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Mit Rad und Tat

| 6. Juni 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 203, Fazitportrait

Foto: Heimo Binder

Wie aus einer Idee ein Projekt wurde und aus dem Projekt ein Entwicklungsprojekt und daraus der Langzeiterfolg einer Fahrradreparaturwerkstatt mit sozialökonomischen Auswirkungen und was Dänemark damit

zu tun hat und welche Wirkung Förderungen haben und noch viel mehr über das »Bicycle-Projekt« finden wir gut und Sie hier.

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Nun gibt es das »Bicycle-Entwicklungsprojekt Fahrrad« bereits seit 35 Jahren. Ein Zeitraum, der länger ist als jener, den man für eine ganze Generation rechnet, ein Zeitraum, von dem moderne Startups mit einer durchschnittlichen Überlebensdauer von vier Jahren nicht einmal träumen können. Wer hätte Ende der Neunzehnachtzigerjahre einem sozialökonomischen Jugendbeschäftigungsprojekt, erfunden und geleitet vom damals 25-jährigen Gerd Kronheim gemeinsam mit Kurt Söllner ein derart langes Unternehmensleben zugetraut? Das Projekt war seinerzeit in Graz etwas Neues – nur in Linz gab es etwas Ähnliches und auch noch die »BAN« in Graz – aber österreichweit kann »Bicycle« als Vorreiter angesehen werden. Die Verschränkung von Wirtschaft und sozialem Anspruch eines Projekts hat in der Folge bundesweit unzählige Nachahmer gefunden. Erstaunlich ist auch der Umstand, dass der mittlerweile 60-jährige Gerd Kronheim, inzwischen verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder, nach wie vor und ohne Unterbrechung Leiter und Geschäftsführer des als Verein geführten Projekts ist. Und auch Kurt Söllner ist nach wie vor im Vorstand – irgendetwas müssen die beiden richtig gemacht haben. Ursprünglich haben beide beim Jugendarbeitslosenprojekt »Insel« mitgearbeitet und Kronheim war klar, dass nach der im wahren Wortsinn handwerklichen Sanierung des dortigen Gebäudes in der Leutzenhofgasse ein Stillstand für alle Beteiligten drohen werde. »Damals entstand die Idee, etwas zu machen, das nicht endet, ein Beschäftigungsprojekt – Fahrradwerkstätte und -verleih«, so Kronheim. Bei einer Reise nach Dänemark lernte der gelernte Maschinentechniker die damals schon fortschrittliche dänische Sozialpolitik und -arbeit mit Arbeitslosen näher kennen und schätzen. Und schnitt sich sozusagen eine Scheibe davon ab. Davon zeugt bis heute die immer weiter getriebene Entwicklung des »Bicycle-Projekts«, das mittlerweile nicht mehr auf Jugendliche beschränkt ist. Gerd Kronheim: »Als 1989 die Strukturarbeitslosigkeit losging waren vor allem junge Leute davon betroffen. Im vorigen Jahr haben wir mehr als 40 Prozent Über-55-Jährige bei uns gehabt. Das ändert sich aber gerade wieder.«

Foto: Heimo Binder

Per definitionem ist der Verein ein vom Arbeitsmarktservice (AMS), der Stadt Graz, dem Land Steiermark und vom Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderter sozialökonomischer Beschäftigungsbetrieb, der langzeitarbeitslosen Menschen Arbeitsplätze, Arbeitstraining sowie soziale Betreuung und Qualifizierung auf Zeit bietet. Das Jahresbudget beträgt zirka 1,5 Millionen Euro, wovon mittlerweile bereits 60 Prozent vom Verein selbst erwirtschaftet werden. Das geschieht an insgesamt fünf Standorten, in erster Linie aber über die zwei Fahrradgeschäfte in der Körösistraße 5 mit 350 Quadratmetern und der Rechbauerstraße 57 mit 190 Quadratmetern. Dort erfolgen die Reparatur der Fahrräder sowie der Handel mit Neurädern, Teilen und Zubehör. Zusätzlich wird die Produktionsabwicklung von Eigenbranding-Fahrrädern angeboten. Dabei werden Firmenräder mit Logo und Farbgestaltung individuell für größere Fahrradstückzahlen mit Hilfe eines deutschen Produzenten hergestellt. Im Stadtbild bekannt sind etwa die rotweißen Fahrräder der TU Graz. Kronheim: »So können wir für diese Kunden Fahrräder vergleichsweise um rund 100 Euro günstiger anbieten.« Das Hauptziel ist aber, dass die ausschließlich vom AMS auf die Transitarbeitsplätze zugewiesenen Personen nachher besser wissen, was sie können und wo ihre Stärken liegen, im Idealfall auch eine Ausbildung machen und einen Job bekommen. Und dass sie ihre allfälligen Schulden-, Drogen-, Alkohol- oder Wohnungsprobleme gelöst oder wesentlich verbessert haben. Kronheim: »Dabei werden sie von unseren Sozialpädagogen unterstützt, die ihnen sagen: Du bist jetzt ein halbes Jahr bei uns, wir bieten dir eine geregelte Arbeit, ein fixes Dienstverhältnis und ein fixes Einkommen. Du kannst diese Zeit nutzen, um deine Lebenssituation und vor allem deine Arbeitsmarktintegrationschancen zu verbessern.« Bicycle hilft bei der Wohnungssuche, vermittelt Schuldnerberatung und bietet jedem, der schlecht deutsch spricht Deutschkurse an, zumal rund die Hälfte der Teilnehmer einen Migrationshintergrund hat. Voraussetzung für einen Transitarbeitsplatz bei Bicycle ist Langzeitarbeitslosigkeit, das heißt, man muß zumindest zwölf Monate beim AMS vorgemerkt sein. Kronheim: »Im vergangenen Jahr waren die Leute im Schnitt dreieinhalb Jahre arbeitslos, bevor sie zu uns gekommen sind. Die Erfolgsquote liegt bei 30 Prozent, das ist heißt, etwa ein Drittel des bicycle-Personals findet auch wieder eine neue Arbeitsstelle.« Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Transitarbeitskräfte beträgt sechs Monate und kann, wenn es individuell sinnvoll erscheint, um drei Monate verlängert werden. Ziel ist eine Frauenquote von 50 Prozent, erreicht werden durchschnittlich 40 Prozent. Seit kurzem werden auch digitale Fortbildungs- sprich Computerkurse angeboten. Auch Praktika bei anderen Firmen werden vermittelt, zum Beispiel bei einem Tischler. Gerade daraus, so Kronheim, entstünden nämlich die meisten Dienstverhältnisse. Denn es ist klar, dass nicht alle in der Fahrradbranche einen Job finden können. Der Markt in Graz wurde früher von einigen wenigen Fachgeschäften wie »Pech« oder »Sioux« abgedeckt, mittlerweile ist er stark gewachsen, zurzeit gibt es bereits mehr als 30 Fahrradreparaturwerkstätten in der Stadt.

Den Boom früh erkannt
Die Gründer von Bicycle waren Anfang 1989 mit ihrem ersten Standort am Kaiser-Franz-Josefkai früh genug dran, um rechtzeitig zum Fahrradboom zur Stelle zu sein, der Mitte der Neunzigerjahre entstand, gepusht durch das Aufkommen der Mountainbikes. Nach zwei Jahren wurde um den Standort Rechbauerstraße erweitert, nach drei Jahren stieg man in den Fahrradhandel ein, der zu diesem Zeitpunkt eine hohes Wachstum verzeichnete. Sogar um eine eigene Produktionsschlosserei wird erweitert, wo jährlich 100 Handbikes für Rollstuhlfahrer produziert wurden  – allerdings nur bis zu Budgetreduktionen im Fördergeberbereich Anfang der Zweitausenderjahre. 2006 erfolgte der Rückzug aus dem Handel mit Mountainbikes und Rennrädern, zwei Jahre später wiederum stieg die Nachfrage nach Elektrofahrrädern und Anhänger, die im Handel gehalten worden waren, wodurch sich die Wirtschaftlichkeit des Betriebs wieder stark verbesserte.

Foto: Heimo Binder

Das Kapitel E
Elektrofahrräder sind ein besonderes Kapitel. Insbesondere in den Städten werden Lastenräder immer häufiger, gerne werden sie auch zum Transport von Kindern eingesetzt. Während vor einigen Jahren dafür relativ einfache Anhänger verwendet wurden, hat sich dieser Markt stark entwickelt und spezielle Modelle hervorgebracht. Etwa jenes lange Modell, bei dem hinter dem Lenker oder der Lenkerin noch zwei Kinder ebenfalls hintereinander Platz nehmen. Ein elektrischer Antrieb ist allein schon wegen des hohen Gewichts notwendig. So ein Fahrrad kostet rund 6.000 Euro, mit Riemen- statt Kettenantrieb mehr als 7.000 Euro, ohne Zubehör wie zum Beispiel Gepäcksträger oder Kindersitze. Optimistisch betrachtet kann die Nachfrage nach so teuren Fahrrädern auch als umweltpolitisch wertvoller Wertewandel begriffen werden. Vor allem dann, wenn eine Jungfamilie dafür auf das Auto verzichtet, was gar nicht so selten der Fall sein soll. Die Förderungen dafür sind – noch – relativ großzügig, die Stadt zahlt 50 Prozent vom Kaufpreis, aber maximal 1.000 Euro, ebenso der Bund, aber maximal 900 Euro dazu. Beide jedoch nur unter der Bedingung, dass sehr spezielle Anforderungen erfüllt werden. Für die Stadtförderung ist eine Wohngemeinschaft erforderlich, so könnten etwa Nachbarn unterschreiben, dass sie das Rad mitbenützen. Für die Bundesförderung ist ein Nachweis erforderlich, dass das Elektrorad mit erneuerbarer Energie geladen wird. Einfacher klingt die 50-Prozent-Förderung bis maximal 500 Euro für Falträder: Voraussetzung ist der Besitz eines Klimatickets, dann kostet ein 700-Euro-Faltrad 350 Euro. Interessanterweise ist Bicycle einer der größten Falt- bzw. Klappfahrradverkäufer Österreichs.

Ökologische Kreislaufwirtschaft
In der Körösistraße 17, wo auf 180 Quadratmetern Verwaltung und Sozialpädagogik untergebracht sind und der Fahrradverleih abgewickelt wird, befinden sich ein Außenwaschplatz für Selberputzer und als besonderes Highlight eine Fahrradwaschanlage, die den Einsatz von 6 Euro wirklich lohnt. Sie ist auch mobil einsetzbar und kann für Veranstaltungen gemietet werden. Unentgeltlich ausborgen kann man sich hier auch ein Lastenrad, das sogenannte »Grätzlrad«. Ganz in der Nähe, am Schwimmschulkai, werden auf weiteren 200 Quadratmetern alte Fahrräder und gebrauchte Fahrradteile in einer eigenen Werkstätte aufbereitet und online zum Kauf angeboten. So stellt Bicycle für Gebraucht- räder und Fahrradteile eine weitere Nutzung sicher, ganz im Sinne einer ökologischen Kreislaufwirtschaft. Die alten Fahrräder kommen meist von Hausverwaltungen, die »Kellerleichen« entsorgen oder vom Fundamt der Stadt. »Sicherheitshalber werden diese Räder aber zwei Monate aufbehalten, falls sich doch noch ein Besitzer meldet«, so Kronheim. Aus diesem Fundus werden auch gemeinnützigen Organisationen Fahrräder zur Verfügung gestellt. Pro Jahr werden hier etwa 200 bis 300 Gebrauchträder hergerichtet. Ein anderes Verkaufsprodukt des Vereins Bicycle sind Fahrradserviceboxen. Diese werden seit Jahren in Eigenregie produziert und können nach Kundenwunsch auch farblich und ausstattungstechnisch gestaltet werden. Darin enthalten sind ein Kompressor zum Reifenaufpumpen und Werkzeug (15er und 13er Gabelschlüssel, ein Kreuzschraubenzieher, ein Imbussatztool, ein Ölfläschchen, eine Zange sowie Reifenheber, jeweils übrigens angekettet), damit Radfahrer sich selbst bei Radpannen behelfen können. Zu den Kunden für die Boxen zählen etwa Gemeinden, Stadt Graz, Energie Graz, der Landesschulrat Steiermark, die Uni Graz, die TU Graz oder Joanneum Research. Bicycle bietet auch ein mobiles Fahrradservice für Firmen und Institutionen an und kommt auf Wunsch zu deren Betriebstätten, um die Fahrräder der Mitarbeiter vorort zu servicieren.

Foto: Heimo Binder

Am Hauptbahnhof schließlich betreibt der Verein seit 2018 eine Radstation. Hier gibt es nicht nur Leihräder, in erster Linie wird bewachtes Indoorparken gegen Entgelt angeboten, was vor allem Pendlern, die vom und zum Bahnhof radeln, zugute kommt. Kronheim: »Das ist eine bewachte Radparkgarage, mit einer Doppelstockanlage. Hier kann man das Rad für 100 Euro pro Jahr oder zehn Euro pro Monat einstellen. Der Eingangsbereich funktioniert automatisch, mit der Jahreskarte kommt man auch dann hinein und hinaus, wenn kein Personal da ist, also rund um die Uhr.« Im kleinen Shop gibt es rund 100 Leihfahrräder zum Ausborgen, von Trekkingrädern und Mountainbikes jeweils mit und ohne Elektroantrieb über Falträder bis zu Tandems. Es ist sieben Tage in der Woche geöffnet, außerdem gibt es ein Pannenservice und man kann die wichtigsten Ersatzteile kaufen, wie etwa Schläuche, Mäntel oder Pickzeug. Insgesamt sorgen bei Bicycle zurzeit 55 Mitarbeiter, davon 15 Angestellte und 40 vom AMS dafür, dass pro Jahr 8.000 Kundenräder repariert werden. Seit Anbeginn sind es 2.600 Personen, die in einem Transitarbeitsplatz betreut werden konnten – ein beeindruckendes Fazit.

Bicycle-Entwicklungprojekt Fahrrad
8010 Graz, Körösistraße 17
Telefon +43 316 821357
Filialen (in 8010 Graz)
Körösistraße 5 und Rechbauerstraße 57
bicycle.at

Fazitportrait, Fazit 203 (Juni 2024) – Fotos: Heimo Binder

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