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Verbindend kämpferisch

| 12. März 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 200, Fazitgespräch

Foto: Marija Kanizaj

Er will, dass es allen gut geht, und weiß, dass er mit allen gut können muss. Josef Pesserl, Präsident der steirischen AK, ist ein Mann von ausgesuchter Höflichkeit, ist niemand, der die Konfrontation sucht. Andererseits scheut er sich nicht davor,  wenn sie ihm aufgedrängt wird. Einem gepflegten Streit, mit dem sich die Hoffnung auf Konsens verbindet, geht er nie aus dem Weg.

Das Gespräch führten Johannes Roth und Johannes Tandl.
Fotos von Marija Kanizaj.

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Den Weg ins Büro des Präsidenten säumt großformatige, farbenfrohe Kunst. Die Präsidialetage wirkt nicht allzu förmlich, beinah bescheiden. Finanziert wird die Arbeiterkammer über die Arbeiterkammerumlage ihrer 529.000 steirischen Pflichtmitglieder – das sind alle steirischen Arbeitnehmer ausgenommen Beamte, Arbeitnehmer der Land- und Forstwirtschaft und leitende Angestellte. Diese  AK-Umlage beträgt 0,5 Prozent des Bruttogehaltes und wird als Bestandteil der Lohnnebenkosten vom Gehalt einbehalten. Im Gegenzug hat man dadurch einen Rechtsanspruch auf Unterstützung in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen. 2022 erstritt die steirische AK für ihre Mitglieder knapp 67 Millionen Euro.

Sie leistet aber nicht nur juristischen Beistand. Sie ist im Bildungsbereich engagiert, schützt die Konsumenten und bringt sich aktiv in politische Diskussionen ein. Das Präsidium wird aus den Reihen der Gewerkschaft gewählt – die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter (FSG) führt bei den Arbeiterkammerwahlen seit jeher überlegen vor dem schwarzen ÖAAB und den blauen Freiheitlichen Arbeitnehmern (FA).

Im Vorzimmer Josef Pesserls (67) hängt unübersehbar ein Foto, das den schwarzen Landeshauptmann und ehemaligen ÖAAB-Funktionär Christopher Drexler in freundschaftlicher Verbundenheit mit dem roten Gewerkschaftsfunktionär Pesserl zeigt. Dieser stellt sich heuer im April wieder als Spitzenkandidat der FSG der Wahl – ob er die 64,4 Prozent, die seine Fraktion 2019 erhalten hatte, übertreffen kann, wird sich zeigen.

***

Herr Präsident, Inflation und Krisen haben das Leben verändert und damit auch den Aufgabenbereich der Arbeiterkammer. Sehen Sie sich noch als Arbeitnehmervertreter im klassischen Sinn oder ist die AK vielmehr ein Stakeholder im Bereich der Armutsbekämpfung?
Ich würde schon sagen, dass wir die Interessenvertreter der Arbeitnehmer sind. Was wir natürlich nicht können, ist, politische Entscheidungen außer Kraft zu setzen. Sie haben die Schwierigkeit der Bevölkerung, ihr Leben zu finanzieren, angesprochen: Was wir sehr wohl können und auch permanent tun, ist, an die Politik zu appellieren, die richtigen Maßnahmen zu setzen, dass es eben nicht zu solchen Situationen kommt.

Und gelingt Ihnen das? Es sieht so aus, als hätte die Regierung das eine oder andere besser machen können. Was hat sie Ihrer Meinung nach bei der Bekämpfung des Ukraine-Kriegs, der Sanktionen, der Energiekrise und anderen Themen falsch gemacht?
Nun, ich würde sagen, das waren komplett falsche Maßnahmen. Die Regierung hat völlig ignoriert, dass die Preise in den wesentlichen Bereichen Strom und Mineralölprodukte im Jahr 2022 explodiert sind. Sie hat nichts dagegen unternommen. Seit Mai, Juni 2022 haben wir intensiv versucht, auf die Politik einzuwirken. In diesem Zusammenhang wird uns ja immer unterstellt, wir seien gegen den Markt und wollten Kommunismus. Das ist natürlich völlig unrichtig.

Foto: Marija Kanizaj

Es sieht tatsächlich manchmal so aus.
Wir sind nicht gegen den Markt. Aber manchmal ist es ganz offensichtlich die Aufgabe der Politik, im Interesse aller in den Markt einzugreifen. Denn was ist passiert? Einige wenige Energiekonzerne haben durch Preiserhöhungen ihre Gewinne verdoppelt und verdreifacht. Die Ursache für die Preiserhöhung waren nicht höhere Gestehungskosten. Hier wurde offensichtlich die Situation genutzt, um Profite zu maximieren – eine unanständige Abzocke einiger weniger auf Kosten aller anderen. Davon waren nicht nur die Arbeitnehmer massiv betroffen gewesen, sondern auch die Unternehmen.

Nun hat man einen Gewinnabschöpfungsmechanismus eingeführt …
Das ist ein schlechter Scherz! Ein Placebo. Die Gewinnabschöpfung bei diesen Konzernen betrifft nur einen ganz kleinen Teil der tatsächlichen Gewinne. Diese Maßnahme hat nichts daran geändert, dass danach alle anderen Produkte und Dienstleistungen ebenfalls im Preis explodiert sind. Und die mussten alle bezahlen: die Unternehmen, die Haushalte, die Arbeitnehmer, die Pendler.

Technisch gesehen: Wie hätte man denn reagieren sollen?
Darüber nachzudenken, wie man Maßnahmen einführt, die entsprechende Wirkung entfalten, wäre eigentlich die Aufgabe der Politik. Wenn es ganz schnell gehen muss, dann ist es einfach ein Preisdeckel. Andere Länder haben gezeigt, dass das geht. Die Maßnahmen, die unsere Regierung gesetzt hat, haben nicht dazu geführt, dass die Preise gesunken sind. Im Gegenteil, die Preise sind weiter gestiegen.

Sie spielen auf den Strompreisdeckel an.
Genau. Wenn die Politik sagt, »Lieber Energiekonzern, deine hohen Preise werden wir mit Steuermitteln stützen, damit der Endverbraucher dann nur mehr bis zu einer bestimmten Höhe direkt zahlt, denn den Rest übernehmen wir aus dem Steuertopf« – ja, was wird dann der Effekt sein? Nicht nur dass die Preise insgesamt hoch bleiben und weiter steigen, der Effekt ist zusätzlich, dass man mit Milliarden Steuergeldern die Gewinnmaximierung dieser wenigen Konzerne subventioniert hat.

Jetzt ist der Strompreisdeckel halbiert. Wie beurteilen Sie das?
Es müsste in die Strompreise eingegriffen werden. Der Strompreisdeckel ist eine völlig falsche, wirtschaftsschädliche Maßnahme. Denn durch die hohen Preise und die Reduzierung der Kaufkraft leiden auch die Unternehmen.

Nicht nur die Konzerne erhöhen die Preise, auch die Kohlendioxidsteuer verteuert die Energie.
Ich halte das in Phasen, in denen die breite Masse der Bevölkerung schon so belastet ist, dass sie nicht mehr weiß, wie sie ihr Leben finanziert, für schlicht und einfach nicht angebracht.

Trotzdem kann man sagen, dass es den steirischen Arbeitnehmern heute nicht schlechter geht als vor fünf Jahren. Denn die Teuerungsfolgen sind ja sowohl von den Arbeitgebern kompensiert worden als auch letztlich mit den Maßnahmen der Regierung.
Also ich kann Ihnen nur sagen, wir haben Vorsprechende, die vor Verzweiflung in Tränen ausbrechen. Weil sie nicht wissen, wie sie überleben können. Vollzeitbeschäftigte. Das betrifft nicht nur Arbeitslose oder Teilzeitbeschäftigte. Ich meine, man muss sich das vorstellen: Da kommen Leute zu uns, die sagen, sie haben bisher 70 Euro Stromrechnung gehabt und plötzlich zahlen sie 400 Euro. Menschen, die für ihre Mietwohnung 400 Euro gezahlt haben und jetzt 700 Euro zahlen. Lebensmittelpreise steigen um 30, 40 oder 50 Prozent. Produkte, die die Leute zum täglichen Leben benötigen. Das ist eine volle Katastrophe. Und auch Unternehmer spüren das.

Inwiefern?
Ich bin bei Unternehmen im Rahmen meiner Betriebsbesuche mit Stromverträgen konfrontiert worden. Die haben mir ein Beispiel vorgelegt: 80.000 Euro Stromkosten, der Stromvertrag war befristet und ist ausgelaufen. Neues Angebot vom selben Energieversorger: 800.000 Euro. Als Alternative – und da sieht man die Seriosität – hat man dem Unternehmen angeboten: Wenn du dich verpflichtest, über vier Jahre lang den Strom bei mir zu beziehen, dann geben wir es dir um 400.000 Euro.

Hat sich die Inanspruchnahme der AK durch die Krise erhöht?
Dramatisch. Gerade was die Belastung durch die Preiserhöhung betrifft – da sind unsere Leute mittlerweile schon so etwas wie Psychotherapeuten geworden. Wirklich, die Menschen sind verzweifelt. Und noch einmal: Es geht um Vollzeitbeschäftigte. Man muss sich ja vorstellen, wir haben ja viele Arbeitnehmer, die bei Vollzeit mit 1.200, 1.300 Euro netto nach Hause gehen.

Ein weiterer Problemkreis betrifft variable Kreditkosten. Was halten Sie von der Idee, dass man die Banken verpflichten soll, variable Kredite umwandeln zu können? Eine Forderung der Bundes-SPÖ.
Ich denke, man muss ja auch da die Kreditvereinbarungen im Detail anschauen. Dass man das generell jetzt über alle sozusagen drüberlegt, wird wahrscheinlich nicht notwendig sein.

Aber selbst der höchste variable Zinssatz ist nicht so teuer, wie die Inflationsrate hoch ist. Abgesehen von der Liquidität, gewinnen die Kreditnehmer also.
Also in dieser Phase gewinnt keiner. Da gibt es nur Verlierer.

Gewinner sind die Arbeitnehmer hinsichtlich der Kollektivvertragsverhandlungen. Die SPÖ-Gewerkschafter haben extrem gute Abschlüsse erreicht. Kann das nicht hinsichtlich der Inflation ein Boomerang werden?
Bei den Kollektivvertragsverhandlungen sind nicht nur SPÖ-Gewerkschafter gestanden, sondern Gewerkschafter aus allen Fraktionen. Mir ist das wichtig. Es wird so getan, als sei die Gewerkschaft eine reine SPÖ-Organisation.

Gut, aber die Gewerkschaft ist sehr von der SPÖ dominiert.
Nein.

Natürlich. Weil die Wahlen so ausgehen, dass die SPÖ dominiert.
Nein, sie ist nicht SPÖ-dominiert, sie ist fraktionell. Mehrheitsfraktion ist die FSG. Klar. Aber sie ist nicht von der SPÖ dominiert, das macht einen wesentlichen Unterschied. Und Sie können mir glauben, ich bekenne mich auch zur Fraktion der FSG. Das heißt aber nicht, dass ich mit all dem, was die SPÖ macht, einverstanden bin.

Womit zum Beispiel nicht?
Das ist jetzt nicht das Thema.

Wir würden es gerne zum Thema machen …
Wenn es angebracht ist, dann bin ich einer derjenigen, die das den Vertretern der SPÖ ganz klar sagen, dass sie nicht richtig liegt.

Zurück zu den Kollektivvertragsverhandlungen. Stichwort Lohnpreisspirale …
Hier wird immer so getan, als seien Preise lohngetrieben. Das ist eine völlige falsche Annahme. Die Beschäftigten in den Betrieben arbeiten ein Jahr lang und zahlen die erhöhten Preise. Und dann erst kommen die Arbeitnehmer und sagen: »Jetzt wollen wir eine Lohn- und Gehaltserhöhung.« Und die Basis für diese Erhöhung sind die Preissteigerung des letzten Jahres und die Entwicklung der Produktivität. Da kann man nicht sagen, die Löhne und Gehälter treiben die Preise. Ich weiß schon, dass manche gerne diesen Eindruck vermitteln, nur das stimmt nicht.

Foto: Marija Kanizaj

Faktum ist trotzdem, dass die Löhne und Gehälter in Österreich wesentlich stärker gestiegen sind als in den meisten anderen europäischen Ländern. Wir haben in den Arbeitskosten erstmals Länder wie Belgien, Deutschland oder sogar Holland hinter uns gelassen haben. Insgesamt hat sich die Wettbewerbssituation dadurch verschlechtert.
Das hat die Regierung verschuldet. Wir hätten gerne zwei Prozent Lohn- und Gehaltserhöhung abgeschlossen, wenn die Inflation 1,5 Prozent gewesen wäre. Ich kenne kein europäisches Land, das so eine Inflationsrate gehabt hat wie Österreich. Auslöser war das Nichthandeln der Regierung. Wir haben der Politik schon im Frühsommer 2022 gesagt: Wenn ihr da nicht in die Preise eingreift, dann ist absehbar, dass alle anderen Produkte und Dienstleistungen im Preis ebenfalls steigen. Und wenn das eintritt, was glaubt ihr, was dann die Arbeitnehmer für eine Möglichkeit haben?

Die AK fällt immer wieder durch knackige Forderungen auf. In den letzten Tagen hat sie etwa ein Ende der befristeten Mietverträge gefordert. Was erwarten Sie sich davon?
Naja, wir haben schon die Erfahrung, dass durch die befristeten Verträge diejenigen, die Wohnungen mieten, keine Planbarkeit haben. Weil sie nie wissen, ob nach der Befristung der Vertrag verlängert wird. Und sie sind damit natürlich auch erpressbar. Und das sollte eigentlich nicht der Fall sein. Aber generell, denke ich, gibt es überhaupt keine sachliche Rechtfertigung, dass Mietverträge befristet sind. Es gibt ja in jedem Vertrag Kündigungsbestimmungen.

Ökonomen sagen, dass das zu einer dramatischen Verknappung von Wohnraum führen würde, wenn die Befristung von Mietverträgen fallen würde, weil dann einfach weniger Mietraum oder Mietfläche zur Verfügung gestellt wäre.
Für ausreichenden leistbaren Wohnraum zu sorgen, wäre eigentlich die Aufgabe der Politik. Wir haben viele gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften, die dafür da wären. Das passiert aber nicht, weil selbst die Genossenschaften nicht mehr in der Lage sind, Grundstücke zu kaufen, weil die so teuer sind. Und die Wohnbauförderungsmittel, die ja von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden, werden nicht zweckgebunden für die Errichtung von Wohnbau genutzt, sondern die fließen zum Großteil ungewidmet ins Budget.

Sie gehen mit einem Riesenvorsprung in die anstehende AK-Wahl. 2019 haben ÖAAB und FA gewaltig verloren. Was kann die FSG überhaupt noch gewinnen bei so einer Wahl?
Jeder, der bei einer Wahl antritt, beginnt bei der Stunde null. Völlig egal wie das Wahlergebnis davor ausgeschaut hat. Wir trachten danach, dass wir bereits am ersten Tag nach der Wahl wieder für die Kolleginnen und Kollegen unser Bestes geben. Der Tag der Wahl ist der Tag der Abrechnung.

Sie haben beim letzten Mal 6,7 Prozentpunkte dazugewonnen. Ist so ein Erfolg wiederholbar?
Wir wollen wieder die absolute Mehrheit erzielen.

Bei der letzten Kammerwahl war ihr Slogan »Drüber reden statt drüberfahren«. Haben Sie das Gefühl, dass SPÖ-dominierte Institutionen wie die meisten Arbeiterkammern derzeit wirklich einen konsensualen Weg gehen. Oder legen Sie es eher auf Klassenkampf an?
Die Frage ist, was man unter Klassenkampf verstehen will. Wenn man unterschiedliche Interessen zum Ausdruck bringt, sich auseinandersetzt mit dem Gegenüber – egal ob mit den Unternehmen, politischen Parteien oder Repräsentanten der Regierung – dann ist das für mich kein Klassenkampf.

Sondern?
Das heißt einfach, dass man bestimmte Interessen vertritt. Und es ist Gott sei Dank in einer Demokratie so, dass man in der Regel seine Vorstellungen nie zu 100 Prozent durchsetzen kann. Es ist das Wesen einer Partnerschaft – in diesem Fall der Sozialpartnerschaft – dass man zwar nicht immer einer Meinung ist, aber dass man gemeinsam Lösungen anstrebt.

Also ein Plädoyer für die Sozialpartnerschaft …
Es gibt ja immer wieder Stimmen, die sagen, die Sozialpartnerschaft sei von gestern. Es brauche jemanden, der schneller entscheidet. Denn am Ende stehe ohnehin nur ein fauler Kompromiss. Aber folgendes muss jedem klar sein: Die Alternative zu diesen Ringen um Kompromisse, diesem mühsamen Austarieren unterschiedlicher Interessen wäre das Diktat. Entweder man redet miteinander und macht sich aus, was die Lösung ist, oder es gibt einen Dritten, der entscheidet. Und ein Diktat hat noch immer ins Verderben geführt.

Manche werfen der AK vor, sie betreibe Unternehmerbashing …
Ich wüsste nicht, wo wir Arbeitgeberbashing betreiben.

Aber die Bundes-SPÖ tut das …
Ich rede jetzt nicht von der Partei. Die muss selbst verantworten, was sie tut. Ich rede von uns als Arbeiterkammer. Ich weiß ganz genau, dass viele Unternehmen mit großen Herausforderungen zu kämpfen haben. Und ich weiß auch, dass die Unternehmer eine unglaublich wichtige Bedeutung für uns als Gesellschaft haben. Wenn es keine Unternehmer gibt, dann gibt es auch keine Beschäftigten. Nur: Umgekehrt ist das auch so.

Sie sind ein konsensualer Mensch, auf Kompromiss bedacht, das ist bekannt. Trotzdem sind Sie auch ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat. Wie gehen Sie mit einer Parteiführung um, die weniger den Konsens sucht als das Drüberfahren?
Das sage ich der Parteiführung. Wenn ich etwas anzumerken habe, dann sage ich das dort, wo es hingehört. Nämlich in den Gremien.

Ihr neuer Bundesparteivorsitzende Andreas Babler begann mit der Forderung nach einer generellen Arbeitszeitverkürzung. Inwieweit halten Sie den Zeitpunkt für geeignet, über so etwas zu reden?
Von Populismus halte ich wenig. Aber ich halte es für notwendig, dass man über die Entwicklung im Wirtschafts- und Arbeitsleben einen sinnvollen und fruchtbringenden Dialog führt. Und wir wissen alle, dass der technologische Fortschritt uns in die Lage versetzt, mit immer weniger Menschen bei gleichbleibender Arbeitszeit in immer kürzerer Zeit die nötigen Sachgüter und Dienstleistungen herstellen zu können. Die Konsequenz ist, dass immer mehr Menschen keine Beschäftigung haben werden. Und genau auf diese Entwicklung, glaube ich, muss man sich vorbereiten.

Foto: Marija Kanizaj

Das heißt, Sie wollen, dass das Thema auf der Agenda bleibt?
Natürlich.

Und dass es sozial und wirtschaftlich verträglich umgesetzt wird.
Ja, klar.

Die FPÖ hat seit Jahrzehnten bei jeder Gebietskörperschaftswahl bei den Arbeitnehmern die Nase vorne. Bei Nationalratswahlen punktet die FPÖ vor allem beim klassischen SPÖ-Klientel. Aber bei der Arbeitnehmerkammerwahl wählen die Leute dann wieder die FSG. Was machen die SPÖ-Gewerkschafter so viel besser als die Partei?
Das Klima in der Politik – mit den ständigen gegenseitigen Beschimpfungen – ist ein unwürdiges. Wir hingegen machen fraktionsübergreifend Interessenspolitik. Die Beschlüsse, die wir im Vorstand fassen, fassen wir zu 98 Prozent einstimmig. Mehrheitsentscheidungen sind sehr selten.

Der damalige Landeshauptmann hat Sie, als Sie vor fünf Jahren wiedergewählt wurden, als »Partner eines gelebten Miteinanders« bezeichnet. Ist das mit Christopher Drexler auch so?
Also ich persönlich hatte mit Hermann Schützenhöfer eine gute Basis. Und ich habe mit Christopher Drexler eine wunderbare Gesprächsbasis. Aber weder bei Schützenhöfer noch bei Drexler – und im Übrigen auch nicht bei einem roten Landeshauptmann – heißt das, dass wir immer gleicher Meinung sind. Auch da gibt es Diskussionen. Wie auch mit der Landwirtschaftskammer, mit der Wirtschaftskammer, mit der IV oder mit der Landarbeiterkammer. Auch mit denen haben wir ein tolles Gesprächsklima.

Es gibt ja eine Reihe von gemeinsamen Sozialpartnerforderungen, etwa beim Ausbau der Kinderbetreuung, bei der Pflege, oder auch im Gesundheitsbereich …
Aber selbst wenn alle Sozialpartner gemeinsame Vorstellungen haben, ist die Politik ignorant. Wenn ich mir den Pflegebereich, den Gesundheitsbereich, den elementarpädagogischen Bereich oder den Bildungsbereich anschaue – eine Katastrophe. Ich verstehe nicht, warum die Politik nicht die entsprechenden Handlungen setzt.

Herr Pesserl, vielen Dank für das Gespräch.

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Josef Pesserl wurde 1957 in Unterpremstätten bei Graz geboren. Zusammen mit zwei Geschwistern wuchs er auf einem Bauernhof in der Weststeiermark auf. Er absolvierte eine Lehre als KFZ-Mechaniker. Sein Geld verdiente er zunächst mit Hilfsarbeiten, als LKW-Fahrer, Schichtarbeiter, Straßenbahnschaffner und Autobuschauffeur. Mit 32 Jahren wechselte Pesserl hauptberuflich in die Textilgewerkschaft. 1999 wurde er Vizeobmann der Gebietskrankenkasse, 2003 wurde er zu ihrem Obmann gewählt. Dort machte er sich einen Namen als Sanierer. 2013 wurde er als Nachfolger von Walter Rotschädl zum AK-Präsidenten gewählt. Pesserl ist verheiratet und Vater zweier Söhne.

Fazitgespräch, Fazit 200 (März 2024), Fotos: Marija Kanizaj

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