Außenansicht (57)
Peter Sichrovsky | 14. November 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 207
Wen kümmert eigentlich Antisemitismus? Es sind die Zeiten der Empörung, die uns irritieren und keine Ruhe gönnen. Empört über den Erfolg rechter Parteien, empört über islamistische Demonstrationen, dem plötzlichen Abfall von Thiem in der Rangliste der Tennisstars, über das Vorgehen der Israelis, den dummen Sprüchen von Trump und – zu guter Letzt – über Antisemitismus.
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Zu allen Themen könnte ich mich mit einer Meinung melden. Je nachdem, wer mich worauf auch immer anspricht, habe ich die Möglichkeit, mit weisen Sprüchen ohne jede Bedeutung zu reagieren, und mich damit in die Neutralität zu flüchten. Oder auch eindeutig Stellung zu beziehen. Da bleibt jedoch ein Thema übrig, das mich wirklich beschäftigt, auch wenn ich versuche, auszuweichen: der Antisemitismus.
Es beginnt meist damit, dass ich jemanden leidtue, jemand mich bedauert, als würde ich ihm mit Krücken gegenüber stehen, wo er doch noch vor eine Woche mit mir Tennis gespielt hatte. Die in den Medien verbreiteten Nachrichten, dass die jüdische Bevölkerung Beschimpfungen, Attacken, Angriffe auf Synagogen, auf Schulen und Altersheime, Belästigungen in jüdischen Restaurants und Cafés ausgesetzt sei, wird auf mich übertragen – und macht mich aufgrund meiner Religionszugehörigkeit zum Opfer.
Ich gehe jedoch in keine jüdische Schule, und man hat mich noch nicht in ein jüdisches Altersheim eingesperrt. In jüdischen Restaurants esse ich selten, jüdische Cafés kenne ich nicht in Wien, also fehlen mir diese Erlebnisse. Was geht mich also der Antisemitismus an, waren meine ersten Gedanken, als er sich nach dem 7. Oktober ausbreitete und jedes Tabu der Vergangenheit keine Bedeutung mehr hatte? Solange ich nicht erkennbar bin, ich trage keine Kippa, keine Kleidung der orthodoxen Juden, kann ich am Markt im 15. Bezirk und im 10. Bezirk in Wien – beide Märkte haben Serben, Türken und Araber übernommen – einkaufen gehen. Keiner würde mich ansprechen, als Jude ansprechen.
Doch es kreist mich langsam ein, wie ein Zimmer mit beweglichen Wänden, die immer näher rücken. Ich hörte von einem Gymnasium in Döbling, dem Nobelbezirk von Wien, wo ein jüdischer Schüler tyrannisiert und verprügelt wurde, bis die Eltern ihn in der jüdischen Schule anmeldeten, in die er nie gehen wollte. Die arabischen Schüler sind weiter an der Schule im 19. Bezirk. Nach einer Talkshow fand ich mein Namensschild an der Haustüre herausgebrochen. Ich sah die Bilder des Brandanschlages auf den jüdischen Friedhof in Wien.
Ich begann, mich selbst zu hinterfragen, und musste mit Erschrecken feststellen, dass ich mich seit 7. Oktober doch verändert habe. Ich weiche Gesprächen über Israel aus, möchte mich nicht deklarieren, reagiere nicht auf banale Verurteilungen von Israel, ziehe mich zurück, halte eine schützende Distanz ein. Wenn mich jemand direkt fragt, antworte ich mit nichtssagenden Bemerkungen. Ich bin vorsichtig geworden, kontrolliere mich selbst, außer eben bei Talkshows im Fernsehen, wo ich meine Position verteidige.
Im Frühjahr bekam ich jedoch einen Anruf von Hakoah, dem jüdischen Sportverein in Wien, der mich aus dem Käfig herausholte. Die Tennissektion suchte nach Spielern für die Meisterschaft. Aufgrund meines Alters natürlich für die Seniorenmeisterschaft. Ich zögerte, da ich bereits zugesagt hatte, in der Mannschaft meines Klubs zu spielen. Dann dachte ich, warum nicht. Wenn ich helfen kann, spiele ich halt in zwei Vereinen. Ich verlor alle Spiele als Mitglied des Teams Hakoah. Mein Beitrag zum jüdischen Leben in Wien könnte als »begrenzt« bewertet werden. Die Spiele der Mannschaft meines Klubs gewann ich alle. Wozu also, ging mir durch den Kopf, spielte ich in beiden Klubs?
Ganz einfach, weil es eben nicht einfach zwei gleichwertige Klubs sind, zumindest nicht für mich. Es ist der Käfig im Kopf, das ständige Überlegen, was könnte ich tun, was sollte ich tun, wem könnte meine Unterstützung helfen? Der 7. Oktober zwang mir dieses Denken auf. Als Mitglied einer kleinen Religionsgemeinde – und innerhalb dieser Gemeinde als nichterkennbares Mitglied – kontrolliert mich meine selbsterwählte Gefangenschaft. Entscheidung und Diskussion werden hinterfragt mit einer möglichen Verbindung zum 7. Oktober. Ein mühsames, ein ziemlich sinnloses Unterfangen. Denn der Käfig wird immer enger.
Außenansicht #57, Fazit 207 (November 2024)
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