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Professor Bernhardi regendert

| 27. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 189, Kunst und Kultur

Foto: Johanna Lamprecht

Das Grazer Schauspielhaus bringt nach dem Wiener Burgtheater nun ebenfalls die Schnitzler-Adaption »Die Ärztin« auf die Bretter. Ein Grund, nicht nach Wien pilgern zu müssen, wenn man es nicht komparatistisch anlegt? Dem Vernehmen nach jedenfalls.

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Der britische Regisseur und Autor Robert Icke arbeitet sich seit Jahren an Überschreibungen und Inszenierungen klassischer Texte ab. Eine Eigenschaft des Autor-Ichs, über die freilich auch eifrig diskutiert werden darf. Romeo und Julia, Orestea und eben auch Schnitzlers »Professor Bernhardi« wurden von ihm »bearbeitet« und »neu gedeutet«. Letzteres vor kurzem von ihm persönlich in Wien und seit einigen Tagen in der Regie von Anne Mulleners am ersten Theater Steiermarks schöner Landeshauptstadt. In diesen Neuinterpretationen bemüht er sich mit einigen Tricks um eine Verständlichmachung, die »am Puls der Zeit« und wohl auch im Trend liegt/liegen muss. Jetzt ist das angelsächsische Empfinden wohl auch ganz anders als das unsrige oder vielleicht eben nicht und damit wären wir schon richtig in der Identitätsdiskussion.

Schnitzlers »Professor Bernhardi«, knapp vor dem ersten Weltkrieg entstanden und bis zum Ende der Monarchie in Österreich verboten, kam auch in der Nachkriegszeit kaum zur Aufführung. Zu sperrig das eigentlich zu Transportierende, das sich vom Schwarz-Weiß-Denken abhebt. Die Interpretation der letzten Jahrzehnte kreiste um die Gedankengebäude »Untergang des Abendlandes«, der deutschnational und klerikal geprägten Donaumonarchie und des zum wiederholten Male Erstarkens des politischen Antisemitismus. Interpretationen, die freilich zu kurz gegriffen sind. Eine Neuinterpretation des alten Stoffes wäre dringend von Nöten. Robert Icke allerdings schafft etwas völlig Neues, das mit Schnitzler wenig zu tun hat. Und eine Trennung der beiden Stoffe vor dem Theaterbesuch ist dringend anzuraten.

Medial übersteuerte Unübersichtlichkeit
Was bei Schnitzler noch ein mahnendes Bloßlegen des vorherrschenden Antisemitismus ist, und zwar am Beispiel eines jüdischen Arztes, der Opfer einer Hetzkampagne wird, nachdem er einem katholischen Priester die Verabreichung der Sterbesakramente an eine im Sterben liegende Frau verweigert, wird im Jahr 2022 zum sogenannten »Debattenstück«. In Ickes Version wird der Arzt zur Ärztin. Selbige ist eine säkulare Jüdin, die eine prestigeträchtige, auf Alzheimer spezialisierte Klinik leitet. Was bei Schnitzler in präziser Dialoghaftigkeit die Themenbereiche Rassismus, Probleme der Ethik im Spannungsfeld mit der Juristerei sowie des Katholizismus abdeckt, wird bei Icke zum permanenten Identitätsdiskurs in der medial übersteuerten neuen Unübersichtlichkeit.

In mehr als zwei Stunden werden allerhand Themen verhandelt, die momentan brachialpermantent um woke und unwoke Ecken lugen. Die Auflösung sämtlicher Identitäten im Bereich »Geschlecht«, »Rasse«, »Religionen« und (spannend!) Sprache beziehungsweise Sprechakte reitet durch die Aufführung. So wird etwa Grazer vs. bundesdeutsches Bühnendeutschidiom und Brechung durch migrantische Realisierung wunderbar akzentuiert. Das Ganze gipfelt im zweiten Teil in einem Talkshowszenario, das die Welt zwischen Gruppenbewusstsein und Ich-Identität aufzeigt und das Scheitern in den Fragestellungen »was ist richtig« und »was ist falsch« sezieren will: Persönlicher Ehtikkanon versus Gemeinschaftsziel, permanente politische Korrektheit im Sprechen und Handeln vs. tagespolitischer Lebenspraxis. Höhere politisch korrekte Sprachpolizei vs. proaktivem Handeln gemäß noch höherer ethischer Konstanten. Moralische Überhöhtheit allenthalben. Etc. pp.

Dass das Stück über intellektuelle Identitätsunübersichtlichkeit und Moral nicht bereits im Ansatz zu altbacken daherkommt und nicht in der Agitpropfalle und der Betroffenheitsschiene landet, ist der flotten Übersetzung von Christina Schlögl und dem Spitzenensemble des Schauspielhauses mit einer grandiosen Sara Sophia Meyer in der Titelrolle zu verdanken. Der Abend zeigt nämlich vor allem eines: Trendige, als schwere Kost verkleidete Diskurse können auch wahnsinnig lustig und befreiend daherkommen, wenn man sie so inszeniert. Das Bühnenbild und dann doch eher dezent gehaltenes sparsam eingesetztes und nichtüberbordendes Live-Videofootage tun der Sache mehr als gut. Anhaltender frenetischer Applaus am Premierenabend gibt der Programmierung recht. Schwere Empfehlung!

Die Ärztin
Theaterstück von Robert Icke sehr frei nach Arthur Schnitzler; Regie von Anne Mulleners
Aktuelle Termine:
7./12./21./24.1.23, 19.30 Uhr
schauspielhaus-graz.com

Alles Kultur, Fazit 189 (Jänner 2023), Foto: Johanna Lamprecht

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