raketenträgersysteme oder U-Boote erfüllt, die die eigenen Vergeltungskapazitäten gegen einen Entwaffnungsschlag und die vollständige Ausschaltung schützen. Nuklearwaffenstaaten gehen dabei unterschiedlich vor: Während die USA und Russland besonderen Aufwand mittels einer sogenannten Triade betreiben, indem sie ihr Nuklearwaffenarsenal auf landgestützte Interkontinentalraketen, luftgestützte Trägersysteme wie Bomber mit Marschflugkörpern sowie U-Boote mit Interkontinentalraketen verteilen, belassen es andere Länder, wie Frankreich, bei Marschflugkörpern und U-Booten oder, im Falle Großbritanniens, nur bei U-Booten. Neben dem Vorhalten von Waffen und Trägersystemen muss für funktionierende Abschreckung der Wille zum Zweitschlag glaubhaft signalisiert werden. Die Theorie der nuklearen Abschreckung versucht die Probleme rund um das Senden und Empfangen solcher »glaubwürdigen Signale« mittels spieltheoretischer Modelle auszuloten. Staaten werden dabei als rationale Akteure verstanden, die zwischen Kosten und Nutzen abwägen. Die Abschreckungstheorie kennt dabei zwei idealtypische Möglichkeiten, um die Glaubwürdigkeit der Vergeltungsdrohung zu gewährleisten: Die Eskalation von Risiken und die Eskalation von Gewalt. Ziel in beiden Fällen ist Eskalationsdominanz, also dem Gegner glaubhaft zu signalisieren, dass man bereit ist, stets den einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und er daraufhin einlenkt.
Das Modell der Risikoeskalation
Nach dem Risikoeskalationsmodell werden Krisen – nicht zwingend, aber durchaus auch in Form begrenzter, konventioneller (also nicht mit nuklearen Waffen geführter) Kriege – zu Wettkämpfen darum, wer durch die Eskalation der Krise das Risiko für den Beginn eines nuklearen Schlagabtauschs am höchsten treibt, ohne diesen Ausbruch tatsächlich auszulösen. Der spieltheoretische Gedanke hinter dem Risikoeskalationsmodell ist der des »Chicken Game«, der Mutprobe zweier Autofahrer, die mit hohem Tempo aufeinander zurasen. Das Chicken Game veranschaulicht die Interessenlage in einer Konfliktsituation zwischen zwei Akteuren, in der zwar niemand einen Rückzieher machen will, gleichzeitig aber auch beide den tödlichen Zusammenprall nicht herbeiführen wollen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass derjenige der beiden gewinnt, der für den anderen deutlich sichtbar sein Lenkrad aus dem fahrenden Auto wirft. Denn selbst wenn er wollte, könnte er den Kurs nun nicht mehr ändern. Er erhöht damit das Risiko eines Zusammenpralls und zwingt gleichzeitig seinen Gegner zum Einlenken. Er hat die Risikoeskalationsdominanz.
Übertragen auf die nukleare Abschreckung zwischen Staaten führt die Anwendung dieses Prinzips dazu, dass bei einer Konfrontation widersinnig und gefährlich anmutende Praktiken erfolgversprechend erscheinen können. Um den Gegner zum Einlenken zu bringen, muss er nach dieser Logik etwa glauben gemacht werden, dass sich auf Seiten seines Gegenübers im Krisen- oder Kriegsfall das Risiko eines Fehlalarms oder eines versehentlich ausgelösten Erstschlags gefährlich erhöhen oder dass sich das Staatsoberhaupt tatsächlich in selbstmörderischer Manier für einen nuklearen Erstschlag entscheiden könnte. Sobald aber mittels zuverlässiger Vergeltungsfähigkeit die gegenseitige Zerstörung gesichert (also der Zustand MAD, Mutual Assured Destruction, erreicht) ist, gilt: Wer als erstes schießt, ist als zweites tot. Damit wird nicht nur die Frage irrelevant, wer den nuklearen Erst- und wer den Zweitschlag ausführt. Nach einigen Wiederholungen verliert der »Mad Man« mit dem Finger auf dem roten Knopf an Glaubwürdigkeit – insbesondere in Situationen, in denen keine existenziellen Interessen auf dem Spiel stehen. Mit anderen Worten: Die fortwährende Drohung mit der nuklearen Apokalypse verfängt irgendwann nicht mehr. Unter anderem deswegen wurde das Modell der Gewalteskalation entwickelt.
Das Modell der Gewalteskalation
In diesem Alternativmodell wird den nahezu unverwundbaren Arsenalen auf beiden Seiten Rechnung getragen, indem die Möglichkeit der gegenseitigen Vernichtung als gegeben, aber nicht länger als Teil der Drohung betrachtet wird. Soll die Kosten-Nutzen-Kalkulation des Gegners unter dieser Maßgabe noch manipuliert werden, so muss man mit etwas anderem drohen. Das zweite Modell setzt dazu auf das Führen begrenzter Kriege und die Eskalation von Gewalt. Dazu wird ein Spektrum kontrolliert eskalierbarer Gewaltoptionen angenommen. Dem Gegner sollen Schritt für Schritt immer weiter steigende Schäden und Verluste aufgebürdet werden, die ihm das Erreichen seiner ursprünglichen Kriegsziele als zu kostenintensiv erscheinen lassen. Im Mittelpunkt steht die Demonstration von Entschlossenheit angesichts der Zerstörungen, die man selbst zu tragen hat. Seine Abschreckungswirkung erzielt dieses Modell also nicht im Risiko der totalen Vernichtung, sondern in den Kosten, die es dem Gegner in Aussicht stellt.
Auch das auf den ersten Blick schlüssigere Modell der Gewalteskalation hat seine Tücken. Erstens verlässt man sich darauf, dass der Gegner mit dem Rücken zur Wand letztlich doch nicht zu Nuklearwaffen greift. Zweitens beruht das Modell auf der Annahme eines geteilten Verständnisses der Eskalationsleiter – ganz so, als ob in der Praxis beide Seiten stets genau wüssten, auf welcher Stufe der jeweils andere gerade steht. Drittens muss dem Gegner Gewalt angetan werden. Die resultierenden Zerstörungen lassen sich jedoch – anders als Risiken – nicht wieder »deeskalieren«. Die Summe der Gewalt auf beiden Seiten bleibt also bestehen, auch wenn einer der beiden schließlich nachgibt. Die Gewalteskalation transportiert so zwar eine abschreckende Drohung, gleichzeitig unterminiert sie womöglich die Bereitschaft zum Frieden.
Kritik an der Theorie der nuklearen Abschreckung
An der Theorie der nuklearen Abschreckung lässt sich aber noch grundlegendere Kritik formulieren. Eine Fundamentalkritik an der Abschreckungstheorie bezieht sich auf die vereinfachende Annahme der rational im Sinne einer Kosten-Nutzen-Kalkulation handelnden Akteure. Historische Fallstudien legen nahe, dass diese theoretische Annahme sich mit dem Verhalten realer EntscheidungsträgerInnen nicht deckt. So gut wie nie wählten diese in Krisen absichtlich und in kalkulierter Weise Handlungsoptionen, mit denen übermäßiger Druck auf ihr Gegenüber ausgeübt worden wäre. Vorsicht, Besonnenheit und Angst sind weit häufiger anzutreffen als die Bereitschaft zur gezielten Risiko- oder Gewalteskalation. Die intensiv erforschte Kuba-Krise gilt dafür in der Fachliteratur als ein besonders nachdrücklicher historischer Beleg.
Auch eine Reihe anderer vereinfachender Annahmen lassen sich hinterfragen. So schlüpfen etwa durch die groben Maschen des Chicken Game nicht nur die Nuancen des politischen Geschäfts. Ganz entscheidende Aspekte, wie etwa der Einfluss dritter Akteure, Belohnungen aufgrund bewältigter Krisen oder auch die Möglichkeit eines Kompromisses bleiben außen vor. Darüber hinaus kann in der Praxis nicht unterstellt werden, dass Signale wie im Modell tatsächlich empfangen und korrekt interpretiert werden. Die Gefahr von Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen zwischen Nuklearmächten wiegt in der Abschreckungspraxis enorm schwer. Die Psyche von Entscheidungsträgern, ihre Wertvorstellungen und kulturellen Hintergründe ebenso wie die innere Verfasstheit von Staaten und Entscheidungsprozesse in Regierungsapparaten kommen in der Theorie der nuklearen Abschreckung gar nicht vor. Ihren schärfsten Kritikern gilt die Abschreckungstheorie daher als ebenso theoretisch elegant wie praktisch irrelevant.
Abgerundet wird die Kritik durch einen letzten, fundamentalen Zweifel. Da seit Hiroshima und Nagasaki kein Nuklearwaffeneinsatz mehr stattgefunden hat, lässt sich streng genommen kein Kausalzusammenhang zur Abschreckung herstellen. Der seit 1945 anhaltende Nichtgebrauch von Nuklearwaffen ist eben genau das, ein Nicht-Ereignis. Und Ursachen sind dort, wo keine klar beobachtbaren Effekte sichtbar werden, eben bestenfalls näherungsweise, im strengen Sinne gar nicht, festzumachen. Blieb der Nuklearkrieg bisher also wirklich wegen oder vielleicht eher trotz der nuklearen Abschreckung aus?
Nukleare Abschreckung: Eine Einordnung
Trotz der fundamentalen Kritik an der Theorie der Abschreckung und den Zweifeln an ihrer genauen Wirkung in der Praxis wäre es übertrieben, nuklearer Abschreckung gänzlich die Bedeutung abzusprechen. Denn es ist, wenngleich nicht erwiesen, so doch zumindest plausibel, dass sie das Verhalten und Entscheidungen von Staaten beeinflusst. Die Vermutung, dass nukleare Abschreckung zwar praktisch relevant, aber theoretisch nicht zufriedenstellend erfasst ist, treibt die Forschung weiter an. Statt nukleare Abschreckung als einen modellhaften, reproduzierbaren Mechanismus zwischen automatenhaft-rational funktionierenden Staaten zu verstehen und zu beschreiben, bekommen die Staatskunst und das Handeln und Empfinden von politischen und militärischen EntscheidungsträgerInnen mehr Gewicht. Die Zweifel an der Berechenbarkeit der US-Nuklearpolitik während der Präsidentschaft Donald Trumps sind dafür genauso beispielhaft wie die aktuellen Versuche, die persönliche Risiko- und Eskalationsbereitschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuschätzen. Die von Rationalitätsannahmen verdrängte Bedeutung von Emotionen systematisch zu berücksichtigen ist nur ein Beispiel für solche neueren wissenschaftlichen Ansätze – denn Furcht ist ganz offensichtlich der Dreh- und Angelpunkt der Abschreckung. Damit kehrt die Forschung auch zu den Wurzeln der akademischen Beschäftigung mit nuklearer Abschreckung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, als über nukleare Abschreckung noch weniger rationalistisch und szientistisch nachgedacht wurde.
Nukleare Abschreckung und der Krieg in der Ukraine
Ordnet man den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in das oben entwickelte theoretische Gerüst ein, so lassen sich einige Aspekte besser systematisieren. Zugleich begegnen uns die bereits bekannten Blindstellen und Fallstricke der Abschreckung wieder.
Russlands wiederholte nukleare Drohungen sind leicht als Risikoeskalation zu erkennen. Das Warnen vor dem Überschreiten der nuklearen Schwelle soll den Westen zum Einlenken bei Wirtschaftssanktionen sowie der Unterstützung der Ukraine zwingen. Russlands Bedrohungspotenzial ist dabei beträchtlich. Schon seit Jahren sind etwa Iskander-Raketen in der russischen Enklave Kaliningrad stationiert. Sie können mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden, reichen bis nach Berlin, und ihre Flugzeit beträgt nur wenige Minuten. Ob Wladimir Putin die rote Linie zu einem Nuklearwaffeneinsatz aber wirklich überschreiten würde – gegen welche Ziele, in der Ukraine oder gar in Europa, unter welchen Umständen – bleibt Spekulation. Er müsste mit exorbitanten Kosten für sich und sein Land rechnen. Und das oben beschriebene Problem des Glaubwürdigkeitsverlusts nach der x-ten Drohung stellt sich auch für ihn.
Um die Risikoeskalation nicht zu befördern, verzichten die westlichen Staaten bisher auf jegliche gleichrangige Reaktion. Die USA verschieben eigene Raketentests und verurteilen das russische Säbelrasseln als unverantwortlich, und in Europa bleiben Fingerzeige auf die nukleare Teilhabe oder eigene nukleare Fähigkeiten bislang aus. Die Gefahren durch Fehlwahrnehmung oder ein unabsichtliches Auslösen eines Nuklearschlags stehen allen EntscheidungsträgerInnen zweifelsohne klar vor Augen.
Zeitgleich eskalieren sowohl Russland als auch die dank westlicher Hilfe mit Waffen, Gerät und Munition gestärkte Ukraine Gewalt. Die Kriegsparteien ringen mit konventionellen Mitteln um die Eskalationsdominanz. Die Verlautbarungen aus Moskau lassen hier erwarten, dass Verhandlungen um eine Waffenruhe wohl erst dann Aussicht auf Erfolg haben werden, wenn das angreifende Russland sich von weiterer Eskalation keine Gewinne mehr verspricht.
Die komplexe Gleichzeitigkeit von Risiko- und Gewalteskalation zeigt bereits, dass die idealtypischen Modelle in der Analyse nur bedingt weiterhelfen. In der Realität sind sie selten klar zu trennen und treten fast immer miteinander verquickt auf. Des Weiteren unterstreicht der russische Krieg gegen die Ukraine nachdrücklich, dass Nuklearwaffen politische – keine militärischen – Waffen sind. Denn aus militärischer Sicht existieren weder in der Ukraine noch irgendwo sonst auf der Welt legitime Ziele für Nuklearwaffen. Ihre explosive Wirkung ist immer zu massiv, die Folgen ihres Gebrauchs immer zu dramatisch, eine Vereinbarkeit mit dem Kriegsvölkerrecht immer unmöglich.
Selbst aus der Sicht eines Wladimir Putins wäre der Einsatz einer Nuklearwaffe das Überschreiten einer international wohlverstandenen Grenze, ein gezielter Tabubruch. Deswegen werden gegenwärtig auch Szenarien diskutiert, in denen Russland eine Nuklearwaffe über der Ostsee oder dem Schwarzen Meer – also gleichsam »nur« zu Demonstrationszwecken – zünden könnte.
Zu guter Letzt bleiben die oben diskutierten Schwierigkeiten des Gewalteskalationsmodells. Können die Ukraine und der Westen verlässlich genug einschätzen, auf welcher Eskalationsstufe Russland – mithin Putin persönlich – sich im Ukrainekrieg selbst sieht? Historische Beispiele legen nahe, dass unterlegene Gegner Nuklearmächte durchaus mit konventionellen Mitteln zurückschlagen können, ohne damit unweigerlich eine nukleare Reaktion auszulösen. So haben die USA letztlich weder im Korea- noch im Vietnamkrieg zu Nuklearwaffen gegriffen, ebenso wenig die Sowjetunion im Afghanistankrieg. Auch ein hart sanktioniertes und in der Ukraine militärisch scheiterndes Russland greift also nicht zwangsläufig zu Nuklearwaffen. Aber weil Abschreckung eben keine nach Naturgesetzen funktionierende politische Physik ist, sondern von Menschen gemacht werden muss und folglich immer auch scheitern kann, bleibt das Restrisiko, das Nuklearwaffen per se problematisch macht.
Abschreckung und Rüstungskontrolle
Schon die frühsten Schriften zur nuklearen Abschreckung erkannten sie als paradoxes Unterfangen: Indem man mit ihr alles darauf ausrichtet, die Welt jederzeit in die Luft sprengen zu können, soll man eben jenes niemals tun müssen.
Es scheint dringend geboten, politisch so zu handeln, dass man nie gänzlich und ausschließlich auf nukleare Abschreckung angewiesen ist. Rüstungskontrolle ist daher seit Jahrzehnten, insbesondere nach dem Schock der Kuba-Krise, gleichsam die Kehrseite der Abschreckung. Sie soll Vertrauen aufbauen und Schritt für Schritt das im »Gleichgewicht des Schreckens« angelegte Vernichtungsrisiko reduzieren. Die Erosion einiger bedeutender Rüstungskontrollverträge in den letzten zehn Jahren ist deswegen Anlass zu großer Sorge – für Europa ist dabei insbesondere das Ende des INF-Vertrags bedauerlich. Dieser hatte in Europa über 30 Jahre lang die Gefahr durch nukleare Mittelstreckenraketen entschärft. Strategien aus dem Kalten Krieg taugen nur bedingt zum Umgang mit dem wieder erstarkenden nuklearen Risiko. Denn die Sicherheitslandschaft in Europa und auf der Welt ist komplizierter geworden. Die Zahl der Nuklearwaffenstaaten hat zugenommen. Konventionelle Hightech-Waffen, die Möglichkeit zu militärischen Operationen im Cyberraum und eine manipulationsanfällige globale Informationslandschaft verkomplizieren die Beziehungen zwischen Nuklearwaffenstaaten zusätzlich.
Einen Meilenstein konnte die nukleare Rüstungskontrolle zuletzt verbuchen: Am 22. Januar 2021 trat der Atomwaffenverbotsvertrag (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) in Kraft, der Nuklearwaffen, genau wie Bio- und Chemiewaffen, verbieten und ihre Zahl weltweit auf Null reduzieren will. Doch kein Nuklearwaffenstaat hat unterzeichnet oder wird dies in absehbarer Zukunft tun. Das erstrebenswerte Ziel einer atomwaffenfreien Welt rückt aktuell eher in die Ferne. Wir werden mit nuklearer Abschreckung gezwungenermaßen noch eine Weile leben müssen.
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Vorliegender Text ist am 6. Mai dieses Jahres auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung unter der Creative Commons Lizenz »CC BY-NC-ND 4.0« erschienen. bpb.de
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Essay, Fazit 183 (Juni 2022), Foto: Universität der Bundeswehr München
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