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Politicks Juni 2022

| 9. Juni 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 183, Politicks

Graz – Die ÖVP lernte auf die harte Tour
Die Grazer Gemeinderatswahl am 26. September 2021 war für viele ÖVP-Funktionäre bis zum Wahltag eine reine Formsache. Der Kampf um die Nummer Eins war aus ihrer Sicht klar entschieden. Und entsprechend fiel auch der Einsatz aus. Für sie hatte nur Siegfried Nagl das Zeug zum Bürgermeister. Der bei der Bevölkerung beliebten Elke Kahr traute man zwar Zugewinne und einen souveränen zweiten Platz zu, aber das erklärte man sich mit dem desaströsen Zustand der Grazer SPÖ und den fast ausschließlich auf Bobo-Themen ausgerichteten Grünen. Wie in aller Welt sollte eine Partei, die eine von den meisten Demokraten verachtete verbrecherische und totalitäre Ideologie vertritt, auch jemals Nummer Eins in der zweitgrößten Stadt Österreichs werden? Da konnte Elke Kahr noch so sympathisch wirken oder sein – schließlich war und ist sie Kommunistin!

Und so führte die ÖVP ihren Wahlkampf ähnlich wie fünf Jahre zuvor. Sie zeigte auf, dass sich Graz unter Siegfried Nagl zum dynamischsten Ballungsraum Österreichs entwickelt hat und dass es jetzt darum gehen würde, die Verkehrsinfrastruktur der Stadt an seine inzwischen 300.000 Einwohner und 100.000 Einpendler anzupassen. Und auch der Grazer KPÖ-Wahlkampf verlief so wie immer. Elke Kahr setzte auf das bewährte Konzept ihres Vorgängers Ernest Kaltenegger, der von Beobachtern gerne als »Herz-Jesu-Kommunismus« bezeichneten Politik für die sozial Schwachen. Die KPÖ konzentrierte sich auf die schlecht ausgebildeten Wohlstands- und Gentrifizierungsverlierer. Menschen, für die die große Dynamik vor allem zu überteuerten Mieten und zu anderen kapitalistischen Ungerechtigkeiten – jedenfalls zu einer schlechteren Lebensqualität geführt hatte. In jeder Großstadt gibt es eine Schicht, die ihr Leben lang vom Staat alimentiert werden muss und es daher nie zu nennenswertem Eigentum schafft. Und zum linkspopulistischen »Herz-Jesu-Kommunismus« gehört natürlich auch, »die da oben« für das eigene Unvermögen verantwortlich zu machen. Kahr zeigte aber auch persönliche Solidarität mit den Grazer Wohlstandsverlierern. Sie machte sich selbst zu einer von ihnen, indem sie – wie übrigens auch ihre Parteikollegen – auf die Hälfte ihres aus Steuergeld finanzierten Politikereinkommens verzichtete und in einen Wohltätigkeitsfonds der KPÖ einzahlte. Damit brachte sie nicht nur die Graz-Redaktion der Kleinen Zeitung auf ihre Seite. Sie holte in der Folge auch viele der sonst grünen Bobo-Stimmen.

Der bürgerliche Frust saß tief
Das alles hätte jedoch noch nicht zum desaströsen ÖVP-Ergebnis des 26. September geführt. Die großen Veränderungen, die Nagl in Graz bewirkt hatte, verunsicherten nämlich auch viele bürgerlichen Wähler. Die gingen jedoch – anders als etwa die Fridays-for-Future-Umweltschützer  – nie für ihre Sehnsucht nach einem Ende der Bauwut an die Öffentlichkeit. Obwohl die Antennen von Nagl gewöhnlich sehr sensibel auf Stimmungen und Trends reagieren, unterschätzte er das Potenzial dieses bürgerlichen Unmuts. Dabei war nicht nur die Stimmung, sondern auch das Ergebnis erkennbar.  Nach einem Interview mit Siegfried Nagl, etwa acht Wochen vor der Wahl in Fazit, gab es zahlreiche Reaktionen. Viele Grazerinnen und Grazer fürchteten angesichts der Verdichtung ihrer Wohngebiete und tausenden Wohnungen, die überall in der Stadt neu entstanden, um ihre Lebensqualität und um den Wert ihres Wohneigentums.

Von Fazit Anfang September darauf angesprochen, erklärte Nagl, dass ihm schon klar sei, dass man es nie allen recht machen könne. Er werde die Wahl trotzdem gewinnen, weil alle in der ÖVP mit vollem Einsatz an der Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler mitwirken würden. Das Ergebnis und die niedrige Wahlbeteiligung sprachen eine andere Sprache. Viele ehemalige ÖVP-Wähler nutzten den Wahltag lieber für Ausflüge an die Weinstraße oder in die Berge und blieben der Urne fern, weil es ihr Siegi sicher auch ohne ihre Stimme schaffen würde oder weil er ihre Stimme diesmal ganz einfach nicht verdient hatte.

Die schwierige Oppositionsrolle der Grazer ÖVP
Sieben Monate nach der Gemeinderatswahl beginnt sich der Schock, der die Grazer ÖVP mit der Wahlniederlage von Siegfried Nagl erfasst hatte, langsam zu lösen. Das hat lange gedauert, aber das ist verständlich. Schließlich musste man erst einen Weg finden, um mit der neuen Rolle als Oppositionsführer umzugehen.  Da ist zum einen ein ideologisches Dilemma: Wie soll man mit einer Bürgermeisterin umgehen, die zweifellos sozial engagiert ist und für die Schwachen eintritt, jedoch mit dem Kommunismus eine verbrecherischen Ideologie vertritt? Entschuldigen soziales Engagement und eine pragmatische – weitgehend ideologiebefreite – Kommunalpolitik, die vielen Menschen, die im Namen des Kommunismus im letzten, aber auch noch in diesem Jahrhundert ermordet wurden? Wenn man sich dazu bekennt, die KPÖ wegen ihrer Grazer Ausprägung wie jede andere Partei zu behandeln, müsste man dann nicht auch die Anhänger anderer Totalitarismen nach ihren Handlungen und nicht nach ihrem Gedankengut bewerten?

Die Spitzen der Grazer ÖVP, das sind die Stadträte Kurt Hohensinner und Günter Riegler sowie Fraktionsführerin Daniela Gmeinbauer, tun das einzig in ihrer Position Mögliche. Sie versuchen, dieses ideologische Dilemma weitgehend zu ignorieren und wagen sich an die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Politik der KPÖ-geführten Stadtregierung. Wie sonst könnte man mit Kommunisten über bessere Kinderbetreuungseinrichtungen, Fahrradwege oder Eintrittspreise in die Grazer Freibäder diskutieren? Dann gibt es da auch ein personelles Dilemma: Kurt Hohensinner war als Nachfolger von Siegfried Nagl im Bürgermeisteramt prädestiniert und Günter Riegler ist als Steuerberater ein Wirtschafts- und Finanzexperte. Keiner der beiden eignet sich zum polternden oder polemisierenden Oppositionsführer.

Konstruktiv innerhalb der Ressorts, schonungslos bei den Schattenthemen  
Sowohl der sozial engagierte Hohensinner als auch der technokratische Riegler bekennen sich zu ihrer vom Proporzsystem vorgegebenen Verantwortung als Stadtsenatsmitglieder. Und sie versuchen in ihren von der Linkskoalition ziemlich zerfledderten Ressorts, so viel wie möglich für die Grazer Bevölkerung zu erreichen.

Beide machen ihre Oppositionsrolle an ihren Schattenressorts – das sind jene Bereiche, die sie wegen ihres beruflichen Werdegangs oder ihrer ehemaligen Ressortverantwortung bestens kennen – inhaltlich fest.
Bei Hohensinner sind das Sozial-, Bildungs- und Integrationsfragen und Riegler ist Experte in finanziellen Angelegenheiten sowie bei den städtischen Beteiligungen. Bis jetzt versucht die unerfahrene Rathauskoalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ, Angriffsflächen so gut es geht zu vermeiden. Daher gibt es auch noch so gut wie keine eigenen Projekte der neuen Stadtregierung. Außerdem muss der durchaus umgängliche Finanzstadtrat Manfred Eber gerade ein Budget aufstellen. Sein Schattenstadtrat Günter Riegler hat bereits deutlich aufgezeigt, dass er Maßnahmen wie die von Eber geplante Auflösung von Rücklagen in den Abteilungen schonungslos und öffentlich diskutieren wird. Vor diesem Hintergrund darf man durchaus gespannt sein, wie die KPÖ ihre zahlreichen Wahlversprechen finanziell bedecken will, ohne die Stadt zu überschulden.

Nächstes Jahr ist Präsidentschaftswahl
Man darf gespannt sein, wann Bundespräsident Alexander Van der Bellen seine Wiederkandidatur als Bundespräsident bekanntgeben wird. Dass er das Rennen macht, steht außer Zweifel. Schließlich wollen sich SPÖ und ÖVP nicht wieder so eine blutige Nase holen wie bei der letzen Wahl, als sie mit ihren Kandidaten Rudolf Hundsdorfer und Andreas Khol spektakulär gegen Van der Bellen und Norbert Hofer scheiterten. Sie werden daher auf eigene Kandidaten verzichten. Ein einsames Rennen wird es für Van der Bellen trotzdem nicht werden, denn bis jetzt haben bereits Bierparteigründer Marco Pogo und Oe24 Polit-Talker Gerald Grosz ihre Spaßkandidaturen bekanntgegeben. MFG-Chef, Michael Brunner, hat sein Antreten ebenfalls angedeutet, um die Impfgegner-Bewegung im Gespräch zu halten. Der Grazer Gerald Grosz ist übrigens schon im Wahlkampf. Auf Amazon verkauft er T-Shirts mit seinem Slogan »Make Austria Grosz again«. Spannend wird, wen die FPÖ nächstes Jahr ins Rennen schicken wird. Im Gespräch ist etwa Susanne Fürst, der man ein ähnliches Ergebnis wie vor fünf Jahren Norbert Hofer zutraut, weil sie bis weit in die bürgerliche Mitte hineinwirken könnte. Es wäre aber auch möglich, dass Parteichef Herbert Kickl selbst antritt. Er könnte den Wahlkampf dazu nutzen, um sein Image als rechter Scharfmacher abzumildern. Das könnte der FPÖ dann ein Jahr später bei der Nationalratswahl nützen, wenn es darum geht, der ÖVP die ehemaligen Kurz-Wähler wieder wegzunehmen.

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Politicks, Fazit 183 (Juni 2022)

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