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Festung Europa?

| 10. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 188

Foto: Akademie der Wissenschaften in HamburgEin Essay von Garbiele Clemens. Ein Blick auf die Geschichte der europäischen Integration zeigt das Schwanken der Europäer zwischen den Grundsätzen einer handelsliberalen, Drittstaaten und ihren Bürgern gegenüber offenen Gemeinschaft und dem Bestreben nach Schutz des eigenen Raums.

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Dr. Gabriele Clemens, geboren 1953 in Aachen, ist Historikerin für europäische Geschichte. Sie studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Marburg an der Lahn. Dort habilitierte sie sich 1994 mit einer Arbeit über britische Kulturpolitk der Nachkriegszeit. Seit 2011 ist sie Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und seit 2018 ist sie stellvorsitzende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Direktoriums des Instituts für Europäische Politik.

Am 25. März 1957 unterzeichneten die sechs in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zusammengeschlossenen Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Italien und die Niederlande die Verträge zur Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), die die Grundlage für die mehr als 30 Jahre später gegründete Europäische Union (EU) bildeten. Um die Bürger Europas Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre vom Sinn und der Notwendigkeit dieses neuen Europaprojekts zu überzeugen, wurden die politischen Entscheidungen von einer intensiven Werbekampagne begleitet, zu der neben Zeitungsartikeln, Broschüren und Plakaten auch Filme gehörten. In einigen der zu diesem Zweck produzierten Animationsfilme wurde das Bild einer von starken Mauern umgebenen Staatengruppe (EWG-Staaten) gezeichnet, deren innere Mauern (Grenzen) nach und nach bröckelten und schließlich ganz verschwanden. [1] Die hohen, dicken, an eine Festung erinnernden Außenmauern, die die sechs Staaten umgaben, symbolisierten den Schutz dieses neu geschaffenen grenzfreien Raumes vor dem Eindringen »unliebsamer Faktoren«. Sie wurden seinerzeit durchaus positiv konnotiert und sollten die Furcht vor dem Abbau innereuropäischer Grenzen infolge der geplanten Zollunion mindern. Anders als damals ist das Bild einer »Festung Europa« heute überwiegend negativ konnotiert und wird, gerade vonseiten einiger EU-kritischer Gruppierungen aus dem linken politischen Spektrum, als Anklage gegen die Abschottung des »reichen Europas« gegenüber ärmeren Teilen der Welt und ihren Bewohnern verwandt. [2] Von den Medien verbreitete Bilder, etwa von der Stürmung der Grenzbefestigung in Melilla durch afrikanische Migranten, bestärken die moralische Empörung über eine sich vermeintlich nach außen abschottende Europäische Union, die unter anderem mittels ihrer Wirtschafts-, Asyl- und Migrationspolitik egoistisch ihren Reichtum und ihr sicheres, sorgenfreies Leben gegenüber fremden Eindringlingen verteidigen wolle. Politischer Moralismus im Sinne Hermann Lübbes tritt hier oft an die Stelle rationaler Argumentation. [3] Doch stimmt der Vorwurf, dass die Europäische Union die Gestalt einer nach außen abgeschotteten Festung angenommen hat, überhaupt? Wer den Charakter der Europäischen Union verstehen will, muss einen genaueren Blick auf ihre Entwicklungsgeschichte, ihre Ziele, ihre Ansprüche und ihr politisches Handeln werfen.

Anfänge
Dem Prozess der europäischen Integration, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung europäischer Institutionen einsetzte, lagen verschiedene Motive zugrunde. Die durch den Marshallplan 1948 geschaffene Organization for European Economic Cooperation (OEEC) sollte nach US-amerikanischer Vorstellung den Wiederaufbau und den Wohlstand Europas durch freien Warenaustausch garantieren, den USA damit als Absatz- und Handelspartner dienen und zugleich ein Bollwerk gegen den Kommunismus bilden. Abschottung war nur gegenüber dem kommunistischen Osten geplant, während in Bezug auf die westliche Welt eine Liberalisierung des Handelsverkehrs durchgesetzt werden sollte. Wenngleich die Europäer auch den amerikanischen Vorstellungen nur begrenzt entgegenkamen und weder bereit waren, eine Zollunion noch eine supranationale Institution zu errichten, verfolgte die OEEC doch erste Ansätze zu einer Liberalisierung des europäischen Handels- und Zahlungsverkehrs. Der ein Jahr später auf Anregung der nicht-staatlichen »Europabewegung« gegründete Europarat verstand sich als eine – mit Ausnahme der Verteidigungspolitik – sämtliche Bereiche umfassende Organisation, die den Frieden sichern, das Zusammenwachsen der Europäer auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet fördern und insbesondere das kulturelle Erbe Europas bewahren sollte. Der auf britisches Drängen hin lediglich intergouvernemental strukturierte Europarat konnte allerdings das französische Bedürfnis nach dauerhafter Sicherheit vor Deutschland nicht befriedigen. Aus diesem Grund präsentierte der französische Außenminister Robert Schuman im Mai 1950 den Plan zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die die französische und deutsche Kohle- und Stahlproduktion sowie die weiterer europäischer Staaten unter der Aufsicht einer supranationalen »Hohen Behörde« zusammenfassen und somit die französische Stahlindustrie vor deutscher Konkurrenz schützen sowie den französischen Modernisierungsplan der Wirtschaft retten sollte. Wenngleich dieser Plan und die daraus entstehende EGKS sich vornehmlich auf die westeuropäischen Staaten bezogen, hatte Schuman in seiner Rede gleichwohl den über Europa hinausweisenden Charakter dieser Gemeinschaft betont, indem er hervorhob, dass diese Produktion »der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden [wird], um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen«. [4] Explizit erwähnte er dabei »die Entwicklung des afrikanischen Erdteils«. Doch trotz dieses verbalen Zugeständnisses an eine letztlich weltoffene Gemeinschaft diente die EGKS in erster Linie der Sicherung europäischer Wirtschaftsinteressen. Sie sollte durch die Zusammenarbeit auf dem Energiesektor die mit der Globalisierung des Energiemarktes verbundenen Probleme der europäischen Energiewirtschaften lösen. Angesichts anderer billiger Energieträger wie Rohöl und der immer billiger werdenden Importkohle vor allem aus den USA sahen sich die Europäer beziehungsweise die europäische Kohlewirtschaft gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, um kostengünstiger zu produzieren und dem Wettbewerb standzuhalten. [5]

Zwischen weltoffener Handelspolitik und Protektionismus
Nach den Anfang der 1950er Jahre gescheiterten Versuchen, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sowie eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu errichten, [6] wurde im Zuge der »relance européenne« die europäische Integration auf dem für die staatliche Souveränität weniger sensibel erscheinenden Gebiet der Wirtschaft fortgesetzt. Mehrere Gründe sprachen für die Fortführung der Integration: die enge Verflechtung des bereits vergemeinschafteten Kohle- und Stahlsektors mit anderen Bereichen der Energieversorgung sowie dem Transportsektor, das Interesse weiterer Wirtschaftsbranchen an einer europäischen Zusammenarbeit zur Überwindung bestehender Handelshemmnisse und auch weiterhin das politische Ziel, den westdeutschen Staat dauerhaft und eng in die westliche Gemeinschaft einzubinden. Als Resultat längerer und schwieriger Verhandlungen, die die unterschiedlichen Prioritäten und Interessen der sechs EGKS-Staaten offenbarten, einigte man sich im Juni 1955 in Messina auf die Grundzüge einer zu errichtenden Wirtschaftsgemeinschaft und einer Europäischen Atomgemeinschaft, die nach weiteren detaillierten Verhandlungen in den Römischen Verträgen mündeten. Widerstand gegen den Plan einer auf die sechs Staaten begrenzten Wirtschaftsgemeinschaft kam unter anderem vonseiten des deutschen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, der eine solche, von ihm als protektionistisch und dirigistisch bezeichnete Gemeinschaft als unvereinbar mit den weltweiten Handelsinteressen Deutschlands ansah. Erhards Ziel war die Schaffung eines von autarken Tendenzen, Isolationismus und Protektionismus befreiten Welthandels in einer offenen internationalen Gesellschaft, [7] doch musste sich der Wirtschaftsminister schließlich dem »Integrationsbefehl« von Bundeskanzler Konrad Adenauer fügen und der Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zustimmen. Kern der EWG war die Zollunion, die durch den Wegfall der Binnenzölle und mengenmäßigen Beschränkungen sowie aller sonstigen den freien Warenverkehr beeinträchtigenden Maßnahmen innerhalb von 12 bis 15 Jahren einen gemeinsamen Markt etablieren sollte. Zugleich war ein gemeinsamer Außenzoll vorgesehen, der sich aus dem arithmetischen Mittel der bisherigen Außenzölle aller sechs Staaten errechnete. Für Staaten mit einem zuvor niedrigen Außenzoll, wie die Bundesrepublik und die Niederlande, bedeutete dies eine Erhöhung des Außenzolls gegenüber Drittstaaten und damit eine potenzielle Beeinträchtigung des Handels mit diesen. In den Gemeinsamen Markt wurden auch die Landwirtschaft sowie der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen einbezogen, wobei konkrete Vereinbarungen hierzu erst später getroffen wurden. Ferner sah der EWG-Vertrag neben dem freien Warenverkehr auch den ungehinderten Austausch von Dienstleistungen, den freien Personen- und Kapitalverkehr (die »vier Freiheiten«) sowie eine schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten vor. Weitere Bestimmungen des Vertrags betrafen die Koordinierung der Verkehrs-, Konjunktur-, Wirtschafts-, Währungs- und Außenhandelspolitik, die Angleichung der Sozialpolitik sowie die Außenbeziehungen der Gemeinschaft.

Da in den folgenden Jahrzehnten die Mitgliedstaaten aufgrund wirtschaftlicher Probleme immer wieder zu protektionistischen, den freien Handel begrenzenden Maßnahmen griffen, um ihre jeweils heimische Volkswirtschaft zu schützen, und wenig europäischen »Gemeinschaftsgeist« zeigten, schienen neue Reformanstrengungen nötig, um die Ziele des Gemeinsamen Marktes umzusetzen. Diese erfolgten mit der Verabschiedung der »Einheitlichen Europäischen Akte« (EEA) im Jahre 1986, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat und eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union darstellte. Hauptziel der EEA [8] war die Vollendung des Binnenmarktprojektes bis zum 31. Dezember 1992. Bei diesem (»Europa 92«) handelte es sich im Grunde genommen um die Erfüllung der Ziele des EWG-Vertrags aus dem Jahr 1957: die Errichtung eines Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital gewährleistet ist. Diese Ziele wurden mit der EEA wieder aufgegriffen, präzisiert und mit einigen neuen Akzenten versehen. Wenngleich sich der Charakter der EWG durch die neue Vereinbarung nicht grundsätzlich änderte, wurden doch gerade jetzt Stimmen laut, die vor einer »Festung Europa« warnten. [9] Der damalige Kommissionspräsident der Europäischen Gemeinschaft(en) (EG), Jacques Delors, widersprach dieser Einschätzung: »Europa ist keine Festung, sondern Partner der Welt.« [10] Schließlich war die EG zu diesem Zeitpunkt der weltweit größte Importeur von Waren und mit ihrem Ausfuhr- und Einfuhranteil am Welthandel einer der drei großen Welthandelspartner innerhalb der World Trade Organization (WTO). [11] Zudem hatte sich die Gemeinschaft die Selbstverpflichtung zu einer grundsätzlich weltoffenen Handelspolitik auferlegt. In Artikel 110 des EWG-Vertrags (ebenso später in Artikel 131 EGV des 1993 in Kraft getretenen Vertrags über die Europäische Union/EUV) hatten die Mitgliedstaaten ihre Absicht bekundet, »im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken beizutragen«. [12]

Im Zentrum des EWG-Vertrags stand, wie erwähnt, der Gemeinsame Markt beziehungsweise der Binnenmarkt, der den Wohlstand der EG-Mitglieder mehren und zugleich durch außenhandelspolitische Instrumente wie Zölle und Kontingentierungen Schutz vor unliebsamer Konkurrenz bieten sollte. Diese Schutzinstrumente bargen einerseits durchaus die Gefahr, zum Zwecke des Protektionismus missbraucht zu werden; andererseits aber war die EG als wichtigster Handelspartner der Welt an einer möglichst liberalen Ausgestaltung der Handelspolitik gegenüber Drittstaaten interessiert. Die EG bewegte sich damit ständig »auf einem schmalen Grat zwischen ‚protection‘ einerseits und ‚protectionism‘ andererseits«. [13] Gleichwohl legen detaillierte Analysen des EG-Handelsschutzrechts den Schluss nahe, dass trotz einer »potentiellen Tendenz zum Protektionismus« der vielfach erhobene Vorwurf einer »Festung Europa« unberechtigt und die Gemeinschaft sich ihrer Verantwortung gegenüber den Handelspartnern bewusst gewesen ist. [14] Die aus der Selbstverpflichtung resultierende grundsätzliche Haltung der EG/EU zugunsten einer weltoffenen Handelspolitik war gesetzt, was gelegentliche Neigungen zu einem EG-Protektionismus in bestimmten Bereichen, etwa im Agrarhandel, jedoch nicht ausschloss. [15]

Verhältnis zu Drittstaaten
Dass sich Europa, in diesem Fall die Europäische Gemeinschaft, keineswegs von der restlichen Welt abschottete, geht auch aus anderen Bestimmungen des EWG-Vertrags hervor. Hier ist insbesondere auf das Instrument der Assoziierung hinzuweisen, das die Beziehungen zu Drittstaaten regelt. Laut EWG-Vertrag war der Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften nur »europäischen« Staaten vorbehalten, wobei das Kriterium »europäisch« aus gutem Grund nicht definiert wurde – unterlag doch die Vorstellung davon, was Europa ist und wo seine Grenzen liegen, im Laufe der Geschichte einem stetigen Wandel. [16] Mit Staaten, für die eine EG-Mitgliedschaft ausgeschlossen war, sah der EWG-Vertrag in den Artikeln 131 bis 136 sowie 238 die Möglichkeit der Assoziierung vor. [17] Die auf Basis dieser Artikel geschlossenen Assoziationsverträge konnten und können sehr vielgestaltig sein und sich zwischen »Handelsabkommen plus ein Prozent und Mitgliedschaft minus ein Prozent« bewegen. [18] Eine besondere Rolle spielten die sogenannten Entwicklungsassoziationen, die sich auf die außereuropäischen Kolonien bezogen, über die 1957/58 noch mehrere EG-Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich, verfügten. Frankreich hatte bei den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen auf eine solche Einbeziehung seiner überseeischen Gebiete gedrängt, nicht zuletzt, um sich die Kosten für die Entwicklung dieser Gebiete mit den anderen EG-Staaten teilen zu können. Als Ziel der Assoziierung nannte Artikel 131 des EWG-Vertrags die »Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Länder und Hoheitsgebiete und die Herstellung enger Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihnen und der gesamten Gemeinschaft«, wobei explizit betont wurde, dass »die Assoziierung in erster Linie den Interessen der Einwohner dieser Länder und Hoheitsgebiete dienen und ihren Wohlstand fördern« sollte. [19] Den assoziierten Ländern wurde deshalb die Möglichkeit eingeräumt, ihre Waren zollfrei in den EWG-Raum zu exportieren, und sie durften ihrerseits Zölle auf Importe aus den EWG-Staaten zum Schutz ihrer entstehenden Industrien oder als Finanzzölle zur Finanzierung ihrer Haushalte erheben (Artikel 133 EWG-Vertrag). Nach der Dekolonialisierung wandelten sich diese sogenannten konstitutionellen Assoziierungen in »vertragliche Assoziierungen« mit den unabhängig gewordenen AKP-Staaten (afrikanische, karibische, pazifische Staaten) gemäß Artikel 238 des EWG-Vertrags. In der Folge wurden verschiedene Abkommen mit diesen Staaten geschlossen, wie etwa Yaoundé I und II in den Jahren 1963 beziehungsweise 1969 sowie Lomé I (1975), II (1979), III (1984) und IV (1989). Assoziationen wurden unter anderem auch mit den Mittelmeeranrainerstaaten des Maghreb (Marokko, Algerien, Tunesien) und des Maschrek (Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien) vereinbart. [20] Diese Form der EG-Entwicklungspolitik, die sich in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelte und Grundlage der heutigen EU-Entwicklungszusammenarbeit ist, bedeutete per se eine Öffnung der Gemeinschaft gegenüber dritten Staaten, »in Anerkennung ihrer besonderen wirtschafts- und handelspolitischen Probleme«, [21] was zunächst einmal nicht mit dem Vorwurf einer »Festung Europa« in Einklang zu bringen ist. Allerdings war auch hier nicht alles Gold, was glänzt. Auch wenn zwischen den EWG-Staaten grundsätzlich Einvernehmen darüber bestand, den Entwicklungsländern durch Maßnahmen wie Zollbefreiungen, Preisgarantien für ihre agrarischen und mineralischen Rohstoffe oder durch direkte Unterstützung aus dem Europäischen Entwicklungsfonds zu helfen, so überwogen in der Praxis doch die nationalen Interessen der EG-Mitgliedstaaten zum Schutze ihrer eigenen Volkswirtschaften. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass vor allem die Mittelmeerländer sich gegen freie Agrarexporte der Lomé-Staaten in die EG sperrten und weiterhin Einfuhrkontingente forderten. Ähnlich war es bei Industrieprodukten der Entwicklungsländer, die vielfältigen Einfuhrbeschränkungen unterlagen, obwohl die Förderung der Industrialisierung dieser Länder Ziel der EG-Staaten war. [22] Insgesamt waren die faktischen Erfolge der EG-Entwicklungspolitik bescheiden, und die Schere zwischen Nord und Süd öffnete sich immer weiter.

Schutz oder Abschottung? Asyl- und Migrationspolitik
Die 1986 verabschiedete Einheitliche Europäische Akte, die den EWG-Vertrag in Teilen änderte und ergänzte, stellte eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union dar. Die Arbeit am Binnenmarktprojekt hatte erneut die Vorteile einer verstärkten Integration, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik, deutlich gemacht. Die Anfang der 1970er Jahre bereits anvisierte Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (»Werner-Plan«, benannt nach dem damaligen luxemburgischen Premierminister Pierre Werner) war an den unterschiedlichen Interessen der EG-Staaten gescheitert; Ende der 1980er Jahre strebte Frankreich unter Präsident François Mitterrand eine Wiederaufnahme des Werner-Plans an, um die geld- und währungspolitische Dominanz der deutschen Bundesbank in Westeuropa zu überwinden. Dieser Plan erhielt einen wesentlichen Schub durch die politische Entwicklung in Mittel- und Osteuropa 1989/90 und die sich abzeichnende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Alle EG-Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, waren bestrebt, das wiedervereinigte Deutschland politisch und wirtschaftlich eng in Europa einzubinden. Infolgedessen gab der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der keinen Zweifel an der europäischen Bindung des wiedervereinigten Deutschlands aufkommen lassen wollte, nicht nur seinen anfänglichen Widerstand gegen die Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) auf, sondern drängte zugleich auch auf die Bildung einer Politischen Union Europas. In der Folge wurden zwei Regierungskonferenzen eingesetzt, deren Ergebnisse in den 1992 in Maastricht unterzeichneten und am 1. November 1993 in Kraft getretenen »Vertrag über die Europäische Union« (EUV) mündeten.

Dieser »Mantelvertrag« änderte und ergänzte die bisherigen Verträge über die Europäischen Gemeinschaften sowie die Einheitliche Europäische Akte und führte die bestehenden Gemeinschaften mit den neuen Bereichen einer Politischen Union zusammen. Illustriert wurde dies in Form eines Tempels, der auf drei Säulen ruht, die mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern und Entscheidungsverfahren versehen und lediglich durch das Dach der Europäischen Union verbunden sind. Die dritte Säule enthielt den neu aufgenommenen Regelungsbereich der »Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres«, der unter anderem die Asyl- und Einwanderungspolitik sowie die Angleichung der Kontrollen an den Außengrenzen der Gemeinschaft umfasste. Waren diese Bereiche bislang alleinige Angelegenheit der Mitgliedstaaten gewesen, so wurden sie jetzt auf Gemeinschaftsebene, wenn auch zunächst nur im intergouvernementalen Entscheidungsverfahren, geregelt. Der Vorwurf einer »Festung Europa«, die sich vor fremden »Eindringlingen« schützt, entzündete sich jetzt vor allem an diesem Regelungsbereich, der mit den EU-Folgeverträgen (Amsterdam 1999, Nizza 2003, Lissabon 2009) weiter vertieft und mit neuen Aufgaben und Strukturen versehen wurde. So wurden unter anderem die Bereiche Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik mit dem Vertrag von Amsterdam von der dritten in die erste Säule überführt und unterlagen damit der supranationalen Entscheidungsmethode. Auch das 1985 außerhalb der EG-Verträge von einigen Staaten ausgehandelte Schengener Abkommen zum Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen wurde in den EU-Vertrag integriert. Regelungen zum Asylanspruch und Asylverfahrensrecht sowie zur Anerkennung und zum Schutz von Flüchtlingen wurden ebenso erlassen wie solche zum Einwanderungsrecht. 2004 schließlich wurde mit »Frontex« eine Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache geschaffen, die in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten für die Kontrolle der Außengrenzen der EU zuständig ist. Die Notwendigkeit einer EU-weiten Regelung der Asyl- und Einwanderungspolitik war eine direkte Folge der Verwirklichung des Konzepts der vier Grundfreiheiten im Binnenmarkt, des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs, sowie des Wegfalls der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch das Schengener Übereinkommen. Diese Integrationsschritte erforderten als Kompensation für die Freizügigkeit im Inneren eine gemeinsame Politik gegenüber Nicht-Unionsbürgern an den EU-Außengrenzen. [23] Diese wird im derzeit gültigen Lissabon-Vertrag in verschiedenen Artikeln des Titels IV, der einen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« begründet, geregelt. [24] Gemäß Artikel 78 strebt die Union »eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz« an, mit der »jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Schutz angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll«. Und in Artikel 79, der den Umgang mit legaler und illegaler Einwanderung regelt, heißt es, dass die Union »eine gemeinsame Einwanderungspolitik [entwickelt], die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll«.

Bislang hat sich jedoch noch keine umfassende europäische Migrationspolitik herausgebildet. Vielmehr haben sich die Teilbereiche der Asyl- und Einwanderungspolitik deutlich unterschiedlich entwickelt, und für einheitliche Regelungen ist noch viel zu tun. [25] Von einer generellen Abschottung gegenüber Fremden, also Nicht-EU-Bürgern, kann, wenn man sich die Regelungen und Ziele der EU vor Augen führt, aber nicht die Rede sein. Will man nicht argumentieren, wie es etwa der Schweizer Philosoph Andreas Cassee in seinem Buch »Globale Bewegungsfreiheit« tut, [26] dass grundsätzlich jeder Mensch frei entscheiden können soll, in welchem Land er leben will, und Einwanderungsbeschränkungen daher nur in Ausnahmefällen zulässig sind, so ist ein Schutz der EU-Außengrenzen durchaus notwendig und nachvollziehbar. Dass es in der Praxis der Migrationspolitik teils zu weitreichenden Abschreckungskampagnen sowie mutmaßlich illegalen Pushbacks von Migranten durch Frontex kommt, wie einige NGOs beklagen, steht auf einem anderen Blatt.

Festung Europa?
Als Resümee bleibt festzuhalten, dass die Europäischen Gemeinschaften beziehungsweise die Europäische Union insgesamt ein ambivalentes Bild abgeben. Einerseits hat sich die EU in der Vergangenheit stets dem Prinzip der weltweiten Handelsliberalisierung verpflichtet gefühlt, andererseits haben ihre Mitgliedstaaten regelmäßig protektionistische Politiken zum Schutz ihrer eigenen Wirtschaft implementiert. Auch Nicht-EU-Bürgern gegenüber zeigte sich die EU, unter dem Vorbehalt des Schutzes der eigenen Grenzen und Prinzipien, prinzipiell offen, in der Praxis kam es gleichwohl mitunter zu Regelungen und Vorfällen, die ihr aus durchaus nachvollziehbaren Gründen den Vorwurf einbrachten, eine »Festung« zu sein. Doch wie dem auch sei: Europa als eine undurchdringbare, sich nach außen abschottende und lediglich dem eigenen Wohl und Schutz verpflichtete Festung zu zeichnen, negiert nicht nur die skizzierten Ziele und Ansprüche europäischer Politik, wie sie sich in den Verträgen niederschlagen und im Grundsatz auch die europäische Politik leiten, sondern wird auch der europäischen Integrationsgeschichte im Ganzen nicht gerecht.

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Fußnoten

[1] Siehe zum Beispiel die Filme »European Community« (Regie: Sean Graham), Großbritannien 1962/63 und »… weil es vernünftig ist – Robert Schuman’s Idee nach 10 Jahren« (Regie: Rolf Vogel), Deutschland 1960. Vgl. dazu Gabriele Clemens (Hrsg.), Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme, Paderborn 2016.
[2] Beispielhaft dafür Nicholas Busch, Baustelle Festung Europa. Beobachtungen, Analysen, Reflexionen, Klagenfurt 2006.
[3] Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster 2019.
[4] Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch-französische Schwerindustrie vom 9. Mai 1950, in: Europa. Dokumente zur Frage der Europäischen Einigung, Teilband 2, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes, München 1962, S. 680ff., hier S. 681.
[5] Vgl. Uwe Röndigs, Globalisierung und europäische Integration. Der Strukturwandel des Energiesektors und die Politik der Montanunion, 1952–1962, Baden-Baden 2000.
[6] Vgl. Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008, S. 108–123.
[7] Vgl. Tim Geiger, Ludwig Erhard und die Anfänge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Rudolf Hrbek/Volker Schwarz (Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, Baden-Baden 1998, S. 50–64.
[8] Die Einheitliche Europäische Akte enthielt neben den Bestimmungen zur Änderung und Ergänzung des EWG-Vertrags auch Bestimmungen über die außenpolitische Zusammenarbeit, die sich außerhalb der Verträge im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) vollzogen hatte. In der EEA wurden EG und EPZ zueinander in Bezug gesetzt und zudem der Wille bekundet, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten in eine Europäische Union zu überführen; vgl. Clemens/Reinfeldt/Wille (Anm. 6), S. 221–225.
[9] Siehe dazu Michael Tolksdorf, Der Europäische Binnenmarkt 1993. Vor- und Nachteile für Deutschland und seine Partner, Opladen 1991, S. 82–89, S. 135–141.
[10] Zit. nach Wirtschaftswoche Nr. 10, 3.3.1989, S. 14.
[11] Vgl. Tolksdorf (Anm. 9), S. 83; Thomas Oppermann, Europarecht. Ein Studienbuch, München 19992, S. 783.
[12] Thomas Läufer, EWG-Vertrag. Grundlage der Europäischen Gemeinschaft, Kap. 4, Art. 110, Bonn 1989, S. 68.
[13] Wolfgang Müller-Huschke, Eine »Festung Europa«? Das EG-Handelsschutzrecht als Instrument zur Sicherung des Europäischen Binnenmarktes, Baden-Baden 1991, S. 18.
[14] Ebd., S. 270.
[15] Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 783.
[16] Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien 2001, S. 14; Clemens/Reinfeldt/Wille (Anm. 6), S. 15–22.
[17] Lediglich die sogenannte Beitrittsassoziierung ist für Staaten gedacht, die später die Mitgliedschaft erwerben können; solche Abkommen wurden unter anderem mit Griechenland und der Türkei geschlossen.
[18] Oppermann (Anm. 11), S. 814.
[19] Läufer (Anm. 12), Art. 131 EWG-Vertrag, S. 82f.
[20] Vgl. Ulrike Keßler, 40 Jahre EU-Afrikapolitik – ein Rückblick, in: Gisela Müller-Brandeck-Bocquet et al., Die Afrikapolitik der Europäischen Union. Neue Ansätze und Perspektiven, Opladen–Farmington Hills 2007, S. 17–92; Oppermann (Anm. 11), S. 756f.
[21] Vgl. Oppermann (Anm. 11), S. 796.
[22] Tolksdorf (Anm. 9), S. 159ff.
[23] Vgl. Peter-Christian Müller-Graf/Friedemann Kainer, Asyl-, Einwanderungs- und Visapolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 201614, S. 82–89.
[24] Asylpolitik: Art. 67 Abs. 2, Art. 78 und 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); Einwanderungspolitik: Art. 79 und 80 AEUV; Schutz der EU-Außengrenzen: Art. 67 und 77 AEUV sowie Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV).
[25] Siehe dazu Europäisches Parlament, Kurzdarstellungen zur Europäischen Union. Asylpolitik, Einwanderungspolitik, 6.1.2022, Externer Link: http://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/151/asylpolitik.
[26] Vgl. Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016.

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Vorliegender Text ist am 14. Oktober 2022 auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung unter der Creative Commons Lizenz »CC BY-NC-ND 3.0 DE« erschienen. Er ist Bestandteil der Ausgabe 42/2022 der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte«.   bpb.de

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Essay, Fazit 188 (Dezember 2022), Foto: Akademie der Wissenschaften in Hamburg

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