Fazitthema Standort
Redaktion | 27. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 189, Fazitthema
Die steirische Industrie ist seit Jahrhunderten nicht nur Wirtschaftsmotor, sondern auch Lebensmotor des Landes. Die Rahmenbedingungen haben sich jedoch in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Was es jetzt braucht, ist ein bedingungsloses Bekenntnis zum Standort. Text von Johannes Roth
::: Hier im Printlayout online lesen
Die B 115 von Leoben über Trofaiach und Vordernberg nach Eisenerz ist ein uralter Handelsweg. Schon in der Steinzeit wurde der Pfad vom Murtal über den Präbichl nach Enns genutzt, in der Bronzezeit wurde hier Kupfererz abgebaut und natürlich haben auch die Römer ihre Spuren hinterlassen. Der steirische Teil der Eisenstraße ist landschaftlich reizvoll. Die Gegend ist auch touristisch ein Highlight. Wirtschaftlich gesehen ist allerdings nicht mehr viel los: Die Einheimischen und die Bürgermeister der die Eisenstraße säumenden Gemeinden hören und lesen es nicht gerne – aber die Eisenstraße ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie industrieller Niedergang aussieht: Man trifft nicht nur auf die Ruinen der einst allgegenwärtigen Eisenindustrie, die zu Zeiten Erzherzog Johanns so richtig aufzublühen begann. Der Niedergang der Industrie entlang dieses Streckenabschnittes schlägt sich auch im Ortsbild nieder: Man fährt durch Ortszentren, die Schwierigkeiten haben, die notwendigste Infrastruktur aufrechtzuerhalten: Orte, in denen Grund und Boden einmal mehr wert war als an der Wiener Ringstraße, ringen heute darum, attraktiv genug für Lebensmittelhändler, Arzt oder Postamt zu sein.
Schwierige Demografie
Die wenigen, die noch in der Gegend ansässig sind, werden immer älter. Die Jungen gründen ihre Familien bestenfalls in Leoben oder in der Großregion Bruck/Kapfenberg, wo es noch Industrie und damit Ausbildung, Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, Arbeit und Infrastruktur gibt. Viele kehren der Obersteiermark ganz den Rücken und ziehen nach Graz, Wien oder Linz. Die Überalterung schreitet hier schneller voran als in anderen steirischen Regionen: Bis 2048 wächst die Steiermark. Vor allem im Großraum Graz wird mit einer Zunahme der Bevölkerung um 16 Prozent gerechnet – allerdings werden bis 2050 fast 30 Prozent der Steirerinnen und Steirer im Pensionsalter sein. Die Zahl der Arbeitskräfte wird weiter sinken, im ländlichen Raum wird der Rückgang schneller und stärker spürbar sein. In den nächsten 17 Jahren wird die Zahl der Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren um weitere 70.000 sinken, bis 2050 werden dem Arbeitsmarkt 85.000 Arbeitskräfte fehlen.
Die Folge werden – wie schon jetzt an der alten Eisenstraße – geschlossene Wirtshäuser, verfallende Häuser, blinde Auslagenscheiben und leere Ortszentren, verrostende Schienen und stillgelegte Bahnhöfe sein. Deindustrialisierung ist kein schöner Anblick.
Die Spuren der ersten Globalisierung
Es sind die Folgen der Stahlkrisen der 1970er und 1980er Jahre, die ihre Spuren in der Obersteiermark hinterlassen haben. Damals ist die Konkurrenz unter den stahlerzeugenden Ländern weltweit sehr rasch gewachsen. Was früher nur wenigen Regionen vorbehalten war, nämlich die Kunst, Erz abzubauen und Stahl daraus zu erzeugen, wurde durch die voranschreitende Globalisierung in immer mehr Ländern möglich. Dazu kam die erste große Ölkrise: Innerhalb kürzester Zeit hatte sich in den 1970ern durch einen Erpressungsversuch der arabischen Staaten der Ölpreis vervierfacht. Weltweite Konjunktureinbrüche waren die Folge. Auch die Steiermark blieb nicht verschont. Inflation, verunsicherte Investoren, Rezession beendeten den jahrzehntelangen Aufschwung der Nachkriegsjahre: Die Nachfrage nach steirischem Stahl brach – ebenso wie die Nachfrage nach deutschem, französischem oder schwedischem Stahl – ein. Ein neuerlicher Aufschwung der Industrie war nur von kurzer Dauer: Schon zu Beginn der 1980er Jahre zeichnete sich die nächste Krise ab – eine, die nun wirklich strukturelle Folgen hatte. Während die VÖEST in Donawitz Betriebe zusammenlegte und verschlankte, wurden andernorts steirische Riesenbetriebe – wie die »Steirischen Gußstahlwerke« mit über 2.200 Arbeitnehmern, die den Ort Judenburg fast 100 Jahre geprägt hatten –, radikal redimensioniert. Hunderte Arbeitsplätze gingen in Judenburg so verloren, um andere Standorte wie zum Beispiel Kapfenberg (das damals politisch größeren Einfluss innerhalb der Kreisky-SPÖ gehabt hatte) zu erhalten, obwohl der Betrieb an sich profitabel gewesen war. Auch andernorts, in Eisenerz, begann es in den 1980er Jahren richtig eng zu werden: 4.000 Menschen arbeiteten bis dahin am Erzberg, Jahr für Jahr wurden mehr Bergleute entlassen, bis kurz vor der geplanten Schließung 2002 nur mehr 150 Kumpel die 1.300 Jahre alte Bergbautradition des Steirischen Brotlaibes aufrechterhielten. Überalterung, Abwanderung, sinkende Kaufkraft sind seither von Judenburg bis Eisenerz Standortfaktoren, derer man kaum Herr wird.
Die Perlen haben sich prächtig entwickelt
In Eisenerz und Judenburg hat man sich mit dem Niedergang der einstigen Großindustrien arrangiert. Die verbliebenen Reste sind Perlen der steirischen Wirtschaftskraft geworden, entlang der Mur-Mürz-Furche werden wieder Produkte von Weltruf gefertigt. In Judenburg glänzen Stahlunternehmen wie Stahl Judenburg, Wuppermann oder Hendrickson, die in ihrem Bereich Weltmarktführer sind: Hendrickson im Bereich Blatt- und Parabelfedern für Lkw, Wuppermann bei verzinkten Rohren, Stahl Judenburg bei hochwertigem Stab- und Blankstahl, wie er als Grundlage für hochtechnologisierte Bauteile in der Automobilindustrie oder im Anlagenbau Verwendung findet. Am Erzberg wird nach wie vor Erz gefördert – nicht zuletzt dank der plötzlich gestiegenen Nachfrage aus China –, der Ort selbst nutzt jede sich bietende Gelegenheit, um die strukturellen Schwächen zu überwinden. 250 Mitarbeiter ringen dem Berg im Tagebau jedes Jahr etwa drei Millionen Tonnen Feinerz ab, das in Donawitz und Linz von der VÖST zu hochwertigem Stahl verarbeitet wird. Tatsache ist: Die steirische Industrie hat die Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte gut gemeistert. Was man am Beispiel Obersteiermark trotzdem gut sehen kann, sind die Auswirkungen von schleichenden, aber plötzlichen Deindustrialisierungsphasen für das Land und dessen Bewohner: Der Industriestandort steht und fällt mit der Verfügbarkeit von Energie, der Qualifikation der Mitarbeiter, dem Vorhandensein von Arbeitskraft, einer guten Infrastruktur und der Qualität der Produkte. Der Wettbewerbsdruck auf dem Weltmarkt bedingt zudem eine große Innovationskraft. Und um ständig mit marktfähigen Innovationen präsent zu sein, ist Forschung und Entwicklung – entweder in eigenen F&E-Abteilungen oder in universitären bzw. außeruniversitären Forschungseinrichtungen – maßgeblich. Fehlt nur eine dieser Voraussetzungen, sind die Folgen für den Standort dramatisch: Denn nicht nur die Industriebetriebe geraten in eine Schieflage, sondern auch die gewerblichen Zulieferer. In der Folge wandert die Bevölkerung ab und ganze Orte sterben im Wortsinne aus.
Ohne tragfähige Zukunftsstrategie ist der Industriestandort nicht zu halten
Die Steiermark als Industriestandort hat auch angesichts der aktuellen Krise extrem viel zu verlieren. Ein Abbau oder eine Redimensionierung der steirischen Industrie hätte weitreichende Folgen. Schließlich hängt jeder zweite steirische Arbeitsplatz direkt an einem produzierenden Betrieb; je nach Lesart beschäftigt die Industrie zwischen 118.000 und 150.000 Mitarbeiter. Sie tragen zu einem großen Teil die Verantwortung dafür, dass die Steiermark als Exportland weiterhin gefragt ist. Derzeit gehen drei von vier Produkten ins Ausland, Hauptabsatzmarkt ist Deutschland; der Gesamtexport steirischer Produkte setzt 25,95 Milliarden Euro um. Das entspricht der Hälfte des Bruttoregionalprodukts der gesamten Steiermark. Im Vergleich dazu: Der Anteil des land- und forstwirtschaftlichen Wirtschaftsbereiches am steirischen BRP betrug 2020 gerade einmal zwei Prozent und der des Tourismus etwa vier Prozent.
Fast zwei Milliarden Euro geben steirische Industriebetriebe für Forschung und Entwicklung aus, das sind drei Viertel der steirischen F&E-Gesamtausgaben – mehr als die meisten anderen Regionen in Europa. Eisen und Stahl dominieren die steirische Industrie immer noch: Die meisten Mitarbeiter sind in den Zweigen Maschinen- und Fahrzeugbau (30.512) sowie Metallerzeugung und -verarbeitung (23.233) beschäftigt. Auch die Zweige »Holz und Papier«, »Nahrungs- und Genussmittel« und »Elektrotechnik und Elektronik« geben in der heimischen Industrielandschaft den Ton an. Relevant sind etwa 520 steirische Industriebetriebe, die sich entlang der Mur-Mürz-Furche, dem Großraum Graz und Graz-Umgebung und etwas verstreut in der Oststeiermark konzentrieren. Vor allem der klugen Clusterpolitik der beginnenden 2000er-Jahre ist es zu verdanken, dass die Steiermark sich heute im internationalen Vergleich als Wirtschaftsstandort gut behaupten kann. Wie die Vergangenheit zeigt, sind die derzeitigen Herausforderungen jedoch als deutliches Alarmsignal zu verstehen: Steigende Energiepreise, Inflation, überbordende staatliche »regulierende« Eingriffe, falsche Prioritäten und politische Instabilität bergen ein ebenso großes Gefahrenpotenzial wie die geänderten Rahmenbedingungen am Weltmarkt: Die Corona-Pandemie, die Klima-Krise, die Reindustrialisierung der USA, die Dominanz Chinas, die Unberechenbarkeit Russlands, die Energiepreise – all diese und weitere Faktoren gebieten dringend tragfähige Zukunftsstrategien für die steirische Industrie. Mit der positiven Entwicklung, die die steirische Industrie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, könnte es sehr schnell vorbei sein, wenn sich die Wettbewerbsbedingungen etwa im Bereich der Energieversorgung dramatisch ändern, wenn also auf die Umbrüche der letzten Jahre nicht schnell und pragmatisch reagiert wird.
Seit 2017 hat sich die deutsche
PKW-Produktion halbiert
Zentrale Themen sind jedoch kaum regional zu lösen. Daher müssen die Herausforderungen – unter anderem, weil die steirische Industrie eine so starke Exportorientierung aufweist – im europäischen Kontext gedacht und bewältigt werden. Von entscheidender Bedeutung gerade für die Steiermark wird zum Beispiel die Entwicklung der Automobilproduktion in Deutschland werden: Seit 2017 hat sich die Pkw-Produktion dort aus unterschiedlichen Gründen praktisch halbiert. Es liegt auf der Hand, dass dies auch in den steirischen Zulieferbetrieben des Autoclusters nicht unbemerkt bleiben kann. Fraglich ist auch, ob und wie sich das von der EU verordnete Aus für Verbrennermotoren auf diesen Industriezweig auswirken wird und ob sich dieser ausreichend darauf vorbereitet. Das größte aller Risiken für den Industriestandort Steiermark bleibt aber die bislang nur mangelhaft gelöste Energiefrage.
Will die steirische Industrie konkurrenzfähig bleiben, gilt es, einerseits günstige, andererseits saubere Energiequellen zu erschließen. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass der Umgang mit der Klima-Problematik zur zentralen Herausforderung innerhalb der Europäischen Union werden wird. Die steirische Industriellenvereinigung ist hier wenig optimistisch: Der Weg zwischen einer »politisch propagierten Re-Industrialisierung« und der »defacto fortschreitenden De-Industrialisierung« sei in Europa noch nicht entschieden. »Die Fakten sprechen aber für einen weiteren Substanzverlust, weil die politischen Eliten nicht wirklich ernsthaft um einen Produktionsstandort kämpfen und vor allem die notwendigen Strukturreformen fürchten«, ist einem Grundsatzpapier (»Die wirtschaftliche Zukunft der Steiermark«) zu entnehmen. »Der politisch-ideologische – statt pragmatisch-funktionale – europäische Zugang zur Klimaproblematik führt derzeit dazu, industrielle Kernbranchen zu gefährden. Das beeinträchtigt auch innovative Clean-Tech-Technologien, die das grundsätzliche industrielle Entwicklungs-Know-how klassischer Branchen (Beispiel Special-Steel-Industry, Baustoffindustrie, Materials) benötigen«, heißt es weiter. Mehr noch: Österreich befinde sich seit Monaten im »Alarmstufe-Rot-Modus«. Vor dem Hintergrund der Energiepreise und der innereuropäisch sehr unterschiedlichen nationalen Lenkungsmaßnahmen – zum Beispiel in Deutschland – laufe nun der Countdown zur Deindustrialisierung. Man sei angesichts der zögerlichen Haltung der österreichischen Bundesregierung nicht mehr konkurrenzfähig. »Wir haben in Österreich und in der Steiermark die allerbesten Voraussetzungen für eine florierende Industrie. Wenn aber unsere Industrie mit Energiekosten im drei- bis fünffach höherem Ausmaß produzieren müsste, können die Betriebe am Markt nicht bestehen. Darüber hinaus müssten an Standorten mit derart hohen Nachteilen Investitionen zurückgehalten werden – was eine Deindustrialisierung zur Folge hätte«, so IV-Präsident Stefan Stolitzka.
Die quälend langsame Digitalisierung
Doch die Energie- und Klimaproblematik ist für eine ohnehin schon überregulierte Industrie nicht das einzige Gefahrenpotenzial. Auch die global fortschreitende Digitalisierung entwickelt sich zu einem enormen Risiko für eine Region, in der es nach wie vor oft um Basistechniken wie den flächendeckenden Breitbandausbau geht. Im Januar 2021 waren laut Angaben des Landes Steiermark nur 450.000 Breitbandanschlüsse in der Steiermark aktiv; damit verfügte gerade einmal jeder zweite Haushalt über einen Breitbandanschluss. Eine »Breitbandstrategie 2030« des Landes Steiermark liegt zwar vor, der Ausbau vor allem im ländlichen Gebiet gestaltet sich nicht zuletzt wegen der Topografie oft schwierig.
Digitalisierung mit Blick auf die Industrie 4.0 ist natürlich nicht mit dem Zugang zu schnellem Internet erledigt. Es bedarf hier einer Vielzahl von Maßnahmen, angefangen von der Qualifizierung der entsprechenden Mitarbeiter über Digitalisierungsstrategien für einzelne Unternehmen bis hin zur Schaffung der notwendigen Infrastruktur in den Unternehmen selbst. Die Nutzung von künstlicher Intelligenz, die weitere Automatisierung von Prozessen und Big Data birgt enormes Potenzial für den Industriestandort Steiermark – doch nicht allen Unternehmen scheint dies bewusst zu sein. Zahlreiche Initiativen und Projekte, wie etwa der »Kompetenzatlas Automatisierungstechnik«, sollen diesbezüglich Abhilfe schaffen.
Qualifizierte Arbeitskräfte fehlen
Apropos Kompetenz: Um mittelfristig konkurrenzfähig zu bleiben, braucht die steirische Industrie dringend entsprechend qualifizierte Fachkräfte. Dass die digitale Kompetenz ganz oben auf der Liste der benötigten Kompetenzen steht, liegt auf der Hand. Hochqualifizierte Mitarbeiter wird es in der F & E ebenso brauchen wie in der Fertigung. Die Ausbildungsstätten, angefangen von der FH Joanneum über die TU Graz und die Montanuniversität Leoben bis hin zu Instituten wie dem WIFI oder dem BFI, tragen dieser Notwendigkeit mit hochspezialisierten Ausbildungsangeboten zumindest teilweise Rechnung. In der kommenden Generation gibt es jedoch deutliche Schwächen und ein sinkendes Interesse in und an den MINT-Fächern. Nicht zuletzt deshalb sucht die steirische Industrie händeringend nach qualifizierten Fachkräften. Auch hier werden von Bund, Land und IV Initiativen gesetzt: Der Science Garden ist die jüngste davon, eine Online-Plattform, die MINT-Erlebnisse für drei- bis 19-Jährige schaffen und in der ganzen Steiermark, zentral anbieten soll. Dominik Santner, COO der Anton Paar GmbH und Vorsitzender der Jungen Industrie Steiermark ist überzeugt, dass das der richtige Weg ist: »Wir müssen schon die Kleinsten mit Naturwissenschaften und Technik in Kontakt bringen. Die Praxis zeigt: Es macht schon im Kindergarten richtig Spaß zu experimentieren.« Leider ist Zuwanderung kein Allheilmittel, um dem Fachkräftemangel Herr zu werden. Das Mismatch zwischen offenen Stellen und Arbeitssuchenden ist gerade in der Industrie eklatant. Die Einrichtungen zur Qualifikation sind zwar vorhanden, es braucht aber auch Menschen, die sie nicht nur in Anspruch nehmen, sondern in den erlernten Berufen dann auch arbeiten wollen. Mittlerweile fehlen am Arbeitsmarkt nicht nur Fachkräfte: Vor allem der oft geforderte »qualifizierte Zuzug« ist mit den Migranten, die derzeit zu uns kommen, nicht gegeben: Laut Integrationsfonds sind sieben von zehn Zuwanderern, denen heuer seit Jahresbeginn Asylstatus oder subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, Analphabeten.
Das ganze Land muss
familienfreundlicher werden
Zudem beklagt die Wirtschaft weitere strukturelle Probleme. Der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen ist nur einer davon. Dass die Politik trotz der hohen Steuerlast, die sie von den Unternehmen fordert, im Gegenzug wichtige Infrastrukturmaßnahmen schuldig bleibt, ist ein Problem. So ist die Steiermark etwa bei der flächendeckenden flexiblen Kinderbetreuung weiterhin säumig. Und so kann das gewaltige Potenzial, mit dem etwa junge Eltern an der Beseitigung von Qualifikationsmängeln mitwirken könnten, nur teilweise gehoben werden, weil sie ihre Kinder nicht entsprechend versorgt wissen: Ohne Kinderbetreuung haben Frauen nicht die Möglichkeit, Karriere zu machen und rechtzeitig in den Arbeitsprozess zurückzukommen. Es ist absolut notwendig, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen, stellt etwa die Unternehmerin und IV-Funktionärin Julia Aichhorn klar: »Der akute Mangel an Arbeitskräften führt dazu, dass Familien ganz genau abwägen können, wo ihr Lebens- und Arbeitsmittelpunkt ist. Die Steiermark muss hier dringend an Attraktivität zulegen und die Elementarbildung ausbauen, modernisieren und flexibilisieren.«
Und dann ist da noch der Verkehr …
Die genannten Bemühungen, die Deindustrialisierung hintanzuhalten, zählen nichts, wenn nicht sichergestellt ist, dass die steirischen Produkte und die Mitarbeiter der Unternehmen zu ihren Abnehmern gelangen. Es gilt, den Ausbau der Infrastruktur voranzutreiben. Die Steiermark hat hier immer noch Lücken: Die S37 muss dringend ausgebaut werden, eine Schnellstraße ist auch zwischen Selzthal/Liezen und Trautenfels nötig. Ausgebaut muss auch die S36 werden (Abschnitt zwischen Judenburg und St. Georgen). Generell braucht es auch eine Stärkung der Hauptverkehrsachse von Graz nach Spielfeld – ein Projekt, das die grüne Umweltministerin gerade abgesagt hat. Darüber hinaus ist der Ausbau der Bahnstrecken voranzutreiben. Neben den laufenden Projekten Semmeringbasistunnel und Koralmbahn ist für den Güterverkehr besonders die Pyhrn-Schober-Achse relevant. Dringend nötig auch: Die Anbindung der boomenden Ostregion durch Elektrifizierung der steirischen Ostbahn und Neubau einer Bahnstrecke entlang der A2 von Graz nach Gleisdorf. Und dann ist da noch das leidige Problem mit den Flugverbindungen.
Die Umwelt- und Infrastrukturministerin will ja die Flüge von Graz nach Wien stoppen. Damit würde einer von drei für die Headquartertauglichkeit des steirischen Wirtschaftsstandortes essenziellen Hubs wegfallen. Die meisten Manager und Arbeitnehmer gelangen – in Ermangelung von Direktflügen – nämlich über die Flughäfen Wien, München und Frankfurt zu ihren weltweiten Abnehmern und Zulieferern. Wien ist vor allem für Weiterflüge nach Osteuropa und Asien von großer Bedeutung. Die Politik in Brüssel, Wien und Graz ist also dringend gefordert, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die De-Industrialisierung der Steiermark zu verhindern. Gibt es kein klares Bekenntnis und einen parteiübergreifenden Schulterschluss in der Beantwortung der drängenden Fragen, werden immer weniger steirische Produkte international konkurrenzfähig bleiben. Die geänderten Rahmenbedingungen der Gegenwart steigern den Druck zur Bewältigung der teils lange anstehenden Probleme, denn klar ist: Von der Landwirtschaft und dem Tourismus wird das Land nicht leben können. Die erwirtschaften zusammen nämlich gerade einmal sechs Prozent unseres derzeitigen Wohlstands.
Fazitthema Fazit 189 (Jänner 2023), Foto: Adobe Stock
Kommentare
Antworten