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Wir verlangten Solidarität und schauten doch nur auf uns selbst

| 10. Juni 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 193

Foto: Marc LahousseJetzt braucht es Leadership. Persönliches Risiko einzugehen, wenn es dem Gemeinwohl dient, voranzugehen und dabei Visionen und Pläne zu erklären, zuzuhören und auskunftsfähig zu sein. Das und mehr macht aus der Sicht des Europaabgeordneten Lukas Mandl politisches Leadership aus. Im Mangel daran sieht er Ursachen für die politischen Krisen unserer Zeit.

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Mag. Lukas Mandl, geboren 1979 in Wien, ist seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses ist und den Ausschüssen für innere Sicherheit, Arbeitsmarkt und Außenpolitik angehört. Zuvor war er von 2008 bis 2017 Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag.   lukasmandl.eu

Guter Rat setzt guten Willen voraus. Gute Beratung setzt voraus, dass die beratene Seite der Tat den Gedanken voraussetzen will. Es liegt ein Buch vor, wieder. Es ist ein Jahrbuch. Hand aufs Herz: Das alles mutet längst anachronistisch an: An die Stelle des guten Rates trat der selbstgefällige Hinweis, allenthalben indiskret, oder gar die boshafte Denunziation, gegen andere, ad hominem, statt für etwas, etwas Gutes. An die Stelle der Bücher traten Tweets. Deren Wert und Kraft möge nicht geringgeschätzt werden, aber in ihrer Funktion als Funken um das Feuer, als Monde um den Planeten, nicht als Feuer, nicht als Planet; vielfach sind sie aber Ruß, der sich als Feuer geriert, sind es blendende Sternschnuppen, die sich als Planeten gerieren. Und ein Jahr? Die Jahre dieses gegenwärtigen Jahrzehnts, und auch bereits des vergangenen, sind prall an Ereignissen, an Hoffnungen und deren Enttäuschung, an Skandalen und deren Relativierung, an Plänen und deren Zerstreuung, an Destruktion und Konstruktion, an abrupten Abschlüssen und ambitioniertem Neubeginn. Wäre der Anspruch an einen Beitrag für ein solches Jahrbuch ein holistischer, man müsste an diesem Anspruch unweigerlich scheitern. Welt und Menschheit werden in diesen Jahren kräftig durchgebeutelt. Die Politik ist gefordert, Stabilität und Orientierung zu geben, wird aber vielfach hin- und hergerissen. Hier setzt an, was ich als den schwerstwiegenden politischen Mangel unserer Zeit ausmache: den Mangel an Leadership; was ich versuchen möchte, hier zumindest schemenhaft zu skizzieren: Leadership!

So anachronistisch Unterfangen wie jene dieses Jahrbuchs wirken mögen, so dringend und wichtig sind sie. Das Adjektiv im Buchtitel steht Pate dafür: Als politisch wird heute kaum noch etwas begriffen, am wenigsten die Politik, besonders seitens der meisten sich im Politgetriebe Tummelnden. Dabei ist doch alles politisch, fast alles. Jahrzehnte der Gehässigkeit, der Polemik, der ideologischen Verbrämung von Untugenden wie Neid, Hass und Stolz – unzureichend beschrieben in der politischen Alltagssprache mit dem Terminus des Populismus – haben das Politische weitgehend vergessen gemacht. Politik wird dann degradiert etwa zu einer Karriereoption, einem Planspiel oder einem geistlosen Kräftemessen um kurzfristige Interessen. Das Politische, nach Max Weber ein Handwerk, das mit Leidenschaft und Ausdauer betrieben werden müsse, nach der katholischen Soziallehre für das Gemeinwohl, das Bonum Commune, im Rahmen eines Staates, der nach Ernst-Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht schaffen könne; das Politische, das legitimiert wird durch demokratische Prozesse, deren zentrales Wesenselement nach Sir Karl Popper der Faktor Zeit sei, dass also jedes politische Mandat an ein zeitlich prädefiniertes Ende komme und der Souverän Gestaltungsmacht neu verteile; das Politische, zu dem alle in der einen oder anderen Weise beitragen, indem sie die Voraussetzungen schaffen, in denen der Staat sich für seine Bürgerinnen und Bürger bewähren muss, indem sie das aktive und das passive Wahlrecht nützen oder eben nicht, verlangt ein unbedingtes Bekenntnis zur gleichen Würde jedes Menschen sowie zur Freiheit, die uns Menschen kennzeichnet, die stets verteidigt gehört. Auf diesem Humus kann Leadership gedeihen.

Führen heißt dienen. Führen heißt sprechen. Führen heißt verantworten. Hierin eingebettet liegt die Antwort. Antworten geben zu können, auskunftsfähig zu sein, erklären zu können, warum etwas so bewertet wird und nicht anders, warum welche Handlung wie gesetzt wird, welche kurz-, mittel- und langfristigen Ziele verfolgt werden. Dies alles gehört zu menschen- und sachgerechter Führung. Führen heißt ermutigen und ermächtigen. Zu führen bedeutet, der Freiheit Raum zu geben – und einen Rahmen. Zu führen bedeutet, niemanden zu bremsen, der vorwärtsgehen möchte, und niemanden zurückzulassen, der nicht weiterkann. Leadership nimmt Gefühle ernst, Ängste wie Hoffnungen. Statt Unzulänglichkeiten zu leugnen oder zu verstecken zu versuchen, beteiligt Leadership viele am Gemeinsamen, um durch Diversität mehr zu erreichen. Leadership lebt Loyalität, bevor es sie verlangt. Leadership setzt große Visionen in die kleinen Aktionen des Alltags um. Ist politisches Leadership möglich? Es ist bitter nötig.

Vor der Pandemie wähnte ich die politischen Systeme unserer Hemisphäre in einem Zustand des Vakuums. Orientierungshilfen, stabile Bezugspunkte für Menschen und Gesellschaften waren sukzessive erodiert, waren beschädigt worden und hatten sich zum Teil selbst beschädigt: Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Institutionen, dann auch Medien, die Wissenschaft, sogar die engagierte Zivilgesellschaft. Das Vakuum füllte sich zunächst mit dem, was Populismus genannt wird – was ich oben versucht habe, näher zu beschreiben. In den USA gipfelte es vorläufig in Ausschreitungen am Dreikönigstag 2021 am Capitol Hill. Die Schockwellen, die dieses Ereignis in der klaren Führungsnation der freien Welt ausgelöst hat, werden in Europa vielfach unterschätzt. Eine Phase, in der Frechheit und unausgesetzt offen zur Schau getragene Bosheit zum Politikprinzip stilisiert worden waren, mündete in Straßenschlachten, die einen gewalttätigen Mob bis ins Herz der Demokratie geführt haben. Es gab Tote und Verletzte. Die Aufklärung aller Hintergründe nimmt viel Zeit in Anspruch. Die gesellschaftlichen Gräben wurden nicht überbrückt, sondern noch größer. Sie werden sich im kommenden Jahr im Zuge der US-Präsidentschaftswahl besonders deutlich zeigen; auch schon während der Vorwahlen. Seit dem kurzen Durchatmen nach der Wahl von Joe Biden ins Weiße Haus ist bis dato nichts Beruhigendes an den innenpolitischen Vorgängen in den USA. Im Vereinigten Königreich führte eine beispiellose Lügenkampagne zu einem Votum gegen die EU-Mitgliedschaft dieses wichtigen europäischen Staates. In Frankreich kam eine offen destruktiv-extremistische Kandidatin bedrohlich nahe an den amtierenden Präsidenten heran. In Ungarn oder Polen sind es die Regierungen selbst, die zu spalten versuchen – unwürdig. Es war nicht bloß heiße Luft, mit der sich das Vakuum füllte, es waren gefährliche Gase.

Phase der Paradoxien

Was dann kam, nachdem sich in unserem Bewusstsein die Pandemie als für lange anhaltendes Faktum festgesetzt hatte, war eine Phase der Paradoxien. Wir verlangten Solidarität und schauten doch nur auf uns selbst. Wir verlangten von der Politik die Kraft zur Krisenbewältigung, hatten das Vertrauen in die Politik aber jahrzehntelang untergraben, mit hemmender Rückwirkung auf jene, die politisch handeln sollten. Wir leben nicht in totalitären Verhältnissen, sondern genießen die Freiheit, Missstände anprangern und Umstände ändern zu dürfen, manche missbrauchen diese Freiheit aber, um eine vermeintliche Diktatur anzuprangern, niemand ruft Stopp; jedenfalls nicht laut genug. Stattdessen verziehen sich viele Bürgerinnen und Bürger in ein neues Biedermeier, weil es ihnen zu dumm ist, auf öffentlich posaunte Parolen einzugehen, auf welche die wohl beim ungarischen Schriftsteller Ferenc Molnár um die vorletzte Jahrhundertwende zuerst zu findende Redewendung von etwas, das »so falsch ist, dass nicht einmal das Gegenteil stimmt«, zutrifft. Wir profitieren wie keine Generation vor uns von der Wissenschaft, wir kamen besser durch eine Pandemie als jede Generation vor uns; aber die meisten Menschen der durchaus verständigen Mehrheit nehmen es achselzuckend zur Kenntnis, dass eine Minderheit mit Fake News, Hassparolen und Verschwörungstheorien gleichsam gegen alles und jeden mobilmacht, gegen die Covid-Impfungen und deren Verteilung, gegen Maßnahmen dieser oder jener Art. – Es ist ja nicht so, dass nicht manches verbesserungswürdig wäre, dass man nicht manches mit den Erkenntnissen seit 2020 besser oder jedenfalls anders machen würde. Das trifft weltweit zu. Aber was in der Phase des Vakuums und davor abhandengekommen war, ist die Größe, anderen Menschen einen guten Willen zu unterstellen. Und das betrifft keineswegs nur eine Minderheit. Es führt zu Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Und wenn der sprichwörtliche Schelm wirklich »so ist, wie er denkt«, ist das nur der Anfang vom Ende. Dann trifft die oben beschriebene Hemmung jener, die politisch handeln sollten, bald auf alle zu. Denn wer Mitmenschen pauschal unterstellt, prinzipiell auf Kosten der anderen ihren Vorteil zu suchen, läuft Gefahr, bald selbst so zu denken, so zu sprechen, so zu handeln, und das noch für Recht und billig zu halten. Die Dämme des Anstands sind brüchig, manche sind schon geborsten.

Eine weitere Paradoxie verführt uns in die dritte Phase – nach jener des Vakuums und der Paradoxien in jene des sich schon abzeichnenden Fatalismus: Wir genießen Lebensqualität, steigende Lebenserwartung, Wohlstand und vielfachen Fortschritt durch Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und ein System, in dem der einzelne Mensch zählt. Für uns in Österreich gilt, dass Generationen seit 1945 dieses Lebensumfeld geschaffen haben. Bis 1955 bestand das reale Risiko, dass wir in den Sog der verbrecherischen sowjetischen Einflusssphäre geraten, die unseren östlichen Nachbarstaaten zum Verhängnis geworden ist. Jahrzehnte hindurch war den Menschen dieser Staaten ein Lebensumfeld wie das uns geschenkte verwehrt. Es war das Wirken von Leopold Figl und den anderen österreichischen Verhandlern, und es war auch die Gunst des Augenblicks, dem Tod von Stalin (dem Jörg Baberowski in seinem 2012 erschienen Werk Verbrannte Erde attestiert, »alle Kriterien eines typischen Psychopathen« aufgewiesen zu haben: »Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit, ein manipulatives Verhältnis zur Umwelt und die Unfähigkeit, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden«) und vor der kältesten Phase des kalten Krieges, Österreichs Souveränität ermöglicht zu bekommen. – Wir leben gut und lange durch die Errungenschaften der freien Welt, aber eine nicht irrelevante Minderheit bei uns kokettiert mit einem Despotismus, der kriegslüstern und blutrünstig genau diese freie Welt zerstören will. Das ist die groteskeste Paradoxie unserer Zeit. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Zeitgenossen gibt, die es verhohlen – und manchmal unverhohlen – nachgerade prickelnd finden, was Putin macht, und wie er es macht. Man darf sich der Frage nicht entziehen: Was genau war dann der Nutzen von Jahrzehnten des Geschichtsunterrichts und der politischen Bildung? Oder wie schlimm wäre es ohne Bewusstseinsbildung für Werte wie jene der Menschenwürde und der Freiheit? Es war eine Vertrauenskrise, die der Phase des Vakuums vorausgegangen war. Darauf folgte die Phase der Paradoxien, die uns jetzt in die Enge treibt: in den Fatalismus, per definitionem die politische Enge! Das dürfen wir nicht zulassen! Gerade in diesen Zeiten müssen wir die Höhe und die Weite suchen, die Perspektive und, ja, die Vision! Wohin sollen sich Welt und Menschheit bewegen? Welche Lebensbedingungen werden Menschen in 100 Jahren auf unserem Planeten vorfinden und was können wir heute dazu beitragen. Was sich hier liest wie eine schöne Phrase, erfordert Kraftakte, Mut, Weitblick – und Leadership!

Die oben beschriebenen Phasen sind hausgemacht in unserer freien Welt des politischen Westens, es gibt sie wirklich, die vielzitierte spätrömische Dekadenz, die durch den viel zu früh verstorbenen Guido Westerwelle in die zeitgenössische politische Sprache eingeführt wurde. Aber sie sind nicht nur hausgemacht: Die destruktive Kraft von Putin-Russland hat es über Jahrzehnte verstanden, gesellschaftliche Gräben zu vertiefen, Spaltungstendenzen zu verstärken, Unfrieden in unseren Gesellschaften zu säen. Es gab und gibt nicht nur diesen einen Akteur der hybriden Kriegsführung, wie die Fachwelt das längst unumwunden nennt. Aber mehr als die Hälfte der einschlägigen Aktivitäten haben ihren Ursprung in Putins Russland. Die Arbeit des Sonderausschusses des Europäischen Parlaments gegen Desinformation und Foreign Interference legt das dar.

Neuer Fatalismus

Die gesellschaftlichen Dissonanzen im Zusammenhang mit der Pandemie könnten sich als noch vergleichsweise glimpflich herausstellen, führte der neue Fatalismus zunächst zu einer Verhärtung der Fronten zwischen gesellschaftlichen Gruppen, dann zu einer Zerrüttung in vielen Gesellschaftsbereichen, und schließlich zu Zerfallserscheinungen, die möglicherweise nicht ohne Gewalt ablaufen würden. Was ist hier die Anfrage an echtes Leadership? Sie umfasst die Verantwortung für die Lösung der Probleme des Tages, den Plan für die Probleme von morgen, und eine Vorstellung von den Szenarien übermorgen. Alles das gilt es auch zu vermitteln. Alles das muss sich an der kritischen Rückfrage weiterentwickeln und so auch Kraft und Zielorientierung stärken. Wahres Leadership lässt sich nicht mit Despotismus oder Populismus verbinden, auch nicht mit Relativismus. Wahres Leadership kann zwischen gut und böse sowie zwischen richtig und falsch unterscheiden und die Unterschiede auch kommunizieren; wird es aber niemals an der Wertschätzung und dem Respekt gegenüber der Würde ausnahmslos jedes Menschen fehlen lassen. Vielmehr wird Leadership diese Würde sowie die Freiheit der Person stets verteidigen.

Wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 1. März 2022 in der Sondersitzung des Europaparlaments angesichts von Putin-Russlands Angriffskrieg betonte, wir müssten »die Hand ausstrecken an das andere Russland«, dann flackerte Leadership auf. Wenn Bundeskanzler Karl Nehammer angesichts des innenpolitischen Hickhack darauf verweist, seine Kraft auf die Bewältigung der Krisen des Alltags – von Pandemie über Teuerung und Krieg bis zur durch den Krieg ausgelösten Energiekrise sowie selbstverständlich der Klimakrise – fokussieren zu müssen, dann ist das die sprachliche Vermittlung von Prioritäten und Größenordnungen. Und die gehört zu dem, was Leadership ausmacht. So ist auch der nicht zu unterschätzende Befreiungsschlag aus einem sicherheitspolitischen Vakuum, in das sich Österreich manövriert hatte, zu verstehen, mit dem der Bundeskanzler die Erarbeitung einer neuen Sicherheitsstrategie für Österreich beauftragt hat. Wenn der tschechische Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr 2022 die ursprünglich durch die französische Ratspräsidentschaft unter Emmanuel Macron vorgedachte – der Gedanke vor der Handlung! – Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zusammentreten ließ und so erstmals 43 europäische Staaten versammelte, dann beweist das jene Übersicht, die von Leadership mit Recht verlangt wird. Am 1. Juni traf sich die EPG zum zweiten Mal, und zwar in der Republik Moldau, einem Kleinstaat unter ständiger existenzieller Bedrohung durch Putin-Russland. Buchstäblich am Rand der freien Welt fand dieses Treffen statt. Das Unterfangen der EPG verdient, vertieft zu werden. Das müsste bedeuten, schnell die Freiheitsbewegung aus Belarus einzubeziehen – derzeit ist Belarus nämlich der einzige nicht vertretene europäische Staat – und behutsam eine parlamentarische Dimension wachsen zu lassen. Regierungen allein werden die Sache nicht nachhaltig verankern können. Denn die EPG muss mehr sein als ein Strohfeuer, wenn sie wirken soll. Und sie darf nicht mutieren zu einem Feuer, das sich in das Haus Europa frisst, wie es nun einmal steht, mit seinen angegliederten Rohbauten und Entwicklungsflächen: Die Breite der EPG ist beeindruckend. Sie ist auch ein Zeichen dafür, dass das heutige Europa nicht bereit ist, den Präzedenzfall der Durchsetzung welcher Ziele auch immer mit Mitteln des Angriffskriegs zuzulassen. Und die EPG weist auf einen weiten Horizont, wo ein wirklich geeintes Europa möglich sein wird, zum Nutzen der Europäerinnen und Europäer sowie der Welt. Das macht Hoffnung, das motiviert auch zu den kleinen Schritten. Aber die EPG darf nicht ein Alibi dafür werden, dass die Integration der sechs Westbalkanstaaten weiterhin nicht gelingt. Der Mangel an Leadership in den vergangenen zwei Jahrzehnten rächt sich hier. Jetzt gilt es, voranzugehen. Es braucht einen Neubeginn mit dem Vereinigten Königreich und eine viel transparentere und vertrauensvollere Zusammenarbeit mit der Schweiz. Echtes Leadership arbeitet an der großen Vision und auch dem großen Format, das die EPG bietet, und gleichzeitig widmet es sich mit der nötigen Hingabe jedem dieser Staaten, jedem der mit den Relationen zwischen diesen Staaten verbundenen Szenarien.

Leadership braucht Persistenz, Durchhaltevermögen, den sprichwörtlichen langen Atem

Der Wiederaufbau der Ukraine und die Festigung einer zivilen Gesellschaft in Freiheit und Frieden müssen jetzt geplant werden. Einzelne Initiativen dazu gibt es schon. Die Heranführung der Ukraine und der anderen Staaten der östlichen Partnerschaft – Georgiens und der Republik Moldau – an die Standards der Europäischen Union muss dann schnell, schwungvoll und so unbürokratisch wie möglich vonstattengehen. Und es braucht gleichsam das Protokoll der freien Welt und besonders der Europäischen Union für jenen Moment, in dem das Putin-Regime gefallen sein wird und wir im Interesse kommender Generationen dazu beitragen, dass die von Ursula von der Leyen apostrophierte »ausgestreckte Hand« ergriffen wird. Schon im Herbst 2020 hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag für ein Asyl- und Migrationspaket gemacht, der auch aus europäischer parlamentarischer Sicht und namens der Österreicherinnen und Österreicher gutgeheißen werden konnte und vielfach gutgeheißen wurde. Dennoch kam es bis Anfang 2023 nicht zu Entscheidungen, weil mangels Betroffenheit und Prioritätensetzung, teils aus ideologischen Gründen, seitens mitgliedsstaatlicher Regierungen und auch seitens mancher Kräfte im Europäischen Parlament die Verhandlungen verschleppt worden waren und es nicht zu Ergebnissen gekommen war. Es hatte einen Weckruf seitens Österreichs im Winter 2022/23 gebraucht, um Tempo in die Sache zu bringen. Der schwedische Ratsvorsitz ab Jahresbeginn 2023 hat ebenfalls dazu beigetragen, auf dem Entscheidungsweg voranzukommen. Noch steht der finale Abschluss des Asyl- und Migrationspakets aus. Aber Europa ist einem Szenario, in dem es die Fähigkeit beweist, sich hier um seine eigenen vitalen Interessen angemessen zu kümmern, näher denn je. Der Grund dafür ist Leadership, das mit Courage vorangeht und andere auf den Weg mitnimmt. Eine Republik wie unsere – unser Heimatland Österreich! – braucht Handlungsfähigkeit in den multiplen Krisen, denen die Welt ausgesetzt ist. Das gilt ganz besonders für den Regierungschef. Gleichzeitig bedeutet Leadership als Parteichef, die Stärken der Volkspartei teils wiederzuentdecken und teils zur Geltung bringen zu lassen. Zu den wieder zu entdeckenden Stärken gehörten die bewährte und stets weiterzuentwickelnde Programmatik der Christdemokratie, die beachtlichen Vorbildfunktionen, die von historischen Persönlichkeiten der Volkspartei ausgehen, die reiche Erfahrung vieler ehemaliger Funktionärinnen und Funktionäre. Zu den Stärken, die mehr zur Geltung kommen müssen, nicht nur in der Kommunikation, sondern auch in der Politikentwicklung und -gestaltung, gehören die Leistungen, die Mandatarinnen und Mandatare der Volkspartei täglich auf lokaler und regionaler Ebene erbringen; rund zwei Drittel der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister werden von der Volkspartei gestellt. Zu den Erfolgsfaktoren ihrer Arbeit gehört, dass sie für alle da sind, jenseits von Parteipolitik. Dass die TV-Show Wetten, dass…? im Samstag-Hauptabendprogramm über viele Jahre von der Oma bis zum Enkel die ganze Familie vor dem Fernseher versammelt habe und am nächsten Tag fast überall über die Sendung geredet worden sei, sagte Moderator Günther Jauch einmal. Er nannte das treffend den Lagerfeuereffekt. Schon zum Auslaufen der TV-Show schrieben die Vorarlberger Nachrichten: »Das Lagerfeuer ist aus.« Diese Metapher gilt auch für Politik und Gesellschaft. Alte gemeinsame Narrative höhlen aus. Neue entstehen kaum. Unbewusst durch Algorithmen und bewusst durch Streamingdienste vereinzeln wir in unserem Medienkonsum. Worüber wir nachdenken und was uns bewegt, das unterscheidet sich mehr und mehr von Mensch zu Mensch. Wir Menschen sind aber aufeinander angewiesen. Die Herausforderungen der Zeit lassen sich nur im Miteinander bewältigen, nicht im Nebeneinander und schon gar nicht im Gegeneinander. Die anstehenden Aufgaben echten Leaderships nach innen stellen sich mindestens so herausfordernd dar wie jene nach außen, die oben skizziert wurden: Die Lehren seit dem Beginn der Pandemie 2020 und jene des konventionellen Kriegs 2022 verlangen, dass Fake News, Hassrede und Verschwörungstheorien nicht mit halbherzigen Botschaften begegnet wird, sondern mit der vollen Kraft und der ganzen Klarheit der wissenschaftlichen Evidenz, der fachlichen Expertise, der recherchierten Fakten sowie auch mit Wahrhaftigkeit zu anstehenden und zu lösenden Problemen der Gesellschaft und jedes einzelnen Menschen. Nichts soll relativiert werden. Nur zu reagieren ist oft zu spät. Echtes Leadership agiert proaktiv.

All das wird aber noch nicht reichen: Mehr denn je gilt es, das Toleranz-Paradoxon, das Sir Karl Popper im Standardwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde beschrieben hat, und zwar im Jahr 1945 – ein Datum, dessen Bedeutung wir sowohl für das Verständnis der Geschichte als auch für die Deutung der Gegenwart als auch in der Hinwendung zur Zukunft gar nicht überschätzen können – in den Blick zu nehmen! Die Verweigerung des rationalen Diskurses wird von Popper als erste Form der Intoleranz beschrieben, der Aufruf zu Gewalt gegen Andersdenkende als deren zweite Form. Hand aufs Herz: Die erste Form der Intoleranz bricht sich Bahn – seit Jahren – in unseren Gesellschaften der freien Welt, und zwar massiv. Die zweite Form ist unübersehbar da, sie zeigte sich am Capitol Hill, wie oben beschrieben, sie kulminierte etwa in den Angriffen gegen die Medizinerin Lisa-Maria Kellermayr, die sich nach Jahren der Nachstellungen das Leben genommen hat. In einer großen Kundgebung am Wiener Stephansplatz wurde ihrer im Sommer 2022 gedacht. Popper wörtlich: »Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.«

Wenn Staaten und Gesellschaften so unbeschadet wie möglich durch diese Zeiten kommen sollen, dann gilt es, Menschenwürde und Freiheit auch in ihren Dimensionen der Toleranz und des couragiert geführten öffentlichen Diskurses zu verteidigen und gleichzeitig unmissverständlich – mit Worten, Symbolen und Handlungen – die unbedingte Achtung für ausnahmslos alle Menschen zu vermitteln – auch und gerade für jene Mitmenschen, die sich von irrationalen oder intoleranten Gedanken leiten lassen oder diese sogar verbreiten. Abgesehen von der Menschenwürde, die »unantastbar« ist, wie es etwa das deutsche Grundgesetz formuliert, die von moralisch legitimem Leadership diese Haltung verlangt, legen auch die Logik und die Antizipation kommender Entwicklungen nahe, dass gerade jene, die sich immer weiter von Ratio und Toleranz entfernen, eng in das Ganze der Gesellschaft eingebunden werden müssen, um Fliehkräfte hintanzuhalten und die Tore und Wege immer hoch und weit zu halten. Desinformation von außen, Dekadenz im Inneren, manifester Vertrauensverlust, Vakua zu Fragen der Orientierung, allerlei Paradoxien und ein neuer Fatalismus drohen unsere Gesellschaften zu schwächen. Ja, man muss es so martialisch ausdrücken, da es geschieht: Es herrscht Krieg auf europäischem Boden! Unsere Gesellschaften können so sogar sturmreif werden. Die Haltung der Kooperation, die Europa attraktiv und frei, stark und reich gemacht hat, ist auch jene Haltung, die Europa im Zugehen auf andere Teile der Welt konsequent leben muss. Viele dieser anderen Teile der Welt suchen das Gegenteil: die Konfrontation. Dabei werden nicht nur lautere Mittel eingesetzt. Ganz im Gegenteil: Lüge, Hassideologie, nationalistische Hybris, Gewaltbereitschaft, blutige Aggression, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Terror finden sich neben der allgegenwärtigen Desinformation im Arsenal jener, die Konfrontation suchen. Dagegen müssen wir uns wappnen. Das erfordert Leadership, wie oben darzustellen war.

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Vorliegender Text ist dem im Frühjahr 2023 in der Edition Mezzogiorno erschienenen »Jahrbuch für politische Beratung 2021/22« entnommen und wurde vom Autor leicht überarbeitet.   proverbis.at

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Essay, Fazit 193 (Juni 2023), Foto: Marc Lahousse

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