Fazitthema Republik der Opfer
Redaktion | 8. Dezember 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 198, Fazitthema
Der Mythos, Österreich sei „eines der reichsten Länder der Welt“ hält sich ebenso hartnäckig wie das Gerücht, wer hierzulande glücklich sei, könne dies nur durch die Gnade der Geburt sein. Wir haben genauer hingesehen. Ein Text von Johannes Roth.
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Zurück zur Gerechtigkeit. Das klingt zwar ein wenig nach dem Zeitalter der Aufklärung, als Gerechtigkeit ganz groß geschrieben wurde. Gerecht ist ja – nach Immanuel Kant – bekanntermaßen der, der die Maximen seines Handelns danach ausrichtet, dass diese zum allgemeinen Gesetz erhoben werden können. Ob der derzeit amtierende Vorsitzende der SPÖ den kategorischen Imperativ nun kennt oder nicht, ob er ihn verstanden hat oder nicht – Gerechtigkeit ist, wenn man seinen verschriftlichten Grußworten zum eben verwichenen Parteitag Glauben schenken darf, eine durchaus erstrebenswerte Tugend. Eine, zu der man zurückkehren müsse, denn durch die dunkelrote Brille des Marxismus sieht derzeit alles ziemlich ungerecht aus.
Ganz besonders ungerecht ist nicht nur, dass nicht die SPÖ regiert, sondern die ÖVP. Noch viel mehr ist es die Tatsache, dass es Menschen gibt, denen es besser, und Menschen, denen es schlechter geht. Die Armen und die Reichen zum Beispiel. Womit wir beim Thema wären. Denn Reiche gibt´s nur wenige. Die Armen hingegen sind laut SPÖ-Lesart der Rest.
Kommunikative Penetration
Eine alte Werberweisheit sagt: Wenn man etwas lange genug wiederholt – und selbst wenn es der größte Blödsinn ist –, dann wird es irgendwann einmal geglaubt. Dementsprechend ist die Armutsbewirtschaftung ein aufstrebender Wirtschaftszweig. Hierzulande ebenso wie im nördlichen Nachbarland übrigens, wo man das Opfersein mittlerweile zur Perfektion gebracht hat. Denn wer arm ist, ist ein Opfer der Reichen, der Konzerne, der bösen Börsen- und Immobilienspekulanten, der Miethaie und Krisengewinnler. Und natürlich ist der gemeine ÖVP-Politiker schuld, denn der ist herzlos, weltfremd und grundsätzlich eine Hure der Reichen. Karl Nehammers geleaktes Video, in dem er sinngemäß sagt, dass in Österreich natürlich jedes Kind eine warme Mahlzeit täglich zu sich nehmen könne, wurde von den findigen Social-Media-Menschen der SPÖ einmal mehr zum Anlass genommen, den Armuts-Narrativ durchzudeklinieren.
Mythos Sozialhilfe
Tatsächlich musste man sich in der Geschichte der Menschheit wohl nie weniger Sorgen um eine warme Mahlzeit machen als heute. Das soziale Netz ist dicht gewebt. Wer hier durchfällt, der hat richtig Pech gehabt. Zum Glück sind das entgegen anderslautenden Meldungen nicht besonders viele Menschen in Österreich, wobei die Zahl der Sozialhilfeempfänger einen genaueren Blick lohnt. Es sind nicht die Ärmsten der Armen, aber sie sind nahe dran – keine Frage: Wer Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss, der ist nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen. Sie wird nur dann gewährt, wenn man wirklich nichts mehr hat: Die völlige Vermögenslosigkeit und die erwiesene Unfähigkeit, selbst Geld zu verdienen, ist Voraussetzung dafür, vom Staat aufgefangen zu werden. Doch es gibt Ausnahmen: Gegenstände, die zur Erwerbsausübung oder Befriedigung angemessener geistig-kultureller Bedürfnisse erforderlich sind, darf man besitzen. Auch ein Auto darf man sein Eigen nennen, wenn man es berufsbedingt oder auf Grund besonderer Umstände nachweislich braucht, sowie angemessener Hausrat. Und wenn man ein Haus, eine Wohnung oder ein Grundstück besitzt, dann wird erst nach drei Jahren vom Staat darauf zugegriffen – insofern, als er nach dieser Zeit ins Grundbuch eingetragen werden kann. Wie viel man erhält, das hängt in Österreich davon ab, in welchem Bundesland man wohnt. Denn Sozialhilfe (sie ist seit 2019 die juristische Nachfolgeregelung der Mindestsicherung) ist Ländersache. Diese sind recht frei in dem, was und wie viel sie wem gewähren. Denn es gibt nicht nur Geld, sondern auch allerhand Zuschüsse: Wohnzuschüsse etwa, Heizkostenzuschüsse, Kulturzuschüsse und so weiter.
Wien: besonders arm dran
Nimmt man die Zahl der Sozialhilfeempfänger als Maßstab, scheint es besonders in Wien viele arme Menschen zu geben. 134.000 waren es im vergangenen Jahr nur in der Bundeshauptstadt, um 55.000 mehr als in allen übrigen Bundesländern zusammen: 79.000 Sozialhilfeempfänger weist die Statistik unter dem Titel Österreich ohne Wien aus. Der Integrationsbericht 2022 fasst darüber hinaus zusammen, woher die Sozialhilfeempfänger kommen: In Wien haben 40 Prozent immerhin einen österreichischen Pass, 42 Prozent sind subsidiär Schutzberechtigte oder Asylberechtigte, elf Prozent laufen unter dem Titel sonstige Drittstaatangehörige inkl. staatenlos und unbekannt und sieben Prozent kommen aus der EU, den EFTA-Staaten oder Großbritannien. Im übrigen Österreich ist die Verteilung nicht ganz so krass: Hier sind immerhin 49 Prozent österreichische Staatsangehörige und nur 33 Prozent asyl- oder subsidiär schutzberechtigte Menschen.
Die Ärmsten der Armen
Diese 213.000 Menschen sind, wie gesagt, die Ärmsten der Armen. In der Regel fällt man bei uns aber selbst in einer gravierenden Lebenskrise nicht in diese Kategorie. Denn als Sozialstaat ist Österreich recht ausgeprägt: Der Steuerzahler macht einen relativ hohen Betrag für Umverteilung zu Sozialschutzzwecken locker. Der Begriff Sozialschutz an sich umfasst per Definitionem alle öffentlichen und privaten Eingriffe, die darauf ausgerichtet sind, Personen bzw. Haushalten die Belastung durch bestimmte Risiken bzw. Bedürfnisse abzunehmen oder zu erleichtern. Gemeint sind also statistisch vor allem Ausgaben für Sozialleistungen, Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe, Pensionen etc. – und das ist, wie gesagt, ein hübsches Sümmchen. Exakt 136,1 Milliarden Euro ließ sich der Staat 2022 den Versuch kosten, diejenigen zu stützen und zu schützen, die nicht (mehr) in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Das schließt natürlich nicht nur Hilfsbedürftige im landläufigen Sinn mit ein, sondern auch die Empfänger von Pensionen.
Steigende Sozialausgaben
Die Summe ist dennoch bemerkenswert. Vor allem, wenn man sie in ihre Bestandteile zerlegt und vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass sie ständig steigt. Die Ausgaben für Sozialleistungen im Pensionsalter stiegen im Jahr 2022 auf 58,9 Mrd. Euro (+4,9 %), jene für die Kranken- und Gesundheitsversorgung aller Altersgruppen auf 37,8 Mrd. Euro (+6,1 %). Die beiden dominanten Ausgabenanteile (Alter: 44,4 %; Krankheit/Gesundheitsversorgung: 28,5 %) nahmen damit weiter zu und machten zuletzt annähernd drei Viertel der gesamten Sozialleistungsaufwendungen aus. Die stärksten Zuwächse gab es – nicht zuletzt wegen der zusätzlichen einmaligen Sonderzahlung von 180 Euro pro Kind – bei den Familienleistungen. Für diese wurden 12,1 Mrd. Euro (+9,4 %) ausgegeben. Aber auch auf Wohnen (Wohn- und Mietbeihilfen) und zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung (vor allem Mindestsicherung/Sozialhilfe und Flüchtlingshilfe) entfielen 2022 insgesamt 2,8 Mrd. Euro (+9,1 %). Das sind die Fakten, die die Statistik Austria erhoben hat. Wer sich hier noch hinstellt und jammert, dass es 300.000 Kinder in Österreich gäbe, die aus finanziellen Gründen kein warmes Mittagessen zu sich nehmen könnten, der nutzt das Leid der tatsächlich Armen in Österreich ungebührlich aus.
Die Rechnung zahlen nur wenige
Angesichts der Forderungen der Arbeiterkammer und des neuen SPÖ-Vorsitzenden nach neuen Vermögens- und Erbschaftssteuern war es da kein Wunder, dass anlässlich der Präsentation einer Wifo-Studie zur Umverteilung, die Ende Oktober dieses Jahres präsentiert wurde, reichlich Unruhe in der linken Reichshälfte spürbar wurde. Die nämlich ergab, dass nur 20 Prozent aller Einkommensbezieher als Nettozahler für den Sozialstaat fungieren. Heißt: 80 Prozent bringen weniger Steuern und Abgaben ein, als sie in der einen oder anderen Form vom Staat beziehen. Die Presse rechnet vor: In absoluten Zahlen liegt das Markteinkommen pro Kopf im untersten Dezil der Bevölkerung bei rund 430 Euro monatlich. Nach Berücksichtigung der Umverteilung durch öffentliche Leistungen und Abgaben steigt das Einkommen auf 1.830 Euro, wobei die in Anspruch genommenen wohlfahrtsstaatlichen Sachleistungen 960 Euro ausmachen, heißt es in der Studie. Für die obersten zehn Prozent der Bevölkerung liegt das Markteinkommen bei 7.640 Euro pro Monat. Nach staatlicher Umverteilung sinkt es auf 5.790 Euro (Sekundäreinkommen).
Reale Armut meist unsichtbar
Tatsächlich ist es trotz des gewaltigen staatlichen Umverteilungsangebotes nicht so, dass Armut inexistent wäre. Denn die Umverteilung reduziert zwar die Armutsgefährdung, eliminiert sie aber nicht. Selbst wenn man als Nettoempfänger über ein Einkommen von beispielsweise 1.300 Euro pro Monat, eine Wohnung und Krankenversicherungsleistungen verfügt, ist das zu wenig Geld, um sein Dasein würdevoll zu fristen. Arm kann man auch dann sein, wenn man einer normalen Arbeit nachgeht: Die working poor sind traurige Realität. Diejenigen, die sich mitunter weit unter der Armutsgrenze – diese ist mit 60 Prozent vom durchschnittlichen Medianeinkommen definiert, das sind 1.400 Euro netto – wiederfinden, sind vor allem Frauen. Sie arbeiten in Niedriglohnbranchen, wie der Textilindustrie, dem Handel oder im Tourismus, und haben wenig Chancen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Der etwas sperrige Fachausdruck für das, was wir gemeinhin unter Armut verstehen, ist erhebliche materielle und soziale Deprivation. Wer sich zumindest sieben der folgenden dreizehn Dinge nicht leisten kann, gehört zu dieser Gruppe: Ausgaben in der Höhe von 1.300 Euro aus eigenen Mitteln zu tätigen, einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren, Miete, Betriebskosten oder Kredite pünktlich zu bezahlen. Jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise zu essen. Die Wohnung angemessen warmzuhalten. Abgenutzte Möbel oder abgenutzte Kleidung zu ersetzen. Eine Internetverbindung zu haben. Jede Woche einen kleinen Beitrag für sich selbst auszugeben. Regelmäßig kostenpflichtige Freizeitaktivitäten auszuüben. Einmal im Monat Freunde zum Essen oder Trinken zu treffen. Ein Auto zu besitzen. Zwei Paar Schuhe zu besitzen.
Institutionen relativieren
Die Armutskonferenz – eine Institution, die sich selbst als Netzwerk von über 40 sozialen Organisationen, sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen definiert – untersucht seit 1995 das Phänomen Armut in Österreich. Sie stellt der Öffentlichkeit Zahlen, Daten und Fakten zur Verfügung. Unter anderem diese: 300.000 Menschen in Österreich hätten nicht mehr als 600 Euro zur Verfügung. 201.000 Menschen, das sind 2,8 Prozent der Wohnbevölkerung Österreichs, sind von erheblicher finanzieller und sozialer Deprivation betroffen. Über 1,3 Mio. Menschen (14,8 %) haben ein Einkommen unter der Armutsgrenze. Angesichts der erheblichen finanziellen und intellektuellen Bemühungen, Armut hintanzuhalten, sind das erschreckende, kaum nachvollziehbare Zahlen. Zumal dann, wenn man sie in Beziehung zu den anderen europäischen Ländern setzt: Denn nur in Schweden, Tschechien, Luxenburg, Finnland und Slowenien gibt es laut Eurostat weniger Armutsbetroffene – 21 Länder weisen einen zum Teil deutlich höheren Bevölkerungsanteil auf, der materiell und sozial erheblich eingeschränkt ist.
Obdachlosigkeit verbreitet
Am sichtbarsten wird Armut dort, wo man auf Obdachlosigkeit trifft: 20.000 Menschen sind in Österreich als wohnungslos registriert, die Dunkelziffer liegt naturgemäß weit höher. Die meisten davon sind Männer, am stärksten ausgeprägt ist die Obdachlosigkeit in Wien. Fragt man die Betroffenen, dann geben sie Probleme mit der Familie und in der Beziehung als Grund für die Obdachlosigkeit an, die tatsächlichen Ursachen sind jedoch vielschichtiger. Einer Untersuchung der Statistik Austria zufolge ist das Phänomen Obdachlosigkeit gar nicht so selten: Die erhobenen Zahlen legen nahe, dass 300.000 bis 600.000 Menschen bereits einmal in ihrem Leben selbst von zumindest vorübergehender Obdachlosigkeit betroffen waren.
Mythos Soziale Gerechtigkeit
Wenn aber so viele Menschen unter teilweise bitterster Armut leiden und andererseits nur 20 Prozent der Menschen durch ihre Beiträge das soziale System erhalten müssen, führt uns das zur Frage der sozialen Gerechtigkeit. Besser gesagt: Kann man in einem Land wie Österreich, das knapp 30 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Soziales ausgibt – in den EU-27 ist diese Quote nur in Frankreich höher –, einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit beklagen? Ist es gerechtfertigt, eine Zwangsverstaatlichung von ererbtem Vermögen zu fordern, um den Kindan a woames Mittogessn zu garantieren, oder ist es vielmehr billige, klassenkämpferische Polemik? Faktisch stellt sich diese Frage angesichts der überdurchschnittlich hohen Sozialquote kaum, sondern eher, ob die vorhandenen – erheblichen – Mittel richtig eingesetzt werden. Die Zahlen der Armutsforschung legen nahe, dass die für den Bereich Soziales eingenommenen Steuermittel eben nicht dort ankommen, wo sie sollen – es geht also weniger um soziale Gerechtigkeit als um soziale Treffsicherheit. Dazu kommt ein hochphilosophischer Aspekt: Ist soziale Ungleichheit gleichzusetzen mit sozialer Ungerechtigkeit?
Billiger Populismus
Fragt man Ultralibertäre, wie den neu gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei, ist die Antwort eindeutig: Lassen Sie sich nicht vom Sirenengesang der sozialen Gerechtigkeit verführen! Und glauben Sie nicht, wenn Ihnen jemand sagt: Dort, wo es einen Bedarf gibt, gibt es auch ein Recht darauf, rät er. Seine Ansichten fallen in Argentinien auf fruchtbaren Boden, denn dort haben jahrzehntelang sozialistische Politiker versucht, das im Staat erwirtschaftete Vermögen mehr oder weniger gerecht zu verteilen – mit dem Ergebnis, dass Argentinien nun wirtschaftlich und sozial am Ende seiner Kräfte ist. Javier Milei ist quasi der Kontrapunkt zu heimischen Populisten, die behaupten, die soziale Gerechtigkeit ließe sich nur herstellen, wenn man Vermögen besteuere und den Leistungsgedanken so weit wie möglich zurückdränge. Anpfiff für Gerechtigkeit übertitelt die SPÖ ihren Forderungskatalog, der Rechte für jede Problemstellung individueller Lebensorganisation einfordert: Ein gerechter SPÖ-Vollkaskostaat solle eine Ordnung herstellen, die den einzelnen von der Verantwortung enthebt, sich um sich selbst zu kümmern. Denn so, wie es jetzt sei, seien alle Menschen in irgendeiner Form entrechtete Opfer eines bösen, entmenschlichenden Kapitalismus, der für Armut und Ungleichheit sorgt: Das Recht auf einen Facharzttermin wird hier eingefordert, das Recht darauf, mit nicht mehr als zwei Prozent Preissteigerungen kalkulieren zu müssen. Opfer sind auch alle, die weniger verdienen als ein beliebiger anderer – es sei eben die Aufgabe der Politik Lohngerechtigkeit herzustellen. Opfer gibt es laut SPÖ zuhauf: Senioren, die wegen der Überlastung des Pensionssystems länger als bis 65 arbeiten werden müssen, Pflegekräfte, die von profitgierigen Organisationen ausgebeutet werden, Kinder, die in der Schule ohne warmes Mittagessen aushalten und darüber hinaus Matura machen und sich mit Ziffernnoten herumschlagen müssen.
Die letzte Generation
Die Ungerechtigkeit zu beseitigen oder zumindest sichtbar zu machen, ist jedenfalls ein Thema unserer Tage. Die klimaklebende letzte Generation etwa hat jüngst die Zusammenarbeit mit den Einsatzkräften aufgekündigt. Diese habe bislang darin bestanden, selbstständig zu gehen, wenn man zum Einsatzwagen abgeführt werde oder die Einsatzkräfte vorab zu informieren. Nun werde man sich lediglich ausweisen. Es gehe darum, Ungerechtigkeiten stärker sichtbar zu machen, erklärte eine Sprecherin der Aktivisten. Die Bewegung hat den Opferstatus zum Prinzip erhoben, die Inszenierung ist wesentlicher Bestandteil der Strategie: Laute, schrille Schmerzensschreie, die Polizeigewalt unterstellen; Versteifen des Körpers beim Abtransport, was immer mehr als eine Einsatzkraft pro Aktivist erfordert, wenn man einen Kleber von der Fahrbahn holt; dokumentierende Kameras aus verschiedenen Blickwinkeln, die die Aggression der Autofahrer über die sozialen Medien verbreiten sollen – all das gehört dazu, sich als Opfer darzustellen. So ist auch das Aufkündigen der Kooperation zu verstehen: Der Bewegung geht es erklärtermaßen darum, stärkere Bilder der Ungerechtigkeit erzeugen zu können.
Minderheiten: ideale Opfer
Damit greifen die Klimakleber einen woken Zeitgeist auf, der Gerechtigkeit einfach in jedem Lebensbereich fordert. Dass dabei Gerechtigkeit fälschlicherweise mit Gleichheit gleichgesetzt wird, stört so lange nicht, solange man sich auf einen Opferstatus berufen kann − und ist nicht jede Minderheit gegenüber der Mehrheit in einer schwächeren Position und dementsprechend automatisch ein Opfer? Homosexuelle Menschen sind Opfer der Theorie, nur Heterosexualität bewahre die Gesellschaft vor dem Aussterben − weshalb man die Ehe für alle einrichten müsse. So fühlt sich mittlerweile jede Gruppe, die sich ausgegrenzt fühlt, automatisch in einer Opferrolle wohl: Transgender, Migranten, People of Color, Herkunftsbenachteiligte etc. etc. – die Liste ließe sich endlos fortführen. Die linke amerikanische Philosophin Susan Neiman hat in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Wokeness-Bewegung gerade ein Buch dazu veröffentlicht (Susan Neiman: Links ist nicht woke, Hanser 2023). Sie geht davon aus, dass die Linke ihren einst ehrenwerten Kampf für sozialen Fortschritt aufgegeben habe und stattdessen den Opferstatus einzelner Gruppen in den Vordergrund ihrer Überlegungen rückt. Damit habe man sich von den Ideen der Aufklärung, die auf Gerechtigkeit, Fortschritt und Solidarität abzielen, zugunsten einer nur sehr schwer zu rechtfertigenden Cancel Culture verabschiedet.
Die Armut dieser Welt wird diese Haltung genauso wenig beseitigen wie die tatsächlich bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten. Die gute Nachricht ist: Es braucht keine sozialistischen Brachial-Parolen, um die Welt gerechter zu machen und die Unterprivilegierten in die Lage zu versetzen, selbst an ihrem Status zu arbeiten: Im Vergleich zu 2008 hat sich die absolute Armut halbiert. Damit ist viel erreicht, aber noch lange nicht alles. Investitionen in Bildung, Qualifikation und technologischen Fortschritt sind allemal besser geeignet, die soziale Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen als klassenkämpferische Parteitagsreden. Denn Gerechtigkeit muss auch für jene 20 Prozent der Erwerbstätigen gelten, die den restlichen 80 Prozent Zuwendungen aus ihrer Steuerleistung ermöglichen.
Fazitthema Fazit 198 (Dezember 2023), Foto: John Jabez Edwin Mayall
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