Gibt es ein Russland ohne Krim?
Redaktion | 12. März 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 200
Ein Essay von Nikolai Klimeniouk. Die Vorstellung, die Krim gehöre eigentlich zu Russland, hat sich auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine gehalten. Heute bildet diese Erzählung die legitimatorische Grundlage für die russische Annexion der Halbinsel 2014. Ohne die Krim müsste sich Russland neu erfinden.
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Nikolai Klimeniouk, geboren 1970 in Sewastopol auf der Krim, ist deutscher Journalist. Er studierte in Berlin Anglistik, Amerikanistik, Slawistik und Theaterwissenschaft. Seit 2014 lebt er als freier Autor in Berlin und schreibt regelmäßig für die FAZ am Sonntag, die NZZ und andere deutsche und europäische Medien über Kultur und Politik. fb.com/klimeniouk
Die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 war eine Zäsur, und doch kam sie kaum überraschend. Seit der Auflösung der Sowjetunion gab es in Russland mehrere Versuche, den eigenen Anspruch auf die Halbinsel zu begründen und die Legitimität der Übertragung der Krim an die Ukrainische Sowjetrepublik 1954 und damit ihre Zugehörigkeit zur unabhängigen Ukraine infrage zu stellen. Die Vorstellung, die Krim gehöre eigentlich zu Russland, ist auch nach dem Abschluss bilateraler Verträge und der Anerkennung der ukrainischen Grenzen keineswegs verschwunden, die Krimfrage blieb ein offenes Thema. Die meisten propagandistischen Narrative über die Krim, die heute in Russland in den Medien, der Wissenschaft und in den Unterrichtsmaterialien endlos wiederholt werden, finden sich in der Rede wieder, die der russische Machthaber Wladimir Putin am Tag der Annexion, dem 18. März 2014, vor den Abgeordneten beider Kammern des Parlaments und Vertretern der Regionen hielt. [1] Darin summierte er die gängigen Erzählungen und ergänzte sie mit neuen. Seitdem gilt dieser mit faktischen Unwahrheiten und verzerrten Interpretationen der Geschichte gespickte Text als eine Art Katechismus der Annexion, der sie von allen Seiten begründet: als Reaktion auf die »nationalistische Bedrohung« oder sonstige Gefahren, als Russlands historische Mission, als Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge, als Erfüllung der Wünsche der Bewohner der Krim und die Durchsetzung ihrer Rechte. Folgende Motive gehören zu den populärsten:
– Die Krim sei auf Wunsch ihrer Bewohner (wieder) ein Teil Russlands geworden; beim Referendum am 16. März 2014 hätten 96,6 Prozent für den Beitritt gestimmt. Die Menschen auf der Krim hätten somit lediglich von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht.
– Die meisten Bewohner der Krim seien Russen, und für alle Russen sei die Krim Russlands natürliches Territorium. Sie sei allen Russen heilig, weil dort der Heilige Fürst Wladimir getauft worden sei und weil Russen dort unzählige Heldentaten begangen hätten. Die Aufnahme der Krim in die Russländische Föderation sei mithin dasselbe wie die deutsche Wiedervereinigung.
– Die Entscheidung Chruschtschows, die Krim 1954 an die Ukraine zu übertragen, sei illegal gewesen.
– In der Ukraine habe 2013/14 ein von den USA organisierter Umsturz stattgefunden. Seitdem gebe es dort keine legitime Macht, das Land werde von Nationalisten und Russlandhassern beherrscht. Die Russen würden in der Ukraine zwangsassimiliert, deswegen habe Russland als Schutzmacht aller Russischsprachigen eingreifen müssen. Die russische Intervention habe großes Blutvergießen verhindert und die Stationierung von Nato-Truppen auf der Krim abgewendet, die für Russland eine existenzielle Bedrohung dargestellt hätten.
Neben diesem Kanon kursieren noch zahlreiche romantische Mythen, nostalgische Bilder und Verschwörungserzählungen. Meistens werden sie toleriert, solange sie der Hauptidee, dass die Krim zu Russland gehört, nicht widersprechen.
Säule der russischen Identität
»In der langen Liste der Provinzen, die 1991 verloren gingen, bleibt die Krim fast die einzige, deren Verlust die russische Gesellschaft noch immer zu schmerzen scheint«, schrieb der Literaturwissenschaftler Andrej Sorin 2001 und schlug eine Erklärung für diese »akute Nostalgie« vor: Im kollektiven Bewusstsein der Russen gebe es eine tief verwurzelte unreflektierte Vorstellung, dass der Besitz der Krim die Krönung der historischen Mission Russlands, seiner zivilisatorischen Bestimmung darstelle. [2] Die Entwicklungen der darauffolgenden Jahre haben diese Vermutung weitgehend bestätigt. Die Annexion löste in Russland eine Welle chauvinistischer Begeisterung aus, der Dissens blieb marginal. Der regimetreue Soziologe Michail Gorschkow, Direktor des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, fasste die Stimmung in einem Artikel 2018 so zusammen: »Fast während der gesamten postsowjetischen Periode (bis 2014) waren der Sieg des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg, der Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg und der erste Flug ins All von Juri Gagarin die Leitmotive des Nationalstolzes. Und nun wurde zum ersten Mal in unseren Massenumfragen nach dem ‚Krim-Frühling‘ ein historisches Ereignis aus der Zeit des neuen Russlands, nämlich die Wiedervereinigung der Krim mit Russland, in die Liste der Spitzenreiter des Nationalstolzes aufgenommen. Dies kann ohne Übertreibung als Ausdruck der Wiederbelebung des historischen Bewusstseins des russischen Volkes und aller Russen bezeichnet werden.« [3]
Die Umfragen des nichtstaatlichen Lewada-Zentrums zeigten ein ähnliches Bild: Zwischen 2014 und 2021 lag die Unterstützung für die »Eingliederung der Krim« stabil bei 83 bis 90 Prozent. [4] Diese überwältigende Einstimmigkeit war wohl das einzig wirklich Überraschende an der Annexion. Bis dahin herrschte sowohl in der russischen Soziologie als auch in der Publizistik die Vorstellung, im Land gebe es keine richtige Gesellschaft, sie sei zu atomisiert, den Russen fehle es an gemeinsamen Nennern und Werten. Die vermeintliche »Wiedervereinigung« wurde zu einem identitätsstiftenden Ereignis und verdeutlichte, welche Rolle die Schwarzmeerhalbinsel im Selbstverständnis der Russen spielt. Die Begeisterung lag aber wohl kaum am Landzugewinn: Nach 1991 übertrug Russland mehrere Gebiete an China, Aserbaidschan oder baltische Staaten, ohne dass sich jemand außerhalb ultranationalistischer Kreise und unmittelbar Bertoffener besonders dafür interessierte. »Nach einer harten, langen und anstrengenden Reise kehren die Krim und Sewastopol in ihren Heimathafen zurück«, verkündete Putin bei der »Wiedervereinigungsfeier« auf dem Roten Platz. [5] Doch vielmehr waren es der russische Staat und die russische Gesellschaft, die nach einer kurzen Phase der halbherzigen Versuche, anstelle eines Reichs einen modernen Nationalstaat aufzubauen, sich wieder zu ihrem imperialen Erbe bekannten.
Wiedergefundenes Paradies
Der imperiale Mythos, in dessen Zentrum die Krim steht, hat seine Wurzeln in der Zeit Katharinas II. Obwohl es Peter I. war, der Russland zum Imperium und sich selbst zum Kaiser erklärte, wurde seine Umgestaltung des Landes nach westeuropäischem Vorbild von vielen Russen seit jeher als zu unterwürfig empfunden, manchen galt sie sogar als Verrat am nationalen Wesen. Peters Blick war vor allem in den Norden gerichtet: Bei seinen Reformen orientierte er sich an Holland, seinen wichtigsten militärischen Sieg errang er über Schweden, die Inspiration für seine großen Bauvorhaben fand er in Nord- und Mitteleuropa. Das weitaus attraktivere Fantasiereich Katharinas wurzelte in der klassischen Antike, verstand sich als direkter Nachfahre von Byzanz und erhob den Anspruch, das wahre, zumindest gleichberechtigte Europa zu sein. Die Eroberung der Krim 1783 war Teil des insgesamt gescheiterten Plans Katharinas, ganz Südeuropa unter ihrer Herrschaft zu vereinen und einen ihrer Enkel auf den Thron von Konstantinopel zu setzen. Die ideologische Begründung dieses als »Griechisches Projekt« bekannten Expansionsprogramms war die »Befreiung« christlicher Völker von der osmanischen und generell muslimischen Herrschaft. Die Krim des 18. Jahrhunderts passte nicht ganz in dieses Bild, dort gab es eine große muslimische Mehrheit und kein »unterjochtes christliches Volk«, es ging aber vor allem um die Symbolik. Im 10. Jahrhundert ließ sich der Kyjiwer Großfürst Wladimir in Chersones, einer byzantinischen Kolonie im Südwesten der Krim, taufen, und machte anschließend das Christentum zur offiziellen Religion der Kyjiwer Rus. Mit der Einverleibung der Krim vollzog das Russische Reich einen symbolischen Anschluss an Byzanz und seine christlichen Ursprünge. Fürst Grigori Potjomkin, die wichtigste Persönlichkeit hinter der Expansion in den Süden, gab alten und neugegründeten Städten griechisch anmutende Fantasienamen: Aus Kezlev wurde Eupatoria, aus Kefe Theodosia, aus Aqmescit Simferopol; die kleine Siedlung Aqyar unweit des am Ende des 14. Jahrhunderts zerstörten Chersones wurde zur Hafenstadt Sewastopol ausgebaut. Die Halbinsel selbst hieß nun offiziell Tawrida (Tauris). Viele damalige Narrative sind immer noch erstaunlich präsent. So wurde bereits zu Katharinas Zeit die Eroberung der Krim als eine Rückkehr unter die Ägide der christlichen Monarchen und Wiederherstellung der natürlichen Harmonie gedeutet. »Natürlich« ist hier durchaus wörtlich zu verstehen. In der Literatur setzte sich der Topos durch, selbst die Natur erwache unter Katharinas Herrschaft wieder, mit Tauris habe Russland seinen eigenen Garten Eden erhalten. [6] Dieses Paradies auf Erden wurde später mehrfach in der ganzen Sowjetunion in Form von Sanatorien und Pionierlagern repliziert, deren Architektur unmissverständlich an das Original auf der Krim erinnerte. Auch das Bild der Wiedergeburt lebt weiter, im heutigen Russland ist der »Krim-Frühling« eine der offiziellen Bezeichnungen für die Annexion. Die Krim war aber viel mehr als bloß ein Urlaubsort im warmen Süden; keine andere Gegend bekam eine annähernd so große symbolische Bedeutung. Zur Atmosphäre der Krim gehörte auch die dort stationierte Schwarzmeerflotte, und nirgendwo sonst war diese Kombination von Tourismus und Militarismus so prägend. Große Betriebe, Behörden und Organisationen, und natürlich auch das Verteidigungsministerium, besaßen auf der Krim eigene Erholungsheime. Jeder Sowjetmensch hatte zumindest theoretisch Anspruch auf eine Zeit im Paradies, auf die Krim kamen jährlich bis zu vier Millionen Touristen aus der ganzen UdSSR. [7] In der unabhängigen Ukraine verloren diese Konnotationen zunehmend an Bedeutung, je mehr sich das Land vom imperialen Erbe distanzierte. In Russland empfand man das ganz anders; ohne die Krim schien Russland defekt, unvollständig. Dass die Halbinsel nach der Auflösung der UdSSR für russische Touristen weiterhin problemlos zugänglich war, konnte den Schmerz darüber nicht lindern, dass einem das Paradies nicht mehr gehörte.
Sewastopol, Stadt des militärischen Ruhms
Noch schmerzhafter war der Verlust von Sewastopol, obwohl Russland das Nutzungsrecht für die Stadt als Hauptstützpunkt der Schwarzmeerflotte auch nach der Auflösung der UdSSR behielt. Der entsprechende Vertrag mit der Ukraine wurde zuletzt 2010 verlängert und sollte bis 2042 gelten. Dass der Ort, der für Russlands Selbstverständnis als militärisch unbesiegbare Nation so bedeutend ist, nun im Ausland lag, wurde als eine der größten Ungerechtigkeiten der postsowjetischen Zeit empfunden. Das war auch in Sewastopol deutlich zu spüren. Von allen in der Zeit Katharinas entstandenen Städten hatte nur Sewastopol eine überwiegend militärische Funktion. Selbst nach der Unabhängigkeit der Ukraine blieb die russische Schwarzmeerflotte dort der wichtigste Arbeitgeber und prägte das Stadtbild nicht weniger als die prunkvolle Architektur. Russische Staatssymbole gehörten dazu genauso wie Filialen russischer Banken oder der 1999 gegründete Ableger der Moskauer Lomonossow-Universität.
Im Zentrum vom Mythos Sewastopol stehen zwei historische Ereignisse: die Belagerung im Krimkrieg von Oktober 1854 bis September 1855 und jene im Zweiten Weltkrieg zwischen Oktober 1941 und Juli 1942. In Sewastopol gibt es über zweitausend Denkmäler und Gedenkstätten, die meisten davon sind den beiden Belagerungen gewidmet. [8] In beiden Fällen wurde die Stadt nach monatelangen Kämpfen aufgegeben und war danach fast vollständig zerstört, dennoch deutete die russische Historiografie diese Niederlagen zu wichtigen Siegen um. Das berühmteste Denkmal der Stadt, das Denkmal der versenkten Schiffe, wurde 1905 im Meer vor dem Küstenboulevard errichtet. Es erinnert an die Schiffe, die die russische Marine im Krimkrieg selbst versenkte, um den Hafeneingang unpassierbar zu machen. Insgesamt landeten 95 Schiffe auf dem Meeresgrund, der ganze Bestand der damaligen Schwarzmeerflotte. Seit 2017 ist das Denkmal auf dem russischen 200-Rubel-Schein abgebildet. Die unabhängige Ukraine bot Sewastopol keine alternative Zukunftsvision, umso größer wurde der Wert der Stadt für den russischen nationalistisch-imperialen Diskurs. Die lokalen Anhänger Russlands, und davon gab es in Sewastopol sicherlich mehr als an jedem anderen ukrainischen Ort, nannten ihren Widerstand »gegen die Ukrainisierung« die »dritte Verteidigung« von Sewastopol. Nach der Annexion wurde dieser Begriff zu einem Teil des offiziellen Narrativs. [9]
»Die Krim war schon immer russisch«
Dass die Krim »schon immer russisch« gewesen sei, ist wohl der am weitesten verbreitete Krim-Mythos. Die Tatsache, dass sich eine solche Sichtweise trotz ihrer offensichtlichen ahistorischen Absurdität etablieren konnte, zeugt von Russlands außerordentlicher Effizienz beim Vertreiben der Völker und beim Umschreiben der Geschichte. Die muslimischen Krimtataren passten von Anfang an nicht ins Bild vom Garten Eden. Die neue Macht wollte das eroberte Land nicht nur unterwerfen, sie wollte es vor allem mit neuen Inhalten und neuen Menschen füllen. So begann schon Grigori Potjomkin, die Krimtataren zu vertreiben und orthodoxe Christen auf die Krim zu bringen. [10] Darunter waren zahlreiche Griechen und Armenier, aber vor allem »orthodoxe Russen«. Die Statistik erfasste damals nur die kirchliche und keine ethnische oder sprachliche Zugehörigkeit und machte keinen Unterschied zwischen Russen und »Kleinrussen«, also Ukrainern. Tatsächlich kamen viele Siedler aus dem Gouvernement Neurussland, den kürzlich eroberten südukrainischen Gebieten. Die Krimtataren wurden nach und nach mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln zur Auswanderung gezwungen, vor allem ins Osmanische Reich. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts hatten etwa die Hälfte der Krimtataren, geschätzte 400000 Menschen, ihre Heimat verlassen, noch mehr gingen nach dem Krimkrieg, und so wurden sie mit etwa 100000 zu einer Minderheit im eigenen Land. [11] Es folgten Pogrome während des Bürgerkriegs und eine Hungersnot, woran etwa 15 Prozent der Krimtataren starben. Bis zum Ende der 1930er Jahre schrumpfte der Anteil der Krimtataren an der Gesamtbevölkerung der Halbinsel auf unter 20 Prozent, die Russen stellten damals aber immer noch keine Mehrheit. Dies änderte sich erst nach den Deportationen von 1944. Unter dem Vorwand der Kollaboration mit den Nationalsozialisten deportierten sowjetische Sicherheitsbehörden wenige Tage nach der Rückeroberung der Halbinsel die gesamte krimtatarische Bevölkerung – 200174 Menschen. In den folgenden Jahren starben geschätzt bis zu 46 Prozent der Krimtataren. [12] Auch andere nichtslawische Bevölkerungsgruppen wurden nach Zentralasien oder in verschiedene Regionen Russlands, vornehmlich in den Ural, verschleppt, darunter 61977 Deutsche, 16006 Griechen, 12628 Bulgaren, 9821 Armenier, rund 1000 Krimitaliener sowie einige Hundert Vertreter anderer Minderheiten, vor allem Karäer und Roma. [13] Fast alle Ortschaften, die noch krimtatarische Namen trugen, wurden umbenannt. Nach dem Krieg und den Deportationen blieb etwa ein Drittel der einstigen Einwohner auf der Krim. [14] Erst dadurch wurden Russen zur Mehrheit auf der Halbinsel. Die russische Lesart der Krim als Bühne des Weltgeschehens, auf der mal die einen, mal die anderen Akteure auftraten, impliziert, dass keine Bevölkerungsgruppe dort als wirklich »indigen« gelten kann. Alle seien zugezogen, niemand sei ursprünglich, und damit wären auch alle möglichen Ansprüche auf einen Sonderstatus sinnlos und unbegründet. Zum entscheidenden Faktor wird die Größe. Wie nicht anders zu erwarten, bediente auch Putin diese Zahlenrhetorik: »Ja, es gab eine Zeit, in der die Krimtataren, wie auch einige andere Völker der UdSSR, grausamem Unrecht ausgesetzt waren. Ich will eines sagen: Viele Millionen Menschen verschiedener Nationalitäten haben damals unter Repressionen gelitten, vor allem aber natürlich russische Menschen.« [15]
Mit einer ähnlichen Formel wurde in der UdSSR der Holocaust relativiert. Es hieß, die Juden hätten zahlenmäßig nur einen kleinen Teil der sowjetischen Kriegsopfer ausgemacht und sollten daher nicht gesondert erwähnt werden. Was Putin in diesem kurzen Satz unterschlägt, ist im Grunde die ganze Leidensgeschichte der Krimtataren seit der russischen Eroberung im 18. Jahrhundert. Auch die sowjetischen Repressionen gegen sie waren alles andere als typisch: Im Gegensatz zu den meisten anderen vertriebenen Völkern, die kurz nach Stalins Tod in ihre Heimatregionen zurückkehren konnten, blieb dies den Krimtataren bis zum Zerfall der UdSSR verwehrt. So kam jene Krim zustande, die Putin nun zu einem organischen Teil Russlands erklärte: »Unsere gemeinsame Geschichte und unsere gemeinsamen Wurzeln, unsere Kultur und ihre spirituellen Ursprünge, unsere Grundwerte und unsere Sprache haben uns für immer miteinander verbunden«. [16] Aus dem Munde Putins enthält dieser Satz aber auch eine unbeabsichtigte Pointe. Neben den zwangsumgesiedelten russischen und ukrainischen Kolchose-Bauern bestand ein erheblicher Teil der neuen Bewohner der Krim aus Angehörigen und Veteranen der Streitkräfte, der Geheimdienste und der Partei. Einerseits wurde die Halbinsel weiter zum militärischen Vorposten Russlands im Süden ausgebaut, andererseits achteten die Machthaber auf die Loyalität der neuen Bevölkerung, und dafür wurden besonders staatstreue Menschen mit einer Umsiedlung ins sowjetische Paradies belohnt. Diese Politik, die bis in die 1970er Jahre andauerte, erklärt einige Eigentümlichkeiten der aktuellen Demografie der Krim und ist zudem einer der Gründe, warum die Übertragung an die Ukrainische Sowjetrepublik dort einen so nachhaltig negativen Eindruck hinterlassen hatte.
»Chruschtschows Geschenk«
Am 19. Februar 1954 wurde die Krim, die nach dem Zerfall des Zarenreichs zur Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gehörte, der Ukraine zugeschlagen. Nach einer verbreiteten Meinung geschah dies auf Initiative des Parteichefs Nikita Chruschtschow. Der Mythos von »Chruschtschows Geschenk« ist so populär, dass er sich auch international etablierte und selbst von großen Medien immer wieder aufgegriffen wird. So schrieb zum Beispiel die »Süddeutsche Zeitung« 2014 plump: »Eigentlich hat Chruschtschow 1954 die Halbinsel der Ukraine geschenkt.« [17] Ob es tatsächlich in erster Linie Chruschtschow war, der den Transfer vorangetrieben hat, ist nicht restlos geklärt. In den Unterlagen der beteiligten Organe sind lediglich ihre Beschlüsse festgehalten, nicht aber die Sitzungsprotokolle. Offiziell wurde als Begründung »gemeinsame Wirtschaft, territoriale Nähe und enge ökonomische und kulturelle Bindungen zwischen der Region Krim und der Ukrainischen SSR« angegeben. Die seriöse historische Forschung geht heute davon aus, dass es sich um eine schnell, aber gründlich vorbereitete kollektive Entscheidung gehandelt hat, die angesichts der gemeinsamen Infrastruktur durchaus sinnvoll war. Die Idee, die Übergabe der Krim zum symbolischen Zeichen der »ewigen Freundschaft« anlässlich des 300. Jubiläums des Vertrags von Perejaslaw zu machen, der in Russland als »Vereinigung« mit der Ukraine interpretiert wird, gilt dagegen eher als Zufall. [18]
Die Zeit nach Stalins Tod war eine Phase großer Reformen, und eine davon war auf der Krim viel deutlicher zu spüren als der Übergang in ukrainische Verwaltung. 1955 begann die Sowjetunion, ihre Streitkräfte zu reduzieren. Innerhalb weniger Jahre wurde die Truppe von über fünf Millionen auf weniger als drei Millionen verkleinert. Die sowjetische Führung präsentierte es als eine Geste der Entspannung, dabei war eine derart große Armee in der Nachkriegszeit vor allem eine zu große wirtschaftliche Belastung. Zum Hintergrund der Reform gehörte auch der Machtkampf zwischen zwei einflussreichen Militärs, dem Verteidigungsminister Georgi Schukow und seinem Stellvertreter, den Kommandanten der Kriegsmarine Nikolai Kusnezow. Die Rivalen vertraten unterschiedliche Konzepte für die Zukunft der Streitkräfte: Schukow setzte auf Langstreckenraketen und Panzer, Kusnezow auf eine tiefe Integration der Landtruppen mit der Marine. Im Oktober 1955 explodierte und versank an der Reede von Sewastopol das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte »Noworossijsk«. Diese nie überzeugend aufgeklärte Katastrophe, die mehrere Hundert Seeleute das Leben kostete, nahm Schukow zum Anlass, Kusnezow abzusetzen und die Truppenstärke zu einem unverhältnismäßig hohen Anteil auf Kosten der Flotte zu reduzieren. Erhebliche Kürzungen erfuhren auch technische Dienste und Sanitärtruppen. Viele Offiziere wurden kurz vor ihrer Pensionierung entlassen, andere waren gezwungen, in denselben Funktionen als Zivilisten zu arbeiten: für weniger Geld und ohne Aussicht auf erhöhte Renten und andere Privilegien des Militärs. Auf der hochmilitarisierten Krim traf es viele Familien, besonders in Sewastopol. Sie empfanden das als Verrat und machten Chruschtschow persönlich dafür verantwortlich. Eine Generation später waren diese schmerzhaften Erfahrungen nicht mehr akut, die Kränkung aber blieb im kollektiven Gedächtnis und wurde auf den Transfer der Krim an die Ukraine als die einzige nachhaltige Folge der Reformen projiziert. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass Chruschtschows Nachfolger ihn als exzentrisch und »voluntaristisch« darstellten. Wenn also heute die Vertreter der offiziellen Linie behaupten, die russische Bevölkerung der Krim habe die Übertragung an die Ukraine immer als illegitim betrachtet, haben sie nicht ganz unrecht. [19]
Putin knüpfte in seiner Annexionsrede 2014 ebenfalls an die Tradition an, Chruschtschow zum Sündenbock für alles Mögliche zu machen: »Ob es ihm darum ging, die Unterstützung der ukrainischen Nomenklatura zu gewinnen oder die Organisation der Massenrepressionen in der Ukraine in den 1930er Jahren wiedergutzumachen – damit sollen sich die Historiker befassen. Für uns ist noch etwas anderes wichtig: Diese Entscheidung wurde unter klarer Verletzung der schon damals geltenden Verfassungsnormen getroffen.« [20]
»Schuld sind die Juden, wer sonst?«
So unhistorisch die offizielle russische Version auch sein mag, sie ist bei Weitem nicht die einzige. Es scheint zumindest in Russland eine Art Naturgesetz zu sein, dass es für jedes Ereignis, bei dem jemand zu Schaden gekommen ist, eine antisemitische Erklärung gibt. Eine als »Krim-Kalifornien« bekannte Verschwörungserzählung bezieht sich auf tatsächliche Versuche, in den 1920er Jahren eine jüdische Autonomie auf der Krim zu gründen, die von jüdischen Organisationen in den USA unterstützt wurde. Anhänger von »Krim-Kalifornien« behaupten, dass die sowjetische Führung die Halbinsel damals an diese Organisationen verpfändet habe. Diese hätten dann sowjetische Schulden genutzt, um während des Zweiten Weltkriegs von Stalin zu verlangen, die Krimtataren von der Krim zu deportieren, um Platz für einen jüdischen Staat zu schaffen. Unter dem Druck der jüdischen Lobby habe US-Präsident Franklin D. Roosevelt Stalin mit den Verzögerungen von Waffenlieferungen und dem Kriegseintritt in Europa erpresst, deswegen habe die Landung in der Normandie erst nach der Deportation der Krimtataren stattgefunden. Nach dem Krieg habe Stalin die Gründung Israels unterstützt, um die Krim nicht hergeben zu müssen. Paradoxerweise erscheint ausgerechnet Chruschtschow in diesem Märchen als Retter der Krim und Vollstrecker von Stalins Willen: Nachdem die Halbinsel kein Teil Russlands mehr war, seien auch die Ansprüche der amerikanischen Juden verfallen. [21]
Diese Erzählung hat eine unübersehbare Ähnlichkeit mit dem Narrativ, das »Kyjiwer Regime« säubere im Auftrag der USA und Israels den Südosten der Ukraine von ethnischen Russen, um einen Massentransfer israelischer Juden zu ermöglichen, die der Situation im Nahen Osten überdrüssig seien. Derlei Thesen verbreitete etwa Putins einstiger Wirtschaftsberater Sergej Glasjew. [22]
Sollte die russische Besatzung der Krim zum dauerhaften Zustand werden, würde dies einerseits den imperialistischen Charakter Russlands weiter befestigen und eine wie auch immer entfernte Perspektive seiner Liberalisierung und Demokratisierung nachhaltig erschweren. Andererseits würde die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität über alle aktuell besetzten Gebiete das noch imperiale Russland vor die Notwendigkeit stellen, sich neu zu erfinden, und würde möglicherweise zur Gründung eines neuen Staates oder mehrerer neuen Staaten an seiner Stelle führen.
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Fußnoten
[1] Obraschtschenije Presidenta Rossijskoi Federaziji [Ansprache des Präsidenten der Russländischen Föderation], 18.3.2014, http://kremlin.ru/events/president/news/20603
[2] Andrej Sorin, Kormja dwuglawogo orla … Literatura i gosudarstwennaja ideologija w poslednej treti XVIII pervoj treti XIX weka [Den Doppeladler füttern … Literatur und Staatsideologie vom letzten Drittel des 18. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts], Moskau 2001, S. 119
[3] Michail K. Gorschkow, Vossojedinenije Kryma s Rossijej: Sozialno-istoritscheskije, polititscheskije I soziokulturnyje predposylki [Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland: Soziohistorische, politische und soziokulturelle Voraussetzungen], in: Sostojanije i problemy soziokulturnoj integraciji Kryma w Rossiju [Ist-Stand und Probleme der soziokulturellen Integration der Krim nach Russland], Moskau 2018, S. 9
[4] Vgl. Lewada-Zentrum, Krym, 26.4.2021, http://www.levada.ru/2021/04/26/krym; dass., Prisojedinenije Kryma, 1.4.2019, http://www.levada.ru/2019/04/01/prisoedinenie-kryma
[5] Miting »My wmeste!« w podderschku prinjatija Kryma w sostaw Rossijskoj Federaziji [Kundgebung »Wir sind zusammen!« zur Unterstützung des Beitritts der Krim zur Russländischen Föderation], 18.3.2014, http://kremlin.ru/events/president/news/20607
[6] Vgl. Sorin (Anm. 2), S. 121
[7] Vgl. Neil Kent, Crimea. A History, London 2016, S. 143
[8] Vgl. Arkadij Tschikin, Sewastotol, Istoriko-literaturnyj spravotschnik [Sewastopol, ein historisches und literarisches Handbuch], Sewastopol 2008
[9] Vgl. Igor Kasatonow, Tretja oborona Sewastopolja [Die dritte Verteidigung von Sewastopol], in: Iswestija, 6.5.2016, https://iz.ru/news/612622
[10] Vgl. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1992, S. 47–53
[11] Vgl. Gwendolyn Sasse, The Crimea Question: Identity, Transition, and Conflict, Cambridge MA 2007, S. 74f.
[12] Vgl. Sergej Gromenko, Deportazija krymskich tatar [Die Deportation der Krimtataren], 2017, https://ru.krymr.com/a/28491315.html
[13] Vgl. ders., Deportazija schitelej Kryma [Die Deportation der Krimbewohner], 2017, https://ru.krymr.com/a/28571010.html
[14] Vgl. Kent (Anm. 7), S. 140
[15] Putin (Anm. 1)
[16] Ebd.
[17] Warum die Krim für Russland so wichtig ist, 1.3.2014, http://www.sueddeutsche.de/1.1900897
[18] Vgl. Sasse (Anm. 11), S. 107–126
[19] Vgl. Tatjana Senjuschkina, Wossojedinenije Kryma s Rossijej kak etnopolititscheskij process [Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland als ethnopolitischer Prozess], in: Polititscheskaja ekspertisa, 2015, S. 76
[20] Putin (Anm. 1)
[21] Vgl. Sergej Gromenko, Mif o Krymskoj Kalifornii [Der Mythos von Krim-Kalifornien], 3.9.2017, https://ru.krymr.com/a/28713345.html
[22] Vgl. Ksenia Krimer, Der böse Jude ist wieder da, 1.7.2023, http://www.faz.net/18999308.html
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Vorliegender Text von Nikolai Klimeniouk erschien am 2. Februar dieses Jahres bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bit.ly/F200Krim) unter der Creative Commons Lizenz »CC BY-NC-ND 3.0 DE«. bpb.de
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Essay, Fazit 200 (März 2024), Foto: Archiv
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