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Vernunft in der Geschichte?

| 10. Januar 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 199

Foto: ArchivEin Essay von Leo Dorner. »Über die Altvorderen wissen die Junggeborenen der Gegenwart restlos Bescheid.« Leo Dorner über Stolpersteine beim Versuch aktueller Gegenwart(en) über ihre Vergangenheit(en) Gericht zu halten.

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Dr. Leopold »Leo« Dorner, 1947 in Ödenburg/Sopron geboren, ist österreichischer Philosoph. Nach der Flucht seiner Familie aus Ungarn nach Österreich (1948) verbrachte Dorner seine Kindheit und Schulzeit in Leoben. Es folgten Studien in Philosophie, Musikwissenschaft, Pädagogik und Komposition an der Universität bzw. Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien.  1979 übersiedelte Dorner mit seiner Familie nach Linz und begann seine Arbeit am damaligen Bruckner-Konservatorium (nunmehr Anton-Bruckner-Privatuniversität). Leo Dorner lebt heute in Mautern.

Hegel war bekanntlich ein deutscher Philosoph, der die Vernunft des Wirklichen lehrte, folglich auch in der Geschichte der Menschheit die Vernunft wirken sah. Damit erregte er bei seinen Gegnern heftigen Widerspruch und unter seinen Anhängern einen nicht weniger umstrittenen Zuspruch.

Es waren nicht zufällig polnische Hegelianer, die zuerst zu einer »Philosophie der Tat« aufriefen, weil die reale Welt der damaligen europäischen Gegenwart ihre (durch Hegels Vernunftphilosophie) zugesagte Vernunft noch nicht erreicht habe. Nicht lange danach folgte die Fraktion der ersten Linkshegelianer und in deren Gefolge die »Intellektuellen« Marx und Engels, welche die Weltveränderung zum Leitprogramm einer neuen wahren Philosophie erhoben. Die Analogie zu den heutigen Weltveränderungs-Ideologien im Schafskostüm selbsternannter Open-Border-, Klima-, Gender- und Woke-Pakte ist evident. Wie die neue Ideologie hielten sich auch die beiden alten (Nationalsozialismus und Kommunismus) für wissenschaftlich bewiesen. Sei es durch urdeutsche Rassen-Erforschung, sei es durch eine marxistische Analyse des »Kapitals«, das der kapitalistischen Weltordnung zugrundliege.

In seinen Briefen schrieb Hegel schon um 1830 über Amerika und Rußland als möglichen künftigen Weltmächten. Daß die Ökonomie, durch einige »seiner Schüler« initiiert, zur Leitphilosophie und Afterreligion Deutschlands und der halben Welt aufsteigen könnte, ahnte er wohl nicht. Nun ist es völlig illusorisch zu behaupten: wenn sich die hegelsche Philosophie in Deutschland und Europa durchgesetzt hätte, wären der Menschheit die Katastrophen und das Unheil der nachhegelschen Epoche erspart geblieben.

Aber Hegels Feinde und Mißdeuter können den letztlich doch erfolgten Mißerfolg seiner Philosophie nicht als Beweis für das Wirken der Vernunft in der Geschichte anführen: Man kann sich nicht auf eine Instanz berufen, die man mit Schopenhauer, Nietzsche und Marx abberufen und für inexistent erklärt hatte, oder erst noch durch radikale Weltveränderung herbeiführen wollte. Naturgemäß wünschte Hegel zwar einen Erfolg seiner Philosophie, doch wollte er diesen niemals mittels politischer Parteien erreichen. Nach anfänglichen Erfolgen seiner Philosophie nicht nur in Deutschland, wandte sich das Blatt der Geschichte mit steigendem Tempo.

Die Problemhölle in der Höhle des Problems

Die Unvernunft in der Geschichte Europas ist seither ein bleibendes Thema aller Philosophien nach Hegel und ein praktisches Vollzugsprogramm von Europas Welterrettungs-Parteien bis heute. Letztere wechseln die Inhalte der selbstzerstörerischen Unvernunft, nicht deren kollektive Wahnmacht.

Zwar »richten« wir heute über das Versagen der gewesenen Ideologien mehr als vernichtend. Ob aber durch Vernunft oder nur durch die Anmaßung neuer Ideologien, diese Frage zu beantworten, wurde extrem schwierig, nachdem die modernen Philosophien ihre »Kontrakte« mit der oder wenigstens mit »einer« Vernunft gekündigt haben. Das geschieht euch recht, könnte ein schadenfreudiger Hegelianer unserer Tage verkünden: Man verläßt nicht ungestraft das Boot der Vernunft, um vernunftbefreit über das Meer tausender neuer und alter Ungewissheiten zu segeln. Die bekannte Tatsache, daß jede Gegenwart über die Vergangenheit urteilt und richtet, führt uns in die Höhle des Problems. Einerseits ist das Urteilen und Richten unvermeidbar, sogar auf der Ebene von Familie und Erziehung. Die Jungen wollen nicht mehr so singen, wie die Alten sungen. Andererseits werden die Jungen schon bald selbst zu den (nächsten) Alten zählen und ihrerseits von ihren und den nächsten Jungen beurteilt und gerichtet werden. Was sich aber im Gefilde der Generationenkonflikte noch leidlich befrieden und regeln läßt, das führt in den Arealen des Politischen, Kulturellen und Religiösen mit höchst unschöner Regelmäßigkeit zu schier unlösbaren Konflikten. What‘s the matter?

Es ist die Problemhölle, die in der Höhle des Problems lauert: Über die Altvorderen wissen die Junggeborenen der Gegenwart restlos Bescheid: Jene, die den religiösen Bruderkrieg des Dreißigjährigen Krieges nicht verhinderten, müssen Verrückte gewesen sein, jene, die den Ersten Weltkrieg nicht verhinderten, müssen »Schläfer«, jene, die die Ideologien nicht verhinderten, die zum Zweiten Weltkrieg führten, müssen vollständig und vollzählig Verblendete gewesen sein.

Wenn die jeweils aktuelle Gegenwart über die Vergangenheit(en) richtet, urteilen die jüngst Erleuchteten über die Altvorderen und erkennen sich selbst als rein Berufene und Außerwählte, als restlos Vernünftige und vollkommen Wachsame, – mit einem Wort: als Großmeister in den Spielen von Durchblick und Überblick.

Unsere Urteile über das Gewesene sind insofern immer maßlos, denn woher hätten wir das rechte Maß nehmen und nicht stehlen sollen? Aus unserer heutigen Gegenwart, die schon morgen Schall und Rauch gewesen sein wird? Aus der Historie des Gewesenen, weil diese uns das Gewordensein des Gewesenen auf dem versilberten Tafelgeschirr der Geschichtsschreibung serviert? Dann wüßten wir nach der (nicht kurzen) Lektüre von Livius römischer Geschichte, daß es notwendig und gut war, (vernünftig und weise) das Konsulat durch das Kaisertum zu ersetzen?

Bleibt noch die Zukunft als Prägestätte eines wahren und richtigen Maßes der Beurteilung. Die Zukunft als vorvorletzte oder als allerletzte? Die Antwort auf diese Frage zu verschleiern, zählt zum Basisgeschäft jeder Ideologie, denn jede gibt vor zu wissen, was schon demnächst und dann für alle Zeiten gut, wahr und richtig sein wird. Während das Letztgericht der Religion(en) just diese Frage als nicht mehr innergeschichtliche Frage erkennt, auf die daher auch keine innergeschichtliche Antwort möglich sei. Eine Einsicht, die die Religionen allerdings noch niemals daran hinderte, auf den neuesten Zug der neuesten Ideologie aufzuspringen.

Diese ist von der Wahrheit ihrer säkularen Heilsbotschaft mit quasireligiösem Eifer überzeugt, ihr Jüngster Tag hat mit ihrer Gründung bereits zu richten begonnen. Während die Geschichte niemals absolute Maße, Normen oder gar »Werte« zur Verfügung stellt, nach denen die aktuelle Gegenwart der Geschichte über die Vorgänger-Gegenwarten absolut wahr und richtig urteilen und richten könnte, glauben die Auserwählten der selbsternannten letzten Gegenwart eben dieses: sie wissen unfehlbar, wo der letzte Bartl den letzten Most holen wird.

Ein markantes aktuelles Beispiel: Über Mann und Frau als einzigen Geschlechtern des Lebewesens Mensch – dies die bisherige Deutung der Sexualität des Menschen -, kann der heutige Teil der Menschheit, der sich für deren neuaufgeklärte und avantgarde Elite hält, nur noch müde lächeln. Nur zwei Geschlechter gegen bemerkenswert viele Neugeschlechter haben keine Chance mehr, ihre vermeintlich angestammten Vorrechte behalten zu können. Mag in der Bibel stehen, was will; war der Gott der Bibel zu diversen und queeren Urteilen über den Menschen, den er angeblich selbst geschaffen hat, offensichtlich noch nicht fähig, muß man auch ihm auf die Sprünge helfen. Folglich laufen die »offenen« der heutigen Kirchenoberen dem avantgarden Teil der radikal neu definierten Menschheit hinterher. Und eine hehre Schar neuaufgeklärter Wissenschaften beweist, was längst schon hätte bewiesen sein sollen. Unausweichlich springt sogleich die Politik einiger berufener Parteien voraus, entweder in eine neue helle Zukunft, oder wieder einmal in einen dunklen Abgrund. Am Anfang jeder Ideologie, wenn sich ihre Botschaft noch nicht durchgesetzt hat, noch nicht eine Heerschar von Nachbetern und Mitläufern überzeugt hat, steht dieses (noch) unentschiedene Entweder-Oder wie ein Damoklesschwert über der aktuellen Gegenwart, drohend, die erfreulichen Anfänge des Neuen wieder einzudämmen und rückläufig zu machen.

Die »Bewegten« des Neuen sind allerdings überzeugt, schon bald alle Unwilligen und noch Verstockten vom einzig richtigen Weg in die Zukunft überzeugen zu können. Oft haben sie zusätzlich noch eine starke Wissenschaft hinter ihrem Rücken, die ihnen beizeiten die richtigen Worte zu soufflieren weiß, wenn es in den Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden zur Sache geht. Viktor Klemperers Memoiren über die Zeit nach 1933 in Deutschland und viele russische Romane über das Jahr 1917 und die folgenden Jahre, haben die Dispute dieser noch möglichen vorletzten Art, bevor sich die »Wahrheit« als allerletzte »Diskursart« durchgesetzt hatte, aufbewahrt. Neben den wirklich Überzeugten: oft Lehrer und Intellektuelle und Journalisten, (die Zünfte der im Denken, Reden und Schreiben Geübteren), wissen die politisch leitenden Köpfe der Bewegung freilich immer schon, daß die Überzeugungsarbeit allein nicht helfen wird, speziell die schweigende Mehrheit im Lande ist ein allzeit sturer und störrischer Esel. Da hilft nur Gewalt, sanfte oder auch weniger sanfte.

Wer mit »Vater Staat« denunziert, denunziert sich selbst

Wie steht es nun um die Vernunft in der Geschichte, die Hegel den Seinen zusagte, offenbar ohne sagen zu können, wie sie als wirklich politische Macht durchsetzbar wäre? Die Relativität des Urteilens und Richtens über historisch frühere Epochen ist ihm nicht verborgen geblieben. Öfters rügt er die Anmaßung der Historiker seiner Zeit, über die Ereignisse und handelnden Anführer der Geschichte so zu berichten und zu urteilen, als wären die Akteure der Geschehnisse bereist säkulare Menschen gewesen, die ihre Religion, deren Glauben und Kultus, in einer verborgenen Garderobe der Geschichte an den berühmten Nagel gehängt hätten. Als ob die Ermordung Cäsars eine vorweggenommene Guillotinierung eines französischen Königs gewesen wäre.

Daß Hegel innerphilosophisch tatsächlich dazu neigte, die Philosophien der Philosophiegeschichte als Vorgängerinnen seiner Philosophie in dieser »letzten« gipfeln zu lassen, führt bis heute zu grundlegenden Auseinandersetzungen über die Grenzen der Philosophie überhaupt. Daß er andernorts verkündete, keineswegs ein Ende der Philosophie predigen zu wollen, wird oft unterschlagen, um die Schlagkraft jenes Bonmots über den Vater Staat als »Gott auf Erden« nicht zu untergraben. Gegen dieses dümmliche Schlagwort, daß man seiner Rechtsphilosophie in die Schuhe zu schieben versucht, muß diese heute nicht mehr verteidigt werden. Ein »Ende der Geschichte« kennen nur die entweder links- oder rechtshegelianischen (Spät)Mitläufer seiner Schulen. Daß die Demokratie der westlichen Welt von 1990 (damals noch unbestrittene Erste Welt) berufen sei, unter Berufung auf Hegel ein Ende der Geschichte auszurufen, ist bekanntlich als Historiker-Ente im buchstäblichen Sinn »in den Teich der Geschichte eingegangen.«

Wenn es aber unmöglich ist, weder ein Ende der Geschichte auszurufen, noch endgültige Urteile über die vergangenen Gegenwarten der Geschichte zu fällen, müssen wir dann nicht annehmen, daß die Geschichte der Menschheit zu jeder Zeit von ebenso viel Vernunft wie von Unvernunft beherrscht und geführt wird?

Keineswegs, weil der historische Blick in die Geschichte zurück nicht der einzige ist, der sie nötigt, ihre Augen offen zu halten. Ginge sie tatsächlich mit dem Rücken Richtung Zukunft, weil sie immer nur in die Vergangenheit, über deren Schandtaten erschreckend, zurückschaute, wie ein spätmarxistischer Denker unterstellen wollte, wäre sie allerdings kaum mehr als ein gequetschter Spielball in den Händen der jeweils aktuellen Ideologien. Daß wir über die Vernunft und Unvernunft in der Geschichte immer nur im Rückblick und immer nur vorläufig urteilen können, über die künftigen Vernünfte und Unvernünfte aber überhaupt nicht, obwohl die jeweiligen Ideologien das Gegenteil behaupten und zu ihren Gunsten durchzusetzen versuchen, zeigt uns das Bild eines janusköpfigen Gottes der Geschichte, der selbst noch nicht wissen kann, wohin die Reise geht und wie sie zu Ende gehen wird. Daß er uns vor der Bildung ständig neuer Ideologien nicht bewahren kann, könnte unser Mitleid erwecken, – eine Anmaßung, der wir uns nicht schuldig machen sollten. Denn sein Kampf ist unser Kampf, seine Unentschiedenheit ist unsere, und seine Selbstentzweiung ist unsere Geschichte wechselvoller Gegenwarten.

Kants moralische Weltvernunft und die Tribunale der realen Geschichte

Der mittlerweile als »Rassist« geschmähte Immanuel Kant hielt an der Idee eines moralischen Fortschritts der Menschheit fest, obwohl ihn der Terror der französischen Revolution über die Wege des künftigen Fortschreitens einige Zweifel bescherte. Nicht mehr der gottbegnadete Wille eines Monarchen, sondern »nur« noch der vereinigte Wille freier Menschen eines Volkes wurde zur höchsten politischen Norminstanz erhoben, um den neu zu begründenden Staat durch vernünftige Verfassung und handlungsfähige Parteienkonsense zu garantieren.

Kant scheute sich nicht, diese neue Macht der Weltgeschichte als neue und zugleich »ewige Norm« zu preisen: denn ein politisches Vernunftprinzip habe sich als politische Realität offenbart und durchgesetzt. Erstmals schreibt sich ein Volk mit reifer Vernunft selbst vor, wie es politisch leben soll. Der Götter Wille war hinabgesunken. Auch an diesem neuen Tribunal in der Geschichte erkennen wir noch im Rückblick, daß die Menschheit offensichtlich von zwei Richtern begleitet wird: Einmal von dem der leidvoll umkämpften realen Geschichte mit ihren häufig wechselnden und sogar gegensätzlichen Tribunalen, zum anderen von dem eines letztes Gerichtes, vor dem sich die Relativa der wechselnden Urteile und »Richtungen« auflösen müssen, wenn anders die Geschichte ein Ziel hat und nicht sich sinnlos in eine leere Unendlichkeit verlaufen soll. Daß von dieser Letzen Instanz vorerst nur schwache Schimmer in die reale Geschichte zu scheinen scheinen, konnte allerdings auch der Vernunftoptimist Hegel nicht leugnen. Jede seiner »Listen der Vernunft« bestätigt die Differenz von Weltgeist und absolutem Geist. (Jede menschheitsrettende Ideologie vollzieht hingegen einen Kurzschluß zwischen Weltgeist und absolutem Geist – mit nachfolgendem Stromausfall und heftig bereuten Folgen. Zwischen Hegels Vernunftoptimismus und Marxens Klassenoptimismus gähnt ein schauerlicher Abgrund des Schreckens.)

Man könnte die Geschichte als Gang durch stets neue Prüfstationen definieren, in denen die Haltbarkeit der jeweils aktuellen Gestalten der Vernunft erforscht und erprobt wird. Nach Normen und Regeln von Vernunft, die auch Hegels Vernunft und System verborgen bleiben mußten? Dies ist unmöglich, weil in diesem Fall alle erreichten Wahrheiten und Normen lediglich als »Wendehälse« der Geschichte geschichtsmächtig geworden sein könnten und keinerlei vernünftigen »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« erbracht hätten. Mit einem Wort: als Offenbarungen einer obersten Irrationalität eines blinden Urwillens im Sinne Schopenhauers und von Poppers kurzschlüssigem Bonmot: »Die Geschichte ist sinnlos.«

In diesem Fall hätte allerdings niemand, weder Philosoph noch Nichtphilosoph, weder Philosophie noch Theologie noch sonst eine Wissenschaft das Recht, von einem moralischen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit auch nur zu plaudern. Denn schon demnächst könnte sich die Aufhebung der Sklaverei, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und tausend andere »Gerechtigkeiten« unser Vorgenerationen als Schwindel und Betrug erweisen. Auch dürfte niemand mehr die Ideologien des 20. Jahrhunderts als Systeme des Unrechts anklagen, deren Opfer entschädigen und deren Ermordete als politische Märtyrer eines gerechten Widerstandskampfes ehren.

Und die Gegenwart? – Sind die vernunftwidrigen Unheile des heutigen EU-Europa dem künftigen Europa auferlegt, um diesem eine letzte Prüfung zu bereiten? Um nochmals und zum letzten Mal seine Vernunftfähigkeit zu testen? Mit einem Wort: um es radikal auf die Probe zu stellen? Hat es deshalb so große Angst, den doppelten Fehler zweier Massenmörder-Ideologien nochmals zu »wiederholen«, nicht bemerkend, in welche (letzte?) Falle es eben dadurch gelockt wird? Handelt es sich um eine Selbstbeseitigung Europas durch eine selbst verschuldete neue Unvernunft? Eine Selbstbeseitigung, die mittlerweile bereits viele Gesichter zeigt, mehr Fratzen und Masken als Gesichter, um zu verbergen, daß die neuen Ideologien mit den alten nichts mehr zu tun haben? Ein grenzenlos offenes Europa, – das entweder wie hypnotisiert zusieht, wenn jedes Jahr eine Million Menschen »zuwandert«, oder diese Völkerwanderung neuerdings sogar begrüßt und durch einen »Klimawandel« begründet, der die Armen des Südens zwinge, zu den Reichen des Nordens »auszuwandern«, um diesen einer umgekehrten Kolonisierung zu unterwerfen – oder im genauen Gegensatz dazu: mit einer »Wanderung« zu beschenken, die dem vergreisenden Norden ermöglichen wird, ökonomisch zu überleben, wozu die Kirchen Europas prompt ihre rituell zustimmende Vision eines völlig neuen Europa verkünden? Dazu »offene« Moralen ohne Scham und Schämen, um die woke Kolonisierung der eigenen Kinder und Jugend durchzusetzen; auch mit neuen Geschlechtern, die wiederum für weitere genetische Veränderungen »offen« gemacht werden sollen.

Und als Kollateralschaden eine Geschlechtergerechtigkeit für und durch Sprache, die zu totalitär verhunzten Sprachen in Schrift und Laut führt, die wiederum neue »Denkgerechtigkeiten« nach sich ziehen, deren Doktrinen alle Normen und Begriffe in Gesellschaft und Kultur devastieren: Ist jeder Begriff zugleich als sein Gegenteil möglich und wirklich, haben wir uns nicht zu virtuosen Dialektikern oder wenigstens zu schlauen Sophisten gemacht, sondern lediglich zu schwurbelnden Insassen eines Narrenschiffs, dessen Kapitän auch nur ein Narr sein kann. Wollte Europa nicht als erstes Friedensimperium in die Geschichte eingehen? Europa mit verbundenen Augen in die Zukunft eilend, zugleich angsterfüllt in seine Geschichte zurückspähend: um desto wehrloser am zitternden Genick erfaßt und aus der Arena der Geschichte abgeführt zu werden? Wird es als neue dritte Welt enden, nachdem es immerhin über ein halbes Jahrhundert geretteter Teil einer Ersten Welt gewesen ist?

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Vorliegender Text von Leo Dorner erschien erstmals im September dieses Jahres auf seiner Webseite (zu finden unter bit.ly/F199VG). Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. Um die Authentizität des Textes zu wahren, wurde die vom Autor verwendete und alten Rechtschreibregeln entsprechende ß-Schreibung beibehalten.   leo-dorner.net

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Essay, Fazit 199 (Jänner 2024), Foto: Archiv

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